Die Ausdrucksvielfalt der Tunwörter

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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Quk

Mo 12. Mai 2025, 20:18

Im Deutschen haben wir diese Modi:

Indikativ (ich fliege, du fliegst, er fliegt, wir fliegen, ihr fliegt, sie fliegen)
Konjunktiv I (ich fliege, du fliegest, er fliege, wir fliegen, ihr flieget, sie fliegen)
Konjunktiv II (ich flöge, du flögest, er flöge, wir flögen, ihr flöget, sie flögen)
Imperativ (flieg!, fliegt!)

In anderen Sprachen gibt es weitere Modi:

Energikus
Admirativ
Optativ
Nezessitativ
Potentialis
Konditionalis


Wenn wir die gestalterische Aufgabe hätten, diese weiteren Modi im Deutschen zu integrieren, wie könnten wir diesbezüglich unsere Verben verformen? Dazu möchte ich ein paar beispielhafte Vorschläge unterbreiten:

Energikus
Der Energikus bringt eine kategorische Behauptung zum Ausdruck.
Hierfür könnte man vielleicht den ersten Konsonanten oder Vokal verlängern:
ich ffliege, du ffliegst, er ffliegt, wir ffliegen, ihr ffliegt, sie ffliegen
ich fliiege, du fliiegst, er fliiegt, wir fliiegen, ihr fliiegt, sie fliiegen

Admirativ
Der Admirativ bringt Überraschung oder Ungläubigkeit zum Ausdruck. Ich kenne das englische Verb "to admire" (bewundern), also vielleicht ist mit Admirativ eine bewundernde Art der Überraschung oder Ungläubigkeit gemeint. Angenommen, es gibt eine Überraschung oder Ungläubigkeit darüber, dass etwas fliegt. Ooh! Dann setzen wir doch ein "o" vor das Verb:
ich ofliege, du ofliegst, er ofliegt, wir ofliegen, ihr ofliegt, sie ofliegen

Optativ
Der Optativ bringt höflich Wünsche zum Ausdruck. Ich sehne mich nach etwas. Man könnte ein "se-" voranstellen:
ich sefliege, du sefliegst, er sefliegt, wir sefliegen, ihr sefliegt, sie sefliegen

Nezessitativ
Der Nezessitativ ist ein Ausdruck des Müssens. Man könnte ein "mu-" voranstellen:
ich mufliege, du mufliegst, er mufliegt, wir mufliegen, ihr mufliegt, sie mufliegen

Potentialis
Der Potentialis ist ein Ausdruck der Möglichkeit. Man könnte ein "mö-" voranstellen:
ich möfliege, du möfliegst, er möfliegt, wir möfliegen, ihr möfliegt, sie möfliegen

Konditionalis
Der Konditionalis drückt aus, dass ein Ereignis von einem anderen Ereignis abhängt. Das ähnelt wohl unserem zeitgenössischen Konjunktiv II: "Wenn ich ein Vöglein wär, flög ich zu dir." Angenommen, wir hätten dafür einen extra Modus, also den Konditionalis, dann könnte man das ö durch ein ü ersetzen:
ich flüge, du flügest, er flüge, wir flügen, ihr flüget, sie flügen

Beispielsätze für alle genannten Modi:
"Das Mädchen ist erst in der Grundschule, aber ich bin fest davon überzeugt: Eines Tages schreiibt sie einen großen Roman!"
"Unermüdlich owandern die Elefanten durch die Steppe."
"Guten Tag, ich sebrauche einen neuen Pass."
"Lieselotte mumacht ihre Hausaufgaben."
"Wolken ziehen auf; heute abend möregnet es."
"Wenn ich Chinesisch könnte, lüse ich Konfuzius im Original."


In welchen Sprachen kommen diese Modi vor?
Energikus: ?
Admirativ: Türkisch, Slavey, Sunwar, Tibetisch, Koreanisch
Optativ: Albanisch, Färöisch, Finnisch, Türkisch, Rumänisch, Lettisch, Altgriechisch, Sanskrit, Mittelägyptisch
Nezessitativ: Lettisch
Potentialis: Türkisch, Lateinisch, Griechisch
Konditionalis: Französisch, Spanisch




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Stefanie
Beiträge: 9088
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Di 13. Mai 2025, 21:36

Verstehe ich das richtig, dass manche Sprachen in einem Wort das ausdrücken können, wozu die deutsche Sprache ein weiteres Wort braucht?



Prinzessinnen richten ihr Krönchen.
Königinnen ziehen ihr Schwert.

Pragmatix
Beiträge: 337
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Di 13. Mai 2025, 22:50

Beim Konditionalis gibt es auch im Deutschen Möglichkeiten bei manchen Sätzen. Ich muss nicht sagen: Wenn ich ein Vöglein wäre, flög ich zu dir - es funktioniert auch so: Als Vöglein flög ich zu dir. Da wird die Konditionalität ohne „wenn-dann“ ausgedrückt. Könnte ich Chinesisch, läse ich Konfuzius kommt auch ohne aus.




Jörn Budesheim

Mi 14. Mai 2025, 08:10

Schönes Kunstprojekt! Spielerisch und poetisch.

Wären solche (zusätzlichen) Formen, wenn man sie wirklich umsetzen würde, ein Vorteil? Ist nicht vielmehr die Kompositionalität der Sprache ihr eigentlich genialer Modus? Ein Vorteil bestünde doch nur, wenn sich bestimmte Inhalte anders nicht oder nicht gleichwertig darstellen ließen – aber das scheint hier nicht der Fall zu sein. Wenn jedoch kein zusätzlicher Ausdrucksgewinn entsteht: Wären dann nicht weniger Formen, weniger Regeln und ein leichterer Erwerb vorzuziehen?




Quk

Mi 14. Mai 2025, 09:05

Für mich sind diese vielen Modi der Horror. Englisch ist die einzige Fremdsprache, die ich einigermaßen beherrsche, und das gelingt mir nur, weil Englisch dem Deutschen ähnelt und dazu noch eine einfachere Grammatik hat. Ich hatte zwei Jahre Französisch und das war eine furchtbare Zeit. Diese vielen Modi könnte ich nur als Kind lernen, also in der Phase, in der das frischgeborene Hirn die Sprachen "automatisch" aufsaugt.

Aber als Spielwiese finde ich das Thema interessant. Denn dabei wird mir bewusst, dass die vier erlernten deutschen Modi -- die Zahl vier -- gar keine Selbstverständlichkeit sind. Manche Sprachen haben mehr, manche weniger. Wer als Kind eine Muttersprache mit vielen Modi lernt, der findet vielleicht andere Sprachen komplizierter, in denen statt zusätzlicher Modi zusätzliche Wörter benutzt werden.

Stefanie hat geschrieben :
Di 13. Mai 2025, 21:36
Verstehe ich das richtig, dass manche Sprachen in einem Wort das ausdrücken können, wozu die deutsche Sprache ein weiteres Wort braucht?
Ja.

Der Indikativ, zum Beispiel, gibt ja prinzipiell Tatsachen wieder. "Du fliegst morgen" soll eine Tatsache sein. Wenn das aber nur eine Überzeugung statt einer vollendeten Tatsache darstellen soll, muss ich zusätzliche Wörter anfügen: "Ich bin überzeugt, Du fliegst morgen." Nun kann ich in meinem Energikus-Beispiel das "ich bin überzeugt" weggelassen und stattdessen kurz dies schreiben: "Du ffliegst morgen." Das doppelte "ff" könnte einen kräftigen Nachdruck signalisieren, womit klar würde, dass dieser Indikativ nicht unbedingt eine Tatsache darstellt.

Oder hier:
"Unermüdlich owandern die Elefanten durch die Steppe."
"Unglaublich! Unermüdlich wandern die Elefanten durch die Steppe." (Die Tatsache wird etwas geschwächt durch eine Prise Ungläubigkeit.)

"Guten Tag, ich sebrauche einen neuen Pass."
"Guten Tag, ich bräuchte einen neuen Pass." (Der Konjunktiv "bräuchte" klingt höflicher als der Indikativ "brauche".)

"Lieselotte mumacht ihre Hausaufgaben."
"Lieselotte muss ihre Hausaufgaben machen." (Hier ist nicht klar, ob sie sie jetzt macht oder noch machen wird.)
"Lieselotte macht jetzt wie befohlen ihre Hausaufgaben."

"Wolken ziehen auf; heute abend möregnet es."
"Wolken ziehen auf; heute abend regnet es wahrscheinlich." ("heute abend regnet es" ist keine Tatsache, sondern eine Vermutung.)




Quk

Mi 14. Mai 2025, 09:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 14. Mai 2025, 08:10
Wären solche (zusätzlichen) Formen, wenn man sie wirklich umsetzen würde, ein Vorteil? Ist nicht vielmehr die Kompositionalität der Sprache ihr eigentlich genialer Modus?
Naja, wenn ich dem Verb ein paar Buchstaben anhänge, ist das nicht auch eine Kompositionalität?

Ich laufe. Ich bin ge-laufen. Eine Komposition aus "ge" und "laufen".




Pragmatix
Beiträge: 337
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Mi 14. Mai 2025, 10:11

Was wird mit diesen komischen Vorsilben dann aus Verben im Perfekt?

Oder wie sage ich:
Der Zug müsste schon längst angekommen sein?
Hätte er nicht angehalten, wäre er pünktlich gewesen.

Oder:
Ich wünschte, du hättest schärfer nachgedacht.




Jörn Budesheim

Mi 14. Mai 2025, 10:26

Quk hat geschrieben :
Mi 14. Mai 2025, 09:16
Naja, wenn ich dem Verb ein paar Buchstaben anhänge, ist das nicht auch eine Kompositionalität?
Ja, in gewisser Hinsicht ist das wohl so. Aber sie bezieht sich nur auf die Verben. Ich schätze, das würde die Zahl der Regeln erhöhen. Wenn man das Gleiche (oder mehr!) mit weniger Regeln ausdrücken könnte, würde ich das sparsame vorziehen, vielleicht ist es sogar flexibler. Ist aber alles eine ad hoc Spekulation.




Pragmatix
Beiträge: 337
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Mi 14. Mai 2025, 12:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 14. Mai 2025, 10:26
Quk hat geschrieben :
Mi 14. Mai 2025, 09:16
Naja, wenn ich dem Verb ein paar Buchstaben anhänge, ist das nicht auch eine Kompositionalität?
Ja, in gewisser Hinsicht ist das wohl so. Aber sie bezieht sich nur auf die Verben. Ich schätze, das würde die Zahl der Regeln erhöhen. Wenn man das Gleiche (oder mehr!) mit weniger Regeln ausdrücken könnte, würde ich das sparsame vorziehen, vielleicht ist es sogar flexibler. Ist aber alles eine ad hoc Spekulation.
Ich war/bin ja oft in Finnland und verstehe noch immer überhaupt nichts. Ich habe ChatGPT mal die Frage gestellt, ob im Finnischen nicht viele Modi schlicht in den Wörtern, in ihren Formen und Endungen stecken. Er liefert dazu einige hübsche Beispiele:
Ja, im Finnischen ist sehr viel grammatische Information in Endungen codiert – deutlich mehr als im Deutschen. Die Sprache ist agglutinierend, was bedeutet, dass grammatische Funktionen meist durch sukzessive Anhängung von Suffixen (Endungen) an den Wortstamm ausgedrückt werden. Und das betrifft auch den Konditional, den es im Finnischen als eigenen Modus tatsächlich gibt!

1. Konditional im Finnischen
Der Konditional im Finnischen wird durch das Suffix -isi- ausgedrückt, das zwischen den Wortstamm und die Personalendung tritt.

Beispiel mit dem Verb tulla („kommen“):

minä tulisin – ich käme / ich würde kommen
sinä tulisit – du kämest / du würdest kommen
hän tulisi – er/sie käme
me tulisimme – wir kämen
te tulisitte – ihr kämet
he tulisivat – sie kämen
Diese Form entspricht also dem deutschen „würde kommen“ oder auch dem Konjunktiv II „käme“.

2. Vielschichtigkeit durch Endungen
Finnisch drückt viele grammatische Kategorien durch Endungen aus – darunter:

Tempus (z. B. Vergangenheit durch -i-),
Modus (Indikativ, Konditional, Imperativ, Potenzialis),
Kasus (bis zu 15),
Possessivsuffixe (z. B. taloni = „mein Haus“),
Negation durch ein eigenes Verb (ei, „nicht“) in Kombination mit Personalendung.
Beispiel:

en tulisi – ich würde nicht kommen
(Negationsverb en + Verb im Konditional)
3. Vergleich zu Deutsch
Im Deutschen werden viele dieser Informationen mit Hilfsverben, Artikeln, Präpositionen oder Wortstellung ausgedrückt. Das macht Deutsch im Vergleich analytischer, während Finnisch ein synthetisches System hat, in dem sich viel innerhalb eines einzigen Wortes ausdrückt.

Fazit:
Im Finnischen gibt es tatsächlich einen eigenständigen Konditional-Modus, und er ist morphologisch klar markiert. Das unterstützt deine ursprüngliche Beobachtung: Während man im Deutschen oft auf Konstruktionen angewiesen ist, ist im Finnischen der Modus Teil der Verbform selbst, durch die systematische Verwendung von Suffixen. Das führt zu einer hohen sprachlichen Dichte – ein einziges finnisches Wort kann ganze Informationen tragen, für die das Deutsche mehrere Wörter braucht.
Da ahnt man, warum diese Sprache für Fremde so schwer ist.




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