Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
Nauplios
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Di 11. Aug 2020, 17:53

In seinem Nachruf auf Aby Warburg schreibt Ernst Cassirer:

"Denn sein [Warburgs] Blick ruhte nicht in erster Linie auf den Werken der Kunst, sondern er fühlte und sah hinter den Werken die großen gestaltenden Energien. Und diese Energien waren ihm selbst nichts anderes als die ewigen Ausdrucksformen menschlichen Seins, menschlicher Leidenschaft und menschlichen Schicksals. So wurde alle bildende Gestaltung, wo immer sie sich regte, ihm lesbar als eine einzige Sprache, in deren Struktur er mehr und mehr einzudringen und deren Gesetze er sich zu enträtseln suchte. Wo andere bestimmte abgegrenzte Gestalten, wo sie in sich ruhende Formen gesehen hatten, da sah er bewegende Kräfte, da sah er das, was er die großen ˋPathosformeln´ nannte, die die Antike als einen bleibenden Besitz für die Menschheit geschaffen hat." (Ernst Cassirer; Gesammelte Werke, Bd. 17; S. 370) -

Die Lesbarkeit der Kunst

Bei Warburg ist gelegentlich von Schönheit der Kunst die Rede - gelegentlich. Die Einleitung zum Mnemosyne-Atlas beginnt mit dem Satz: "Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen; ..." - Dieser Satz könnte auch von Hans Blumenberg stammen. Bilder zu malen, Skulpturen zu erstellen, schafft Orientierung und Distanz gegenüber dem Dargestellten. Eine antike Naturgottheit wird auf Distanz gebracht, wenn man es nur mit dem Bild dieser Gottheit zu tun hat. Dadurch entsteht ein Denkraum. Die Energie, die Affekte, die Angst, die Neugier ... werden gleichsam gebändigt im Bild. Und aus dieser Bändigung, Bannung entsteht Kultur und Religion. Was bei Warburg "Nachleben" heißt umfaßt - eigentlich vornehmlich - den Mythos. Das Nachleben des Mythos in der Moderne wäre im Grunde nur eine andere Formel für die "Arbeit am Mythos" Blumenbergs. -




Nauplios
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Di 11. Aug 2020, 18:41

In seiner Nietzsche-Studie schreibt Gilles Deleuze:

"Wie kann sich das Vergangene, die Vergangenheit in der Zeit bilden? Wie kann das Gegenwärtige, die Gegenwart vergehen? Niemals vermöchte der vorübergehende Augenblick vorüberzugehen, wäre er nicht schon vergangen und zugleich noch gegenwärtig, erst zukünftig und doch zugleich schon gegenwärtig. Wenn die Gegenwart nicht durch sich selbst verginge, wenn auf eine neue Gegenwart gewartet werden müßte, damit jene zur Vergangenheit wird, so würde sich die Vergangenheit allgemein niemals in der Zeit bilden, wie auch jene Gegenwart nie vergehen: wir können nicht warten, der Augenblick muß in einem gegenwärtig und vergangen, gegenwärtig und zukünftig sein, damit er vergehen kann (und zugunsten anderer Augenblicke auch vergeht). Das Gegenwärtige muß mit sich als Vergangenes und Zukünftiges koexistieren. Dieses synthetische Verhältnis des Augenblicks zu sich als Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges begründet gerade sein Verhältnis zu den anderen Augenblicken. Demzufolge erweist sich die ewige Wiederkehr als Antwort auf das Problem des Vorübergehens. In diesem Sinne darf sie nicht interpretiert werden als Wiederkehr dessen, was ist, was Ein- und Dasselbe ist. Es wäre widersinnig, wollten wir im Ausdruck ˋewige Wiederkehr´ verstehen: Wiederkehr des Selben. Nicht das Sein kehrt wieder, sondern die Wiederkehr selbst macht das Sein aus, insofern dieses sich im Werden und im Vergehenden bejaht. Nicht das Eine kehrt wieder, sondern das Wiederkehren selbst ist das Eine, das sich im Verschiedenen oder Vielen bejaht." (Gilles Deleuze; Nietzsche und die Philosophie; S. 54f.) -

Nimmt man den metaphysischen Anteil aus diesem Zitat heraus, behält man die phänomenologische Substanz dessen übrig, was Husserl in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins als Urimpression, Retention und Protention umschrieben hat. Vergangenheit ist Übergang und nicht Negation durch neue Gegenwart. Die Gegenwart hat die Fähigkeit zum "Nachleben". - Nun heißt es bei Nietzsche allerdings "ewige Wiederkehr des Gleichen". Zu diesem "Gleichen" hat Giorgio Agamben eine - zunächst abenteuerlich anmutende - Erklärung vorgelegt, welche die Etymologie in den Vordergrund rückt:

"Schenken wir unsere Aufmerksamkeit einen Augenblick lang dem Adjektiv gleich. Es besteht aus der Vorsilbe "ge-" (sie zeigt einen Sammelnamen an, ein Versammelndes) und aus der Wortform "leich", die auf das mitteldeutsche "lich", auf das gotische "leik" und schließlich auf die erschlossene Form "lig" (Anschein, Gestalt, Ähnlichkeit; im modernen Deutsch: Leiche - der Tote - verweist. Die Form "lig" findet sich in der Nachsilbe "lich" wieder, die im Deutschen dazu dient, Adjektive zu bilden (weiblich bedeutet ursprünglich: etwas, das Frauengestalt hat); sie findet sich auch im Adjektiv solch (der philosophische Ausdruck ˋals solches´ meint das, was die eigene Gestalt betrifft). [...] In diesem Sinne könnte man die ewige Wiederkehr des Gleichen buchstäblich als ewige Wiederkehr des lig, der Gestalt deuten. Es gibt also in der ewigen Wiederkehr eine Art Bild." (Giorgio Agamben; Das unvordenkliche Bild, in: Bildlichkeit, hg. v. V. Bohn; S. 543f.) -

Man mag skeptisch bleiben gegenüber etymologisch angeleiteten Erklärungen, jedoch haben Deleuze, Agamben, auch Foucault (in seinem kleinen Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie u.a. Nietzsches Denken rund um Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik auf produktive Weise entfaltet, so daß sich vor diesem Hintergrund Warburgs "Nachleben" besser verstehen läßt. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist auch die Warburg-Studie Das Nachleben der Bilder von Georges Didi-Huberman, der die Verbindung Warburg/Nietzsche ab S. 157 ausführlich erörtert. -




Nauplios
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Di 11. Aug 2020, 18:54

Die Unreinheit der Zeit besteht so gesehen in ihrer Imprägnierung mit Vergangenem. (impraegnare ~ schwängern) ... Geburt!




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Stefanie
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Di 11. Aug 2020, 19:36

Nauplios hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 18:54
Die Unreinheit der Zeit besteht so gesehen in ihrer Imprägnierung mit Vergangenem. (impraegnare ~ schwängern) ... Geburt!
Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was bitte ist eine unreine Zeit.

Das? Was ist daran unrein?



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Nauplios
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Di 11. Aug 2020, 20:47

Stefanie hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 19:36
Nauplios hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 18:54
Die Unreinheit der Zeit besteht so gesehen in ihrer Imprägnierung mit Vergangenem. (impraegnare ~ schwängern) ... Geburt!
Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was bitte ist eine unreine Zeit.

Das? Was ist daran unrein?
Es hätte vielleicht besser heißen müssen: Die Unreinheit der Zeit besteht in ihrer Imprägnierung mit der Gegenwärtigkeit des Vergangenen. - Aber ein anderer Gesichtspunkt mag das verständlicher illustrieren:

Das Bild der griechischen Antike ist in Deutschland - aber nicht nur hier - vor allem durch den Klassizismus der Goethezeit einer Idealisierung unterzogen worden. Die Antike mit ihrer Kunst, ihrer Philosophie, war für die "Klassiker" (Goethe, Schiller, Wieland, Lessing) ein Ideal, dem nachzueifern war. Sie war der zeitlose (!) Maßstab für die Kunst schlechthin. Dieser Klassizismus verbindet sich besonders mit dem Namen Johann Joachim Winckelmann. 1755 erscheinen Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Darin heißt es gleich zu Beginn: "Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten." (S. 2) - Berühmt geworden ist die im Hinblick auf die Laokoon-Gruppe entstandene Formel Winckelmanns von der "edlen Einfalt und stillen Größe" der griechischen Meisterstücke. -

Diese Form der Idealisierung hat einen historischen Vorläufer: die Florentinische Früh-Renaissance ab ca. 1420. Auch hier wird die Antike idealisiert. Ein Jahrhundert später schreibt Giorgio Vasari seine heute noch gelesenen Künstler-Lebensbeschreibungen und er ist auch derjenige, der damit die Kunstgeschichte begründet. Vasari ist ein entschiedener Verfechter der griechischen Antike; für die Kunst des Mittelalters, die ihm fremdartig und barbarisch erscheint, prägt er den (abwertenden) Ausdruck "gotico". Die Kunst der Antike dagegen ist auch für ihn ein zeitloser (!) Maßstab der Ästhetik. Begeistert ist er deshalb von der "Wiedergeburt" ("rinascita") dieser Antike im Italien des Quattrocento. -

Vasari und auch Winckelmann verstanden beide die Kunst der Antike als hohes Ideal, dem jede Kunst nachzueifern habe. Ein hohes Ideal ist auch immer ein reines Ideal. Die Reinheit dieses Ideals wurde u.a. auch in seiner zeitlosen Geltung gesehen. Es ist unabhängig vom Auf und Ab modischer Wechsel.

Wie kaum ein anderer hat Nietzsche diesem Klassizismus und der mit ihm verbundenen Idealisierung und Reinheit widersprochen. Nietzsche setzt der "edlen Einfalt und stillen Größe" das "Dionysische" entgegen, das Rauschhafte, Triebhafte. Er spricht vom "Pessimismus" der Griechen, vom "Tragischen". Dieses Antike-Bild, das bereits vom Historiker Jacob Burckhardt lanciert wurde und bis in die Altphilologie des 18. Jahrhunderts zurückreicht, ist ein gänzlich anderes Bild von der griechischen Kunst. Es zerstört die Ideale des Klassizismus. Warburg greift diese Tradition auf und wendet sich mit Nietzsche als Zeugen gegen die Winckelmann´sche Vorstellung einer zeit-losen Gültigkeit des antiken Ideals. Anders als Vasari sieht er bereits die Frührenaissance "unrein", sieht sie als einen "Mischstil" zwischen lebendiger Gegenwart und erinnerter Antike. - Wiedergeburt (Renaissance) legt ja den Gedanken nahe, daß hier etwas bereits Gestorbenes, Totes, wiedergeboren wurde. Doch für Warburg war die Antike nie tot und sie war auch nie das holde, reine, zeitlose Ideal, das Winckelmann daraus gemacht hat. - Die Antike hat ein "Nachleben". Und Leben im Sinne Nietzsches bedeutet immer: Zufall, Kampf, Endlichkeit, Unverfügbarkeit ... Der Begriff von Geschichte, der sich vor allem mit dem zur Zeit Nietzsches erfolgreichen Historismus verbindet, ist dagegen eine lineare Abfolge von Ereignissen, die sich auf einem Zeitstrahl wie auf einer Perlenkette aufreihen. - Warburg verwirft mit Nietzsche diese Vorstellung. Die Zeit ist nicht diese reine Perlenkette von Ereignissen. In ihr wirken "Kräfte", die unverfügbar sind. Wie die Renaissance keine reine Wiedergeburt ist, ist die Zeit verunreinigt durch das Gären und Brodeln dieser "Kräfte". Burckhardt spricht von "lebensfähigen Resten". Die Vergangenheit muß ja, um bewußt zu werden, erinnert werden. Und diese Erinnerung ist natürlich kein irgendwie geartetes "objektives" Instrument. Erinnert werden kann nur das, was nicht vergessen worden ist. Warburg spricht an einer Stelle von den "Vektoren" Erinnerung und Vergessen. Mit dem Erinnern kommt also eine Verunreinigung der Zeit ins Spiel (mnemosyne), die es willkürlich erscheinen läßt, was überhaupt erinnert wird. - Mit anderen Worten: es gibt keine Filteranlage, durch welche man die Zeit von solchen Faktoren reinigen könnte. Die Zeit wird "unrein". Geschichte ist das gärende, brodelnde, dunkle Leben mit seinen Energien und Kräften.

Vielleicht läßt sich in dieser Kontrastierung mit dem klassizistischen Kunstverständnis mit ihrem Ideal des zeitlos Gültigen das Unreine der Zeit (so wie Nietzsche/Warburg sie verstehen) besser verstehen.




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Stefanie
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Di 11. Aug 2020, 21:43

Das habe ich verstanden. Aber bei mir regt sich Widerspruch. Das Äussern dieser Widerstandes wird vertagt; der Tag war auch wetterbedingt unglaublich anstrengend, und gerade passiert was seltenes von jetzt auf gleich....Ich könnte im sitzen einschlafen.



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NaWennDuMeinst
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Di 11. Aug 2020, 23:11

Es gab mal eine Zeit, da habe ich mir die Mühe gemacht Nietzsches Hauptwerke zu lesen. Einfach weil er für mich, neben den auf ihn folgenden Existentialisten, der Philosoph ist, bei dem ich mich immer am wohlsten gefühlt habe. Das liegt daran, dass ich, nachdem ich jahrelang mit den Philosophen gequält wurde, die man in unseren Bildungseinrichtungen für unabdingbar hält, Nietzsches Philosophie einfach erfrischend anders fand. Hinzu kommt, dass es mir unglaublichen Spaß gemacht hat die Ausführungen des Philologen Nietzsche zu lesen. Das ist mir unglaublich leicht gefallen, weil Nietzsche wie kein anderer unsere Sprache beherrschte und auch ihre Feinheiten kannte. Im Gegensatz z.B. zum unmöglichen Schreibstil Kants. Kant war vielleicht ein brillianter Denker. Ein Künstler war er nicht.
Was mich aber immer wieder wundert ist, wie unterschiedlich die Nietzscheauslegungen sind. Ich finde das einfach nur erstaunlich wie reichhaltig seine Werke sind, dass sie in alle möglichen philosophischen Themen hineinreichen. Ich kann mich erinnern damals bei einer Kunstausstellung, in der Künstler Nietzsches Philosophie künstlerisch umgesetzt hatten , das Buch "Nietzsche und die Kunst" gekauft zu haben.
https://www.amazon.de/Nietzsche-die-Kun ... 3825214141

Ich habe das Buch damals nach 50 Seiten gelangweilt in die Ecke geschmissen und vergessen worum es ging. Vielleicht finde ich es noch irgendwo. Kann ja eventuell doch noch nützlich sein.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
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Mi 12. Aug 2020, 01:09

Stefanie hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 21:43
Das habe ich verstanden. Aber bei mir regt sich Widerspruch. Das Äussern dieser Widerstandes wird vertagt; der Tag war auch wetterbedingt unglaublich anstrengend, und gerade passiert was seltenes von jetzt auf gleich....Ich könnte im sitzen einschlafen.
Im Sitzen einschlafen - folgt man Ovid, ist Hypnos ein vergleichsweise umgänglicher Gott, ein Höhlenbewohner, durch dessen Höhle Lethe ("Vergessen") fließt, ein chthonischer, also unterirdischer Gott, vor dessen Höhle Kräuter wachsen, die auf den Menschen eine beruhigende und einschläfernde Wirkung haben. Hypnos nedymos nennt ihn Homer, der "einhüllende Schlaf".

"Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind,
und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt."
(Prospero in Shakespeares Sturm; IV. Akt, 1. Szene)

Vom Schlaf umringt sein, umhüllt, umfaßt - da sind wir dann schon bei einer jener "Kräfte" des Lebens, von denen Nietzsche/Warburg sprechen. Der Bruder des Hypnos ist Thanatos, der sanfte Tod, auch er ein Unterwelt-Bewohner.

- "Widerspruch": ja gut, es geht mir eigentlich hier um eine Traditionslinie, zunächst ein Seitenarm, der erst mit Nietzsche mehr Aufmerksamkeit erhält und heute schon fast wieder ein stillgelegter Kanal ist. In die Anfangsphase gehört - auch Nietzsche war Philologe - Jacob Bernays. Bernays war wie Nietzsche Schüler von Friedrich Ritschl ("Bonner Schule" der Altphilologie). Zur "Bonner Schule" zählten auch Hermann Usener, von dem oben schon die Rede war und Otto Jahn. Bernays berühmtester Schüler ist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Als 1865 der "Bonner Philologenstreit" öffentlich eskaliert, teilt er diese Hochburg der deutschen Altphilologie in zwei Lager, deren Wortführer sich dann aus Anlaß der Geburt der Tragödie in die Haare gerieten: Nietzsche und Wilamowitz-Moellendorff (Zukunftsphilologie). -

Von Bernays zieht sich eine Linie über Jacob Burckhardt zu Friedrich Nietzsche und dann weiter zu Hermann Usener und Aby Warburg. Es ist das große Jahrhundert der deutschen Altphilologie und Nietzsche wird mit seiner Tragödienschrift von der akademischen Philosophie zunächst bestenfalls ignoriert. Es ist dann Heideggers Nietzsche-Arbeit aus den 30er Jahren, die Nietzsche eigentlich erst als Philosophen rehabilitiert. Auch Bruno Snell hat sich über Die geistesgeschichtliche Stellung der aischyleischen Tragödie habilitiert. Bernays hatte bereits eine Arbeit veröffentlicht über Die Grundzüge der verlorenen Abhandlungen des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie. - Bernays, Nietzsche, Snell - drei Abhandlungen zur griechischen Tragödie. Und Snell war in Hamburg dann der Lehrer Hans Blumenbergs. - (Auch Blumenberg ist ja Altphilologe.)

Diese Traditionslinie ist natürlich heute kaum präsent. Es dominiert die Vorstellung einer Geschichte, die sich von einem Fortschrittstableau zum nächsten "entwickelt" und im Neuen stets den letzten Stand der Dinge sieht. State of the art ist immer das zuletzt erschienene Buch. Was schon dreißig, fünfzig, hundert Jahre alt ist, bleibt nur noch für "Ideenhistoriker" von Interesse - ein Fall für die Abteilung "Archiv". - Manch interessante Fundstücke lassen sich in solchen Seitenarmen aufstöbern. - Und natürlich ist Widerspruch hier denkbar. Letztlich bleibt ja auch immer noch die andere Linie Winckelmann, Goethe, Schiller, Wieland, Herder ... ;)

- "Widerstand": Würde der Widerspruch tatsächlich zum Widerstand, hätte ich ein Einsehen und würde mich zurückziehen. Daß die Forenleitung intern prüft, ob sie Anderes als handfeste, nackte Wahrheiten, zulassen will, ist ja kein neuer Wunsch von mir.




Nauplios
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Mi 12. Aug 2020, 02:04

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 23:11
Es gab mal eine Zeit, da habe ich mir die Mühe gemacht Nietzsches Hauptwerke zu lesen. Einfach weil er für mich, neben den auf ihn folgenden Existentialisten, der Philosoph ist, bei dem ich mich immer am wohlsten gefühlt habe. Das liegt daran, dass ich, nachdem ich jahrelang mit den Philosophen gequält wurde, die man in unseren Bildungseinrichtungen für unabdingbar hält, Nietzsches Philosophie einfach erfrischend anders fand. Hinzu kommt, dass es mir unglaublichen Spaß gemacht hat die Ausführungen des Philologen Nietzsche zu lesen. Das ist mir unglaublich leicht gefallen, weil Nietzsche wie kein anderer unsere Sprache beherrschte und auch ihre Feinheiten kannte. Im Gegensatz z.B. zum unmöglichen Schreibstil Kants. Kant war vielleicht ein brillianter Denker. Ein Künstler war er nicht.
Was mich aber immer wieder wundert ist, wie unterschiedlich die Nietzscheauslegungen sind. Ich finde das einfach nur erstaunlich wie reichhaltig seine Werke sind, dass sie in alle möglichen philosophischen Themen hineinreichen. Ich kann mich erinnern damals bei einer Kunstausstellung, in der Künstler Nietzsches Philosophie künstlerisch umgesetzt hatten , das Buch "Nietzsche und die Kunst" gekauft zu haben.
https://www.amazon.de/Nietzsche-die-Kun ... 3825214141

Ich habe das Buch damals nach 50 Seiten gelangweilt in die Ecke geschmissen und vergessen worum es ging. Vielleicht finde ich es noch irgendwo. Kann ja eventuell doch noch nützlich sein.
Ja, wie Bücher ihre Geschichte haben, hat auch das Lesen dieser Bücher ein "Nachleben". Manchmal kommen Bücher zur Unzeit, manchmal braucht es mehrere Anläufe. Ich erinnere mich, daß ich mit anderen Klassenkameraden den Philosophieunterricht eine zeitlang grundsätzlich geschwänzt habe. Damals ging so etwas noch. Müßte ich eine Wahl zwischen Philosophie und Literatur treffen, würde ich nicht zögern, mich für die Literatur zu entscheiden - sofern man dazwischen überhaupt unterscheiden will, unterscheiden kann.

"Kann ja eventuell doch noch nützlich sein" - durchaus, doch ist mir die "Nützlichkeit" in diesen Zusammenhängen etwas unbehaglich, weil darin immer die Grundfrage nach dem Nutzen von Philosophie/Literatur/Kunst anklingt. Entweder liebt man diese Dinge oder man liebt sie nicht. Das zweite kann ich gut verstehen. Hier im Haus wird grundsätzlich nicht über Philosophie geredet. Meine Gefährtin ist Molekularbiologin. Es gibt zwei Tabus: Philosophie und Biologie. -

"Kant" - der Kanzleistil stört mich inzwischen nicht mehr. Ohne Kant und Platon geht es nicht. -

Ein Gewinn ist, daß wir heute bei Youtube Philosophen hören können (auch sehen), was zu meiner Zeit nicht möglich war. Man mußte hinfahren. Das war mit Aufwand und Kosten verbunden. - Kein Gewinn ist Philosophie im Fernsehen; noch weniger Philosophen im Fernsehen. Hier hat sich eine inszenierte, paraphilosophische Nische etabliert, die einen eigens für das Fernsehformat produzierten Bedarf deckt, den es ohne sie nicht geben würde. Doch weil es sie gibt, wird sie gebraucht.




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NaWennDuMeinst
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Mi 12. Aug 2020, 10:25

Die ewige Wiederkunft des Gleichen. Ich erinnere mich daran, dass das der Teil in Nietzsches Philosophie war, der mir am meisten Schwierigkeiten bereitet hat. Ich weiß heute, dass es nicht nur mir so geht. Dieser Teil ist der Teil der die unterschiedlichsten Interpretationen provoziert hat. Ich habe das damals mit Nietzsches "Umwertung aller Werte" in Zusammenhang gebracht. Der Mensch tötet Gott und steht dann vor dem Nichts (nihil). Sodann schafft er sich neue Götter, die es erneut zu überwinden gilt. Ein ewig wiederkehrender Kreislauf. Ich nehme an, dass Nietzsches Lösung des Problems - der Übermensch - auch nur ein weiterer dieser Götter ist und Nietzsche das auch wusste. Aber interessant ist es zu sehen, dass man das natürlich auch in einem ganz anderen Zusammenhang sehen kann.

Nützlichkeit - Wieso sollte man nicht auch die Nützlichkeit in den Dingen lieben? Weil man sie dann für etwas liebt, anstatt nur um ihrer selbst wegen? "Ohne Fleiß keinen Preis" heißt es. Das bedeutet für mich aber auch, dass ich ohne Preis keinen Fleiß investiere. Und in die Philosophie muss man sehr viel Fleiß investieren. Aber man bekommt auch was dafür. Nur nicht immer das was man erwartet oder sich erhofft.
Ich habe das - diesmal - aber eigentlich gar nicht so gemeint. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass mich dieses Thema hier daran erinnert hat, dass ich dieses Buch noch habe. Das ist eines der zahllosen unvollendeten Dinge in meinem Leben.

Ich nutze Youtube sehr gerne. Aber eher selten für Philosophie. Was mir aber sehr entgegen kommt ist der Umstand, dass heutzutage viele Bücher auch vertont werden. Das hat auch Nachteile. Beim Hören ist man manchmal zu leicht abgelenkt und es besteht die Gefahr, dass man die Inhalte nur beiläufig wahrnimmt. Da sind wir aber wieder beim Fleiß. Man kann sozusagen "Probehören", also sich einen Überblick darüber verschaffen ob sich der Fleiß des Lesens lohnt. Wenn ich feststelle, dass ich auch nach einer Stunde noch begeistert zuhöre, lohnt es sich auch einmal selbst zu lesen. Das klingt für Dich vielleicht ganz furchtbar. Aber ich bin noch kein Rentner. Ich muss mir meine Zeit sinnvoll einteilen. Und ich habe auch noch andere Interessen. Die Philosophie ist nur ein Interesse unter vielen. Aber durchaus ein großes Interesse.

Biologie und Philosophie - Das ist ein interessanter Zufall. Das sind die beiden Themen, die mich damals in der Schule am meisten begeistert haben. Eigentlich ist es eine Schande, dass ihr Euch zuhause nicht austauscht. Ich kann mir aber gut vorstellen warum ihr das so handhabt.



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Nauplios
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 12. Aug 2020, 10:25

Biologie und Philosophie - [...] Eigentlich ist es eine Schande, dass ihr Euch zuhause nicht austauscht.
Ich kann zu unserer Entlastung vorbringen, daß wir stattdessen etwas austauschen, was als minimaler Bezug zwischen Philosophie und Biologie unsere Schande doch noch in ein etwas milderes Licht stellen möge: wir lieben uns.

Ansonsten sind wir beide berufstätig, zahlen Steuern und Sozialabgaben, sind in der Flüchtlingshilfe tätig und meinen, daß wir der Gesellschaft gegenüber keine Diskurspflichten in den eigenen vier Wänden haben, insbesondere keine, die der philosophische Zeitgeist als für den moralischen Fortschritt wichtig erachtet. -




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NaWennDuMeinst
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Mi 12. Aug 2020, 14:04

Nauplios hat geschrieben :
Mi 12. Aug 2020, 13:33
Ich kann zu unserer Entlastung vorbringen, daß wir stattdessen etwas austauschen, was als minimaler Bezug zwischen Philosophie und Biologie unsere Schande doch noch in ein etwas milderes Licht stellen möge: wir lieben uns.
Na, da gratuliere ich ganz herzlich. Ist ja auch nicht selbstverständlich.
Ansonsten sind wir beide berufstätig, zahlen Steuern und Sozialabgaben, sind in der Flüchtlingshilfe tätig und meinen, daß wir der Gesellschaft gegenüber keine Diskurspflichten in den eigenen vier Wänden haben, insbesondere keine, die der philosophische Zeitgeist als für den moralischen Fortschritt wichtig erachtet. -
Erstaunlich, dass Du bei einem so ausgefüllten Leben noch die Zeit findest Dich so intensiv mit der Philosophie zu beschäftigen.
Und nein, natürlich gibt es keine "Diskurspflicht", und so war das auch nicht gemeint. Schande ist ein hartes Wort, aber was ich eigentlich meinte war, dass Euch ja vielleicht eine Menge interessanter Gespräche entgehen (Da bin ich mir sogar sicher). Aber natürlich muss das jeder selbst entscheiden. Ihr werdet schon Eure Gründe haben.



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Stefanie
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Mi 12. Aug 2020, 18:16

Das mit dem Schlaf war nichts, Gewitterfront, 23:00 Uhr 1. Gewitter, grummelnd wieder eingeschlafen, 01:00 Uhr wieder wach wegen Gewitter, und dann zur Krönung 03:00 Uhr nächste Gewitter mit sehr lauten Donner, irgendwann gegen 3: 45 Uhr eingeschlafen, Wecker 5:30 Uhr, Müde!!!!! Edit: zwar nicht geschlafen, aber harmlos gegen das was jetzt gerade los ist.



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Nauplios
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So wie keine "Diskurspflicht" in Liebesbeziehungen gibt, gibt es eine solche auch dort nicht, wo der "Austausch" zur Absicht gehört. Gespräche mäandern, verlaufen, versanden, erblühen wieder ... Nichts blockiert mehr als starre Diskursprotokolle. Lasse Dich vom sanften Hypnos umhüllen, ohne daß Zeus seine Donnerkeile schleudert. ;)




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NaWennDuMeinst
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Mi 12. Aug 2020, 19:52

Nauplios hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 20:47
Stefanie hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 19:36
Nauplios hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 18:54
Die Unreinheit der Zeit besteht so gesehen in ihrer Imprägnierung mit Vergangenem. (impraegnare ~ schwängern) ... Geburt!
Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was bitte ist eine unreine Zeit.

Das? Was ist daran unrein?
Es hätte vielleicht besser heißen müssen: Die Unreinheit der Zeit besteht in ihrer Imprägnierung mit der Gegenwärtigkeit des Vergangenen.
Könnte man nicht auch einfach sagen: Vergangenheit ist immer zugegen, weil sie in die Gegenwart hineinwirkt? Und das nicht einfach nur als bloßer Blick auf das was vergangen ist - hier die Gegenwart und dort das Vergangene - sondern beides, Vergangenheit und Gegenwart, "lebt" in der Zeit?
Oder ist das jetzt zu trivial?



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Nauplios
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Do 13. Aug 2020, 02:49

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 12. Aug 2020, 19:52
Nauplios hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 20:47
Stefanie hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 19:36


Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was bitte ist eine unreine Zeit.

Das? Was ist daran unrein?
Es hätte vielleicht besser heißen müssen: Die Unreinheit der Zeit besteht in ihrer Imprägnierung mit der Gegenwärtigkeit des Vergangenen.
Könnte man nicht auch einfach sagen: Vergangenheit ist immer zugegen, weil sie in die Gegenwart hineinwirkt? Und das nicht einfach nur als bloßer Blick auf das was vergangen ist - hier die Gegenwart und dort das Vergangene - sondern beides, Vergangenheit und Gegenwart, "lebt" in der Zeit?
Oder ist das jetzt zu trivial?
Nun ist ja der Titel dieses Threads mit einer Anmaßung verbunden, sofern er Stephen Hawkings "Eine kurze Geschichte der Zeit" (1988) kolportiert und sich damit in den Größenverhältnissen vertut. Verdeckter ist da schon das "Unreine". Dessen Antonym ist das "Reine", das sich philosophisch in einem anderen Titel verewigt hat und auch dazu verbietet sich eine Vergleichung: "Kritik der reinen Vernunft". - Reinheit tritt häufig als Differenzmetaphorik auf, d.h. ihr ist ein Streben vorausgegangen. In der griechischen katharsis ist das Reine das Unvermischte. Der oben schon erwähnte Jacob Bernays versteht unter katharsis die "Entladung von Affectionen". Nach Bernays hat Aristoteles diesen katharsis-Gedanken aus der "medicinischen Purgierung" übernommen und dann ist man beim Stichwort Purgierung natürlich schnell beim christlichen "Purgatorium", einem "Läuterungsort", einem "Reinigungsort". Bei Thomas von Aquin ist Gott purissima veritas, "reinste Wahrheit". Und vollends Kant verhilft der Reinheit dann in die "Schicht der Gründer-Tropen" wie Derrida das nennt. Und bei Kant kommt dann wieder dieses Moment der Vermischung/Entmischung ins Spiel, wenn er schreibt:

"Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartigem vermischt ist. Besonders wird aber eine Erkenntniß schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt." (Kritik der reinen Vernunft, A 11) -

Überhaupt findet sich die Vorstellung von Reinheit bei Kant an zentralen Stellen, etwa dort, wo er von den "reinen Anschauungsformen" (Raum und Zeit) oder den "reinen Verstandesbegriffen", von den "reinen Schemata zur möglichen Erfahrung", von "reinen Vernunftbegriffen" oder auch von der "Läuterung unserer Vernunft" spricht. Noch die "freie Variation" Husserls ist ja am Ende nichts weiter als ein Reinigungsprozeß, an dessen Ende man das "reine Wesen" einer Sache hat, ohne die Beimischung individueller, kontingenter Erfahrung. - Auch die "Objektivität" ist ein Kandidat für das Reinhaltungsgebot, sofern darunter der Verzicht auf "bloß subjektive" Einschätzung verbunden ist.

Reine Idee (Platon), Reine Vernunft, reine Wahrheit, reine Zeit ... Auch die Zeit denken wir uns ja als einen Jetzt-Punkt, links davon das Vergangene, rechts davon die Zukunft. Im oft bemühten "Zeitpunkt" wird das deutlich. Das Vergangene ist vergangen. Ja, das ist richtig. Aber wenn man beispielsweise die Zeit mal als Lebenszeit betrachtet, dann wissen wir spätestens seit Freud, wie wenig mit einem solchen Satz ("Das Vergangene ist vergangen") anzufangen ist. Man sagt ja auch gerne, das Vergangene holt einen wieder ein - ein seltsames Bild, in dem einem vergangenen Zeitpunkt (Trauma) die Fähigkeit zugesprochen wird, ein Jetzt wieder "einzuholen". Man denke etwa an das, was seit einigen Jahren "Erinnerungskultur" genannt wird. Die "deutsche Vergangenheit", die an Gedenktagen gerne bemüht wird ... usw.

Das Vergangene kann vergessen, verdrängt, verloren werden. Vergangenes kann erinnert werden. Eine in Tee getunkte Madeleine erinnert den Ich-Erzähler in Prousts monumentaler Suche nach der verlorenen Zeit an seine Kindheit und bringt einen ganzen Kosmos von Erlebnissen zur Wiedergeburt. Auf einmal ist sie "wieder da". - Die Erinnerung ist natürlich alles andere als "rein". Im Blumenberg-Thread hatte ich schon mal auf die "Chronoferenzen" (Achim Landwehr) hingewiesen, auf jene sonderbare "anwesende Abwesenheit der Vergangenheit", illustriert am Beispiel einer Anekdote, die Thomas Luckmann im Gespräch mit Rüdiger Zill berichtet:

"Die Erinnerung ist unzuverlässig. Vor kurzem habe ich das erneut bemerkt. Sie haben ja gehört, dass Gerhart von Graevenitz gestorben ist. Als die Nachricht kam, haben wir uns an ihn erinnert, und ich hab zu Renate Lachmann gesagt: ˋErinnerst du dich: Als wir in Prag waren, sind wir durch den Wallensteingarten unter dem Hradschin gegangen, und da trafen wir Gerhart von Graevenitz´. Sagt sie: ˋJa, ich erinnere mich. Aber Du warst nicht dabei.´"

Die Erinnerung ist eine Verunreinigungsagentur der Zeit. Ereignisse chronologisch in dicke Geschichtsfolianten einzutragen - wann hat wer regiert, wann war welche Schlacht, wann endete das römische Weltreich ... besagt über die Geschichte so wenig wie - wann war meine Taufe, wann war meine Einschulung, wann haben wir geheiratet ... So ließe sich eine reine Ereigniskette abbilden. Doch "Leben" ist ja etwas mehr als eine chronologisch sauber, reine Datierung. Da ist der erste Kuß und die durch ihn ausgelösten Turbulenzen. Turbare: drehen, verwirren, mischen, durcheinanderbringen. -

Auch für Nietzsche ist die Geschichte eine von Turbulenzen. Das Streben nach Reinheit in den Wissenschaften, in der Moral, in der Religion ist für Nietzsche "Symptom" des Lebensekels der "physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen": "Redlicher redet und reiner der gesunde Leib ..." (Also sprach Zarathustra, in "KSA", Bd. 4, S. 38.) -

Wenn von der Erinnerung als einer "Verunreinigungsagentur der Zeit" gerade die Rede war, dann ist das in keiner Weise eine Kritik. Auch wenn es bei Aby Warburg heißt: "Schon die Früh-Renaissance ist unrein", dann wendet sich das allenfalls gegen die Winckelmann´sche Vorstellung einer "Wiedergeburt". - Was hier im Anschluß an Warburg hinsichtlich der Zeit an "Chronoferenzen" angesprochen wurde, haben wir im letzten Monat, als es um Hans Blumenberg ging und um die Vernunft als "das vernünftige Arrangement mit der Vorläufigkeit der Vernunft" besprochen. Die "Unreinheit" der Vernunft liegt hier in ihrer "Vorläufigkeit". Das logisch versierte Auge sieht hier natürlich sofort das Paradox: wie kann "vernünftig" mit etwas umgegangen werden, dessen Vernünftigkeit sich nur als vorläufig erwiesen hat? - Wäre dieses Auge nicht nur logisch geschult, sondern auch rhetorisch, würde es das Augenzwinkern im Auge des Autors wahrnehmen, der natürlich ganz bewußt zu dieser Paradoxie greift, um die Vernunft als etwas erscheinen zu lassen, das wir getrost in Anspruch nehmen dürfen (und auch müssen) obwohl diese Vernunft nur eine vorläufige und keine absolute Geltung beanspruchen kann. So könnte man vielleicht von "Ratioferenzen" sprechen ...

Wasser in den Wein zu gießen - also etwas zu vermischen, ist nichts, worauf man den Beifall der Sachwalter der Reinheit von Vernunft, Moral, Geschichte, Zeit, Schönheit ... erhoffen darf. Man ist dann ein Subjektivist, ein Relativist, gar ein Postmoderner - aber allemal ist man verdächtig. -




Nauplios
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 12. Aug 2020, 19:52

Könnte man nicht auch einfach sagen: Vergangenheit ist immer zugegen, weil sie in die Gegenwart hineinwirkt? Und das nicht einfach nur als bloßer Blick auf das was vergangen ist - hier die Gegenwart und dort das Vergangene - sondern beides, Vergangenheit und Gegenwart, "lebt" in der Zeit?
Oder ist das jetzt zu trivial?
Wenn das "Immer-zugegen" dieser Vergangenheit und ihr "Hineinwirken" auch den Mythos umspannt (auch der ist ja angeblich "vergangen"), wenn es die Mittel der Unbegrifflichkeit (die es ja nach dem vermeintlichen Sprung vom Mythos zum Logos gar nicht gibt) ebenso umgreift ... können wir das selbstverständlich eine Trivialität nennen.

trivial: "ohne Ideeninhalt und daher wenig bedeutungsvoll".

Wenn es Deinen Feinsinn nicht beleidigt, NWDM, würde ich mir die eine oder andere Trivialität in diesem Thread noch erlauben. -




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als Hans die Zukunft in den Rücken fiel...




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Nauplios hat geschrieben :
Do 13. Aug 2020, 03:26
Wenn es Deinen Feinsinn nicht beleidigt, NWDM, würde ich mir die eine oder andere Trivialität in diesem Thread noch erlauben. -
Wieso bist Du denn immer gleich so empfindlich? Gemeint war nicht das der Thread, oder das Thema "trivial" sein könnte , sondern meine "Übersetzung".
Ich wollte einfach wissen ob ich den Inhalt angemessen wiedergeben habe, oder ob ich dabei "wenig ideenhaft" war.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
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Nauplios hat geschrieben :
Do 13. Aug 2020, 02:49
Und bei Kant kommt dann wieder dieses Moment der Vermischung/Entmischung ins Spiel, wenn er schreibt:

"Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartigem vermischt ist. Besonders wird aber eine Erkenntniß schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt." (Kritik der reinen Vernunft, A 11) -

Überhaupt findet sich die Vorstellung von Reinheit bei Kant an zentralen Stellen, etwa dort, wo er von den "reinen Anschauungsformen" (Raum und Zeit) oder den "reinen Verstandesbegriffen", von den "reinen Schemata zur möglichen Erfahrung", von "reinen Vernunftbegriffen" oder auch von der "Läuterung unserer Vernunft" spricht. Noch die "freie Variation" Husserls ist ja am Ende nichts weiter als ein Reinigungsprozeß, an dessen Ende man das "reine Wesen" einer Sache hat, ohne die Beimischung individueller, kontingenter Erfahrung.
Nietzsche hat das schon sehr früh, auf die ihm eigene Art, kritisiert.

In der Götzendämmerung schreibt er über die "Vernunft" in der Philosophie:

[957] Sie fragen mich, was alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist?... Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägyptizismus. Sie glauben einer Sache eine Ehre anzutun, wenn sie dieselbe enthistorisieren, sub specie aeterni – wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie töten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten – sie werden allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachstum sind für sie Einwände – Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was wird, ist nicht... Nun glauben sie alle, mit Verzweiflung sogar, ans Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man 's ihnen vorenthält. »Es muß ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, daß wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrüger?« – »Wir haben ihn«, schreien sie glückselig, »die Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind, sie betrügen uns über die wahre Welt. Moral: loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge – Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist alles ›Volk‹. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Totengräber-Mimik darstellen! – Und weg vor allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es gibt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!«...
- Auch die "Objektivität" ist ein Kandidat für das Reinhaltungsgebot, sofern darunter der Verzicht auf "bloß subjektive" Einschätzung verbunden ist.
Mir ist da noch nicht ganz klar, was da eigentlich passiert. Ich hatte immer angenommen, dass Objektivität, wenn man sie so versteht wie hier dargestellt, durchaus ihre Berechtigung, aber in bestimmten Lebensbereichen einfach gar nichts zu suchen hat. Zum Beispiel beim "Schönen".
Den Versuch die "Schönheit" zu dieser "Reinheit" zu bringen finde ich absurd. Ich habe versucht diese Absurdität durch die Forderung des Gegenteils aufzuzeigen. Wie sollte man denn zu dieser Reinheit kommen können ohne das Objekt der (Erkenntnis-)Begierde dabei völlig zu entstellen?. Das ist mir nicht gelungen. Ich habe es bloß schlimmer gemacht.
Mir ist dabei aber offensichtlich der Versuch entgangen den Objektivitätsbegriff selbst auf den Prüfstand zu stellen. Weg von der Vorstellung einer Objektivität der Reinheit, in der das Subjektive keine Rolle zu spielen hat.
Ich finde aber dann bräuchten wir einen neuen Begriff. Der Begriff der "Objektivität" ist verbrannt. Er wird die Reinheit nicht mehr los.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Do 13. Aug 2020, 10:38, insgesamt 2-mal geändert.



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