Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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Jörn Budesheim
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Sa 15. Aug 2020, 21:25

Stefanie hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:47
Von einer unreine Zeit zu sprechen, ist eine Aufforderung sie zu reinigen, was nur durch das erzwungene Vergessen geht.
Ich sehe das so ähnlich wie du. Der Begriff klingt nur für diejenigen gut, die eine Aversion, gegen das Klare und Deutliche, gegen das Reine, gegen Begriffe und was sonst noch in diese Reihe gehört, haben. Sie hören dann hauptsächlich die Gegnerschaft zu diesen Begriffen, aber nicht mehr das was, was du z.b. beschreibst.

Aber den fraglichen Begriffen einfach ein "un" voranzustellen, ist meines Erachtens ohnehin keine gute Strategie. (Also z.b. das Unklare, das Unreine und es Unbegreifliche.) Denn auf diese Weise bringt man sich z.b., ohne Not, in eine begriffliche Abhängigkeit von der Kontrastfolie.




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NaWennDuMeinst
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Sa 15. Aug 2020, 21:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 21:25
Stefanie hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 20:47
Von einer unreine Zeit zu sprechen, ist eine Aufforderung sie zu reinigen, was nur durch das erzwungene Vergessen geht.
Ich sehe das so ähnlich wie du. Der Begriff klingt nur für diejenigen gut, die eine Aversion, gegen das Klare und Deutliche, gegen das Reine, gegen Begriffe und was sonst noch in diese Reihe gehört, haben.
Ja. Aber was wenn die Wahrheit nicht rein, klar und deutlich wäre? Es wäre ja denkbar, dass wir mit dem Reinen nicht Wahrheit finden, sondern sie verfälschen.
Es geht nämlich mMn nicht um eine "Aversion", sondern um die Annahme, dass mit dem "Auslöschen" alles Unreinen ein wichtiger Bestandteil der Wahrheit verloren geht, oder komplett ausser Acht gelassen sein könnte.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Sa 15. Aug 2020, 21:50, insgesamt 3-mal geändert.



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Jörn Budesheim
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Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 19:51
Ob es hier auch um Genderfragen im modernen Kunstdiskurs gehen sollte, kann ich nicht beurteilen.
Wenn es um die Geistesgeschichte der Kunst überhaupt geht, dann geht es natürlich auch um die Guerilla Girls, die ich hier nur als pars pro toto erwähne. Zur Geistesgeschichte der Kunst gehört auch, dass Frauen z.b. lange Zeiten von den Akademien ferngehalten wurden. Das sind nur zwei kleine Beispiele.




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Aug 2020, 21:47

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 21:33
Es wäre ja denkbar, dass wir mit dem Reinen nicht Wahrheit finden, sondern sie verfälschen.
Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Ich mache diesen Begriff ja nicht stark, wenn ich den Gegenbegriff des Unreinen ablehne. Ich denke, man kann ziemlich problemlos auf beide Begriffe verzichten.

(Ich bin kein Kunsthistoriker, ich meine aber mal vor nicht allzu langer Zeit gelesen zu haben, dass es auch heute einige Theoretiker gibt, die meinen eine Kunstgeschichte könne man gar nicht mehr ohne weiteres erzählen. Um eine Geschichte zu erzählen, muss man immer gewisse Komplexitätsreduktion vornehmen. Würde man es nicht tun - was natürlich ohnehin unmöglich ist -, hätte man schließlich nur eine Verdopplung der Geschichte und gar keinen Erkenntnisgewinn. Die Frage ist dann, ob es eine angemessene Abstraktion gibt, die den Lauf der Dinge in irgendeiner Art und Weise besser nachvollziehbar macht. Diese Frage kann man schließlich auch verneinen. Das würde dann heißen, dass was passiert ist, passt nicht in eine Geschichte, die den Lauf intelligibel macht.)




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NaWennDuMeinst
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Sa 15. Aug 2020, 22:11

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 21:47
(Ich bin kein Kunsthistoriker, ich meine aber mal vor nicht allzu langer Zeit gelesen zu haben, dass es auch heute einige Theoretiker gibt, die meinen eine Kunstgeschichte könne man gar nicht mehr ohne weiteres erzählen. Um eine Geschichte zu erzählen, muss man immer gewisse Komplexitätsreduktion vornehmen. Würde man es nicht tun - was natürlich ohnehin unmöglich ist -, hätte man schließlich nur eine Verdopplung der Geschichte und gar keinen Erkenntnisgewinn. Die Frage ist dann, ob es eine angemessene Abstraktion gibt, die den Lauf der Dinge in irgendeiner Art und Weise besser nachvollziehbar macht. Diese Frage kann man schließlich auch verneinen. Das würde dann heißen, dass was passiert ist, passt nicht in eine Geschichte, die den Lauf intelligibel macht.)
Nehmen wir an, eine solche Abstraktion wäre nicht möglich. Was wäre die Konsequenz daraus? Also ich meine, warum ist es überhaupt wichtig sich "den Lauf intelligibel" zu machen?
(ich hoffe Du verstehst meine Frage. Wenn es irgendwo ein Problem gibt, dann meist weil man etwas erreichen will, ein Ziel das man mit den vorhandenen Mitteln nicht erreichen kann. Dann kann man entweder nach neuen, besseren Mitteln suchen - also den Weg zum Ziel - , oder man könnte auch das Ziel selbst in Frage stellen: "Müssen wir das unbedingt erreichen, oder genügt nicht auch Geringeres?").



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Jörn Budesheim
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Weil die Frage, was unsere Geschichte ist, zu der Frage gehört, wer wir sind.




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Alethos
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Sa 15. Aug 2020, 23:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 21:25
Aversion, gegen das Klare und Deutliche, gegen das Reine, gegen Begriffe
Begriffe in diese Reihe zu stellen zeigt meines Erachtens gut dein Verständnis von Begriffen als etwas Reines und Klares. Das ist nicht mein Verständnis von Begriffen. Wenn auch ich sie als etwas Deutliches begreife, so doch nicht als etwas Eindeutiges.

Rein kann nichts sein, was zwei- oder mehrdeutig ist. Rein ist unvermischt Eines. Klar kann auch nichts sein, was nicht zugleich distinkt wäre, denn klar ist etwas nur in Abgrenzung zum Anderen, was es nicht ist. Begriffe aber sind nicht so gegeneinander abgegrenzt, dass Distinktion in reinster Form folgte und auch klar sind sie nicht in dem Sinn, dass sie sich völlig scharf und ohne Übergänge voneinander abtrennten.. die Wirklichkeit ist graduell und so sind es auch die Begriffe. Begriffe gehören gar nicht in die obige Reihe.

Das entspringt aber keiner Aversion: Ich mag das Klare und Reine, ich bin da bei Descartes: Ich wünschte mir nichts als klare und reine Begriffe. Aber da wir sie weder analytisch noch synthetisch gewinnen können, sie also immer im Dunst einer definitorischen Unschärfe bleiben oder epistemologisch, kulturell oder historisch gefärbt sind, halte ich es mit der Reinheit so: Sie halte ich für eine Metapher für das Durchscheindende und Provisorische, das in einem nach vorne offenen Verstehen mündet: Dass Wahrheit nicht festzuhalten sei weder jetzt für allemal noch nie in einer Definition.

Die "reine Wahrheit" ist wie die "nackte Wahrheit" eine Metapher und die Metapher ein Remedium gegen das Defizit, sie auf einen Nenner zu bringen in der Art von "Wahrheit ist x". Damit haben wir es gesagt: Metaphern erfüllen die Funktion, die Wahrheit durscheinen zu lassen, wo sie uns klarer nicht gegeben sein kann als in der Unbegrifflichkeit, die in alle Begriffe hineinstrahlt.



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So 16. Aug 2020, 07:46

Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 23:36
Ich wünschte mir nichts als klare und reine Begriffe.
Ich wünschte mir mehr Poesie und weniger Falschmeldungen.




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Jovis
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So 16. Aug 2020, 08:19

Ist ja interessant, dass der Begriff "unrein" bei manchen, mich eingeschlossen, so starkes Unbehagen auslöst! Dabei hat Nauplios ihn doch, wenn ich das richtig verstanden habe, positiv verwendet. Gegen ein abstrahierendes, lineares, unlebendiges Zeitverständnis, für ein Zeitempfinden, in dem Gegenwart immer mehr oder weniger durchsetzt ist mit Vergangenheit. Aber ich bin wohl so konditioniert auf Sauberkeit, dass es mir schwer fällt, unrein nicht mit schmutzig gleichzusetzen. Und Schmutziges ist bäh! Gehört aufgeräumt, sauber gemacht, beseitigt.




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Stefanie
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So 16. Aug 2020, 08:59

Jovis hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 08:19
(...) Dabei hat Nauplios ihn doch, wenn ich das richtig verstanden habe, positiv verwendet. Gegen ein abstrahierendes, lineares, unlebendiges Zeitverständnis, für ein Zeitempfinden, in dem Gegenwart immer mehr oder weniger durchsetzt ist mit Vergangenheit. Aber ich bin wohl so konditioniert auf Sauberkeit, dass es mir schwer fällt, unrein nicht mit schmutzig gleichzusetzen. Und Schmutziges ist bäh! Gehört aufgeräumt, sauber gemacht, beseitigt.
Das von mir Unterstrichene ist meiner Meinung nach unstrittig.
Aber ist das unrein? Wieso, nur wegen der Herleitung bzw. Vergleich zur Antike und klassizismus.?

Dazu dieser Satz in dem Text von Nauplios: Geschichte ist das gärende, brodelnde, dunkel Leben. Das liest sich so, wie sich manche wohl die Hölle vorstellen.
Geschichte und die Zeit betrifft das öffentliche, politische Leben, und das private Leben. Natürlich hat die Menschheit Ereignisse erschaffen, die waren und sind wie die Hölle. Aber doch nicht nur.
Jeder Mensch, der geboren wird, wird demnach in ein gärendes, brodelndes und dunkles Leben reingeboren. Ein Kreislauf von negativem Denken und ja Hoffnungslosigkeit.
Das ist doch nicht Geschichte.

Unrein ist stärker negativ wertend als schmutzig oder dreckig. Finde ich.
Jemand hat unreine Gedanken oder jemand hat dreckige Gedanken.
Es ist ein gefühlter Unterschied, nur habe ich noch nicht herausbekommen, wieso.

Sich wie Kinder schmutzig machen, in dem man in eine Pfütze springt, ist nichts schlimmes, es ist nicht unrein. Die Folgen einer Renovierung an den Klamotten und in den Haaren bewirkt, man ist dreckig und verschmutzt. Aber nicht unrein.
Unrein ist irgendwie böse, schmutzig ist einfach nur schmutzig.



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Alethos
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Stefanie hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 08:59

Dazu dieser Satz in dem Text von Nauplios: Geschichte ist das gärende, brodelnde, dunkel Leben. Das liest sich so, wie sich manche wohl die Hölle vorstellen.
Aber wie gelangt man denn über diese Ausdrücke zur Ansicht, dass sie per se negativ konnotiert sind. Nichts davon ist es, auch nicht das Unreine.



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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 09:51

Diese Idee, Kunst nicht nach historischen Läufen zu ordnen, hatte auch auf uns Kunststudenten in den Achtzigern einen gewissen Einfluss. Ein paar Kommilitonen und ich hatten die nicht gerade bescheidene Idee, die Sammlung hier in Kassel in der neuen Galerie nach anderen Ordnungskriterien, sagen wir "rein künstlerischen" zu ordnen. Die Leiterin hat uns seinerzeit eigentlich nur relativ lapidar erklärt, dass dieses Vorhaben mit ihrem Budget und den entsprechenden Regularien gar nicht machbar wäre :) heute muss ich darüber (insbesondere unsere Naivität) zwar schmunzeln, aber ich fände eine solche Umsetzung nach wie vor spannend.




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Stefanie
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So 16. Aug 2020, 09:57

Ähm, brodelnd, gärend, und dunkel in dieser Kombination drücken was positives aus? Was denn?
Damit etwas gärt, muss es warm bis heiß sein, wenn etwas gärt dehnt es sich aus und macht oft blub, blub, und dazu ist es dunkel....wirklich leben kann der Mensch in einer solchen Atmosphäre nicht und in einer solchen Zeit auch nicht.



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So 16. Aug 2020, 10:09

Stefanie hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 08:59
Aber ist das unrein?
Unrein ist hier einfach nur das Gegenteil von rein. Dabei geht es weniger um "schmutzig" als mehr um die reine Form.
Manche Diamanten bezeichnen wir z.B. als "lupenrein". Damit ist dann gemeint, dass wir es mit einem Diamanten zu tun haben, der aus reinem, gepressten Kohlenstoff besteht, ohne Zusätze.
Diamanten dieser Art sind besonders wertvoll (weil selten).
Oder: Möglichst reiner Alkohol eignet sich in der Medizin am Besten zur Desinfektion.
Es geht da immer darum, dass man ein bestimmtes Merkmal in seiner reinsten Form haben will.
Analog dazu meinen manche Philosophen man müsse unsere Vorstellungen und Begriffe zu einer größtmöglichen Reinheit und Klarheit bringen. Hinter der "scheinbaren Welt", die verunreinigt ist durch Subjektives und Sinnliches, verbirgt sich die "wahre Welt" die zu erkennen wir nur im Stande sind, wenn wir unser Denken von diesen "Verunreinigungen" (d.h. störenden, unerwünschten Einflüssen) befreien. Diese Zweiteilung in eine "scheinbare" und eine "wahre" Welt findet sich in der Philosophie schon sehr früh (bei Platon).
Das wirkt bis heute nach. Es gab und gibt aber auch Kritik an derlei Vorstellungen.

"Die »scheinbare« Welt ist die einzige: die »wahre Welt« ist nur hinzugelogen..."



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So 16. Aug 2020, 10:46

Stefanie hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 09:57
Ähm, brodelnd, gärend, und dunkel in dieser Kombination drücken was positives aus?
Ich will das hier nun wirklich nicht ins Lächerliche ziehen: Aber ohne Brodeln und Gärung gibt es kein Bier. Übrigens auch kein Gulasch oder Kohlrabi-Eintopf.



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Jovis
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So 16. Aug 2020, 11:12

Stefanie hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 08:59
Unrein ist stärker negativ wertend als schmutzig oder dreckig. Finde ich.
Jemand hat unreine Gedanken oder jemand hat dreckige Gedanken.
Es ist ein gefühlter Unterschied, nur habe ich noch nicht herausbekommen, wieso.

Sich wie Kinder schmutzig machen, in dem man in eine Pfütze springt, ist nichts schlimmes, es ist nicht unrein. Die Folgen einer Renovierung an den Klamotten und in den Haaren bewirkt, man ist dreckig und verschmutzt. Aber nicht unrein.
Unrein ist irgendwie böse, schmutzig ist einfach nur schmutzig.
Unreine Gedanken - das hört sich sehr katholisch an. Darauf wäre ich nicht gekommen, da bin ich unbelastet. Auch Assoziationen zur Hölle liegen mir eher fern. Aber das bringt mich auf einen Gedanken, den du ja auch ausdrückst: In unrein schwingt oft eine moralische Bewertung mit, zumindest wenn man das Wort auf Menschen oder menschliche Handlungen bezieht (du schreibst "negativ wertend", "böse"), während schmutzig erst einmal nur eine Beschreibung ist.

Aber Alethos und NaWennDuMeinst haben ja schöne Beispiele für andere, positive oder neutrale Verwendungen des Wortes gebracht.




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Jovis
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So 16. Aug 2020, 11:19

Ich glaube, wir überbewerten den Begriff in diesem Thema etwas. Nauplios hat ihn ja eher ironisch verwendet, er erwähnt ja selbst den Bezug zu Kant, und ich glaube, außer in der Überschrift taucht er auch nirgendwo im Text mehr auf. Er hätte es vielleicht auch "Eine kurze Geschichte der verwobenen Zeit" oder sowas nennen können.




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Alethos
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So 16. Aug 2020, 11:33

Volle Zustimmung, Jovis.

Und damit dürfte die Bühne eigentlich wieder frei sein für den Monolog (der nie ein Soliloquium war :) )



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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 13:21

Jovis hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 11:19
Ich glaube, wir überbewerten den Begriff in diesem Thema etwas. Nauplios hat ihn ja eher ironisch verwendet, er erwähnt ja selbst den Bezug zu Kant, und ich glaube, außer in der Überschrift taucht er auch nirgendwo im Text mehr auf. Er hätte es vielleicht auch "Eine kurze Geschichte der verwobenen Zeit" oder sowas nennen können.
Ich glaube nicht, dass der Begriff überbewertet wird. Ich meine im Gegenteil, es ist der zentrale Begriff des Fadens überhaupt. Hierzu ein Zitat von Nauplios aus einem anderen Thread zu Hans Blumenberg.
Nauplios hat geschrieben :
Sa 5. Okt 2019, 21:09
"Versuchen wir uns einmal vorzustellen ... " - Mit einem Gedankenexperiment beginnen die Paradigmen, indem ein "hypothetischer ˋEndzustand´ der Philosophie" entworfen wird als Folge und Abschluß des methodischen Programms, das Descartes im Discours de la Methode (1637) vorlegt. "Die erste (Vorschrift) besagt, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist: d.h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln." (Descartes; Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs; S. 31) -

Klar und deutlich - das bedeutet für die philosophische Terminologie, daß sie die "Präsenz und Präzision der Gegebenheit in definierten Begriffen auffängt". (S. 11) - Die philosophischen Begriffe müßten in diesem "Endzustand" der Philosophie also allesamt klar und deutlich definiert sein. "Alle Formen und Elemente übertragener Redeweise im weitesten Sinne erwiesen sich von hier aus als vorläufig und logisch überholbar; sie hätten nur funktionale Übergangsbedeutung ... " (S. 11) - Die Metapher als Form der übertragenen Redeweise fällt von Haus aus in die Zuständigkeit der Rhetorik. Das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie galt jedoch seit Platons Rhetorik-Kritik als zerrüttet. Sie war zulässig als Lehre der ornamentalen Verschönerung der Rede, aber als eine "authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen", wie es später bei Blumenberg heißt, galt die Metapher als unpräzise und mehrdeutig. Der "Endzustand der Philosophie" im Sinne Descartes war also mit dem Verzicht auf sämtliche bildliche Ausdrucksweise verbunden. "Klar und deutlich" konnte nur sein, was in präziser Begrifflichkeit wiederzugeben möglich war. So lange konnte die Metapher allenfalls als "Übergangsbedeutung" geduldet werden, aber immer mit dem Charakter des Vorläufigen und Defizienten. -

Konsequenterweise müßte die Philosophie im "Endzustand" dann auch das Interesse an einer Begriffsgeschichte (Rothackers und später Ritters Anliegen) verlieren. Im "Endzustand" wäre ja alles gesagt, sogar klar und deutlich, und "Endzustand" bedeutet, daß nach Erreichung dieses Zustands ein Weiterphilosophieren obsolet sein müßte. "Geschichte" wäre dann allenfalls noch das Vorauseilen (precipitation) und Vorwegnehmen (prevention), das aber für das klare und deutliche Wissen selbst ohne Belang wäre. -

"Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen ... " heißt es in Wittgensteins Tractatus.

Was Descartes nicht wissen konnte: fast vierhundert Jahre später ist ein "ˋEndzustand´ der Philosophie", verbunden mit einer rein begrifflichen Terminologie immer noch nicht erreicht. -




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