ahsana l-hadit oder die Revanche der Sirenen

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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Nauplios

Fr 25. Aug 2017, 02:53

Odysseus List ist im 12. Gesang der Odyssee eigentlich nicht gefragt, verrät ihm doch die Göttin Kirke, wie er der Gefahr der Sirenen begegnen könne. Deren Gesang ist bekanntlich so betörend und schön, daß sich Odysseus an den Mast binden läßt und die Gefährten ihre Ohren mit Wachs verstopfen. Der göttliche Rat verschafft Odysseus das einmalige Erlebnis, den Gesang der Sirenen zu hören, ohne dafür den Preis des Untergangs zahlen zu müssen. Die arabische Überlieferung kennt hingegen eine Reihe von Zeugnissen, in denen die Hörer der Koranrezitation sich spontan zum Islam bekennen, ohne den altarabischen Text überhaupt verstehen zu können. Allein die Ästhetik des Vortrags bewirkt ihre Konversion. Kein Wunder, daß es vor allem die Dichter sind, die vom Wunder der Rezitation auf wunderbare Weise zum Islam übertreten. Die List hat hier, wenn man das so sagen darf, die Seiten gewechselt. Die durch Unkenntnis der Sprache verstopften Ohren - andere Ursachen waren Hochmut und Feindschaft - waren kein Garant für die Unempfänglichkeit der koranischen Verse. Vergleicht man dies mit Erweckungs- und Bekehrungsmomenten aus der christlichen Tradition, dann fällt auf, daß es nicht so sehr die offenbarte Wahrheit ist, die moralisch-ethische Botschaft (Paulus, Augustinus, Pascal ... ), sondern die Schönheit der Dichtung und ihres Vortrags, welche entscheidend für den Entschluß sind, sich dem Islam zuzuwenden. Wer heute Koranrezitationen im Internet aufruft, wird auf eine Vielzahl von Bekundungen der Rührung stoßen. Das hat eine jahrhundertealte Tradition. Schon die ersten Hörer von Koranversen weinten vor Rührung angesichts der Schönheit dieser Verse.

Gott hat herabgesandt die schönste Kunde (ahsana l-hadit)
Ein Buch, sich ähnlich wiederholend,
Von dem die Haut erschauert derer,
Die fürchten ihren Herrn, dann schmeidigt
Sich ihre Haut und ihre Herzen
Der Mahnung Gottes.
(Sure 39:23)





Nauplios

Fr 25. Aug 2017, 19:46

Es ist die Begeisterung der Araber für das dichterische Wort, für das Ästhetische, das Berührende, die im kulturellen Gedächtnis dem Text des Koran eine Wirkungsgeschichte zuteil werden läßt, die häufig auf dem Moment der Katharsis verweist. Ähnlich der aristotelischen phobos und eleos steht der Koran und seine affektvolle Rezitation für ein reinigendes Entsetzen, ein Schaudern und Überwältigtsein, das weniger mit der offenbarten Wahrheit eines Koranverses zusammenhängt als mit seiner entwaffnenden Schönheit. Hans Robert Jauß bestimmt die Katharsis als "Genuß der durch Rede oder Dichtung erregten eigenen Affekte, der beim Zuhörer oder Zuschauer sowohl zur Umstimmung seiner Überzeugung wie zur Befreiung seines Gemüts führen kann." (Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik ; S. 133) - Das bezeichnet im Grunde die Wirkungsgeschichte des Textes, so wie sie im kulturellen Gedächtnis der islamischen Welt gegenwärtig ist. Und vielleicht ist es genau diese ästhetische Dimension, die der christlich-europäische Diskurs über "Offenbarung" und "Heilswissen" zu wenig beachtet.




Nauplios

Fr 1. Sep 2017, 19:01

Abu Gahl, Abu Sufyan und al-Ahnas ibn Sariq, drei kuraischitische Gelehrte, die zur Zeit Mohammeds großes Ansehen genossen und vehement gegen den Koran eiferten, trafen sich eines Nachts als schon der Morgen graute hinter einer Mauer ganz in der Nähe des Hauses, in dem der Prophet die ganze Nacht über den Koran rezitiert hatte. Den drei Gelehrten war das Zusammentreffen vor dem Haus des Propheten peinlich und niemand wollte so recht wahrhaben, daß man sich im Schutz der Dunkelheit dorthin geschlichen hatte, um den Rezitationen Mohammeds zu lauschen. Man nahm sich das Versprechen ab, den Ort nie wieder aufzusuchen. - In der folgenden Nacht traf man sich erneut. Aber dieses Mal nahm man sich ein Gelübde ab, das Haus des Propheten weiträumig zu meiden. Mit diesem Pakt auf Gegenseitigkeit ging man auseinander. Man ahnt, wie die Anekdote weitergeht. Natürlich traf man sich auch in der dritten Nacht. -

Nun möchte man meinen, daß die drei Gelehrten der Wahrheit des Korans nicht ausweichen konnten. Doch es war nicht die Verkündung einer im Koran offenbarten Wahrheit, die Abu Gahl, Abu Sufyan und al-Ahnas ibn Sariq immer wieder veranlaßte, aus ihrem Versteck heraus die Rezitationen Mohammeds zu hören, sondern die Poesie des Korans, seine Rhetorik, seine Stilistik, die die ungläubigen Gelehrten magisch anzog. Einen solchen Text wie den Koran brächten seine Kritiker und die Skeptiker nicht zustande, heißt es im Koran. Die Wahrheit des Korans ist eine poetische Wahrheit. Seine "Botschaft" findet ihre Überzeugungskraft nicht in irgendwelchen "Beweisen"; sondern darin, daß die Poesie des Korans eine Strahlkraft hat, die unübertroffen ist. Nicht mal dann, wenn sich die Menschen mit den Dschinnen zusammentäten, brächten sie einen solchen Text hervor.

Sprich: Wenn sich vereinigten
Die Menschen und die Dschinn,
Zu bringen etwas diesem Koran;
Nicht brächten sie ein gleiches ihm,
Wär´sich auch einer dem anderen Beistand.

(17:88)




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Sep 2017, 17:47



Der Philosoph Ahmad Milad Karimi hat den Koran neu übersetzt. Warum? Wenn ich ihn recht verstanden habe, weil ihm das "Wie" der Sprache des Koran wichtig war, was in anderen Übersetzungen gegenüber dem "Was" zu sehr in den Hintergrund gerückt wurde. In dem Interview, was sehr hörenswert ist, wie ich finde, singt der Philosoph eine Sure vor, (u.a.) um ihre Schönheit zu zeigen.

Im Grunde treffen sich hier einige Themenstrenge von DiaLogos, die Frage nach der poetischen Philosophie, Das Thema: Sprache der Sinne und Sprache des Begriffs und natürlich "die Revanche der Sirenen".

Zu dem Video heißt es im Untertext: "Der Islam hat ein Imageproblem. Manche meinen gar, er sei mit westlichen Werten, mit den Menschenrechten und der Säkularisierung nicht vereinbar. Der afghanischstämmige Philosoph Ahmad Milad Karimi kämpft gegen solche Vorurteile. Yves Bossart spricht mit dem Flüchtling, der zum Professor wurde."




Nauplios

Fr 6. Okt 2017, 19:55

In seiner Studie über Walter Benjamins Sprachtheorie schreibt Winfried Menninghaus an einer Stelle, der Begriff der Sprachmagie sei "Statthalter und Entdecker einer durchaus gewöhnlichen, trotz ihrer Vertrautheit aber weitgehend nicht als solcher gewußten `Seite der Sprache´." (W. Menninghaus; Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie; S. 19.) - Das instrumentalistische Mißverständnis der Sprache als Werkzeug ebenso wie die Reduzierung der Rhetorik auf ornamentale Dienste am Ausdruck der Sprache laden dazu ein, die welterzeugende Kraft der Sprache zu unterschätzen. - Die westliche Tradition begreift den Menschen als sprachbegabtes Tier (so jüngst Taylor), als Tier, das Vernunft hat oder Symbole (Cassirer) und so verblüfft uns der Satz "Der Mensch ist ein Tier, das dichtet." Man möchte annehmen, einer der Schlegels oder Novalis oder ein anderer aus dem Umfeld der romantischen Sprachphilosophie sei der Autor; doch stammt der Satz von dem syrischen Dichter NizarQabbani. - Der Koran wurde allererst als Dichtung gehört und später gelesen. In ihm kommt das Hamann´sche Wort von der Poesie als Muttersprache des menschlichen Geschlechts zur Geltung. Die durch die neuzeitliche Wissenschaft erfolgte Engführung der Sprache als Hilfsinstanz - dazu noch als ungenaue - zur Bezeichnung von Gegenständen und die dem gegenüberstehende poetische "Funktion" der Sprache verstellen uns heute den Blick auf das, was Benjamin, Scholem u.a. die Magie der Sprache nannten. Das Ergebnis ist eine Unterscheidung, von der man sich auch in der Philosophie immer schon viel versprochen hat: die von Literatur und Wissenschaft - wahlweise auch Literatur und Philosophie oder Rhetorik und Philosophie. Wahrheitskonzeptionen laufen dann auf "Kriterien" hinaus, anhand derer Wahres von Unwahrem unterschieden werden kann, die aber Texte wie einen altarabischen oder altgriechischen nicht zum Klingen bringen. So lassen sich bequem Religion, Mythos, Dichtung als archaische Formen der Lügenpresse denunzieren; aber der Preis besteht dann auch in einem hilflosen Versuch der Einsortierung und Archivierung. - "Wir müssen eine neue Mythologie haben" (Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus).




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Jörn Budesheim
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Sa 7. Okt 2017, 07:18

"Der Mensch ist ein Tier, das dichtet." Das unterschreibe ich.

Ich schätze, dass es nicht als Engführung auf die Sprache gemeint ist. Der homo pictor kennt vielerlei Bilder, die sich in Sprache, Darstellung, Schauspiel, Tanz und so weiter ausdrücken können...




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Jörn Budesheim
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Sa 7. Okt 2017, 07:26

Bild

Als Beispiel für diesen Punkt eine Arbeit von Cy Twombly, dessen Bilder oft lyrisches, tänzerisches, bildnerisches, malerisches und durchaus auch magisches vereinen.




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Tarvoc
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Sa 7. Okt 2017, 16:14

Ich musste gerade an einer Passage aus Tolkiens Lord of the Rings denken.

"Suddenly, another voice spoke, low and melodious, its very sound an enchantment. Those who listened to that voice could seldom report the words that they heard; and if they did, they wondered, for little power remained in them. Mostly they remembered only that it was a delight to hear the voice speaking, all that it said seemed wise and reasonable, and desire awoke in them by swift agreement to seem wise themselves. When others spoke they seemed harsh and uncouth by contrast; and if they gainsaid the voice, anger was kindled in the hearts of those under the spell. For some the spell lasted only while the voice spoke to them, and when it spake to another they smiled, as men do who see through a juggler's trick while others gape at it. For many the sound of the voice alone was enough to hold them enthralled; but for those whom it conquered the spell endured when they went far away, and ever they heard that soft voice whispering and urging them."

- J.R.R. Tolkien, The Two Towers, Chapter X, "The Voice of Saruman".



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