Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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Alethos
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So 16. Aug 2020, 22:38

Wie muss man sich eine reine Zeit bloss denken, Stefanie? Was soll das bedeuten?



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Nauplios
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So 16. Aug 2020, 22:44

Du hast geschrieben, Stefanie, ich hätte eine "Position beschrieben". - Positionen werden vertreten. Und die Vertreter dieser Position habe ich namentlich genannt. Warburg und Didi-Huberman vertreten die Position von der "Unreinheit der Zeit". - Du schreibst von "Geschichtsvergessenheit", von einer "Einladung" zur Geschichtsvergessenheit. Deine Kritik entzündet sich dabei an der Verwendung "rein/unrein" (eine über Jahrhunderte tradierte Unterscheidung, gipfelnd in der Kritik der reinen Vernunft). - Nun soll Deine Kritik nicht mir gelten. Sie soll auch nicht den oben Genannten gelten. - (Bei Nietzsche hätte ich sie nachvollziehen können!) - Sie gilt also .... niemandem. Keinem in dieser Runde. Keinem von denen, auf die ich mich bezogen habe. -

Damit hätten wir an dieser Stelle einen versöhnlichen Tagesabschluß hinbekommen. - Also dann, nichts für ungut, Stefanie. - Euch allen einen guten Start in die neue Woche. -




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Nauplios
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So 16. Aug 2020, 23:01

Alethos hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 22:38
Wie muss man sich eine reine Zeit bloss denken, Stefanie? Was soll das bedeuten?
Kant wäre hier ein Philosoph, an den man diese Frage adressieren könnte. - Von meiner Seite aus, kann die Frage nach einer reinen Zeit philosophisch durchaus ausbuchstabiert werden. Kant spricht ja in der "Kritik der reinen Vernunft" von der "transzendentalen Idealität" von Raum und Zeit. - Kant spricht als Erkenntnistheoretiker. Nicht als Historiker. Nietzsche wiederum spricht (in Anlehnung an Burckhardt) schon eher als Historiograph der griechischen Tragödie und nicht vom Standpunkt der Erkenntnistheorie. - Husserl spricht vom "reinen Ich" ...

Die "Unreinheit der Zeit" war für mich vor der Lektüre von Warburg/Didi-Huberman auch unbekannt. Ich kann dieser Formel jedoch durchaus gewisse Pointen abgewinnen. - Pointen gibt's oft im Sinnfeld des Spielerischen. Das Spielerische zu bewahren - ob reine oder unreine Zeit - ist nicht das Schlechteste. ;) ... es sei denn, man wollte Philosophie als strenge Wissenschaft verstehen. ;)




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Aug 2020, 07:17

Alethos hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 22:38
Wie muss man sich eine reine Zeit bloss denken, Stefanie? Was soll das bedeuten?
Hier ein kurzer Text über das Buch von Georges Didi-Huberman
Didi-Huberman setzt damit konsequent und systematisch seine seit Jahrzehnten entwickelte Bild-Theorie fort, für die das Aktive und das Werdende des Bildes im Vordergrund steht.

https://www.deutschlandfunk.de/das-werd ... e_id=85151
Für gewöhnlich stellt man sich die Geschichte der Kunst vor wie eine Abfolge auf einem Zeitstrahl. Dazu gibt es auf dem Büchermarkt Dutzende von Bildbänden, mit Erläuterungen auch für den interessierten Laien.

...
Gotik
Renaissance
Manierismus
Barock
Rokoko
Klassizismus
Romantik
Realismus
Impressionismus
Symbolismus
Jugendstil
Expressionismus
Kubismus
Futurismus
Dadaismus
Surrealismus
Neue Sachlichkeit
Abstrakte Expressionismus
Pop-Art
Land Art
Minimal Art
Op Art
Konzept Kunst
Weitere Ausfransungen
...

Dazu gehören vielleicht gewisse Vorstellungen wie es von einem Ismus zum anderen kommt. Sagen wir, um es zu karikieren, eine Art Mechanik. Es gab auch Ideen, dass die Kunst, damit ist in der Regel die "westliche Kunst" gemeint, auf einer Art Ziel zuläuft. Einschlägig bekannt ist dafür der amerikanische Theoretiker und Kritiker Clement Greenberg mit der (super grob dargestellten) Idee, dass die Malerei im Prinzip Schritt für Schritt zu sich selbst findet zu ihrer flatness.

So ungefähr male ich mir den Begriff der "reinen Zeit" in der Kunstgeschichte aus. Ich habe keine Kunstgeschichte studiert und weiß daher nicht, ob irgendjemand diese Idee in dieser krassen Form so vertritt, aber man traf es wenigstens ungefähr so allenthalben an, das kann man wohl schon sagen.

Georges Didi-Huberman spricht hingegen von Wucherungen. Das ist natürlich ein klares Gegenbild. Während die obige Idee im Prinzip eine klare, lineare Abfolge ist, ist eine Wucherung wohl eher das Gegenteil davon. Er nutzt auch freudianische Bilder z.b. von der Wiederkehr des Unbewussten.

Ich erinnere mich aus meinem Studium an ein Beispiel, die mit dieser Sichtweise wahrscheinlich verwandt ist. Als in den 80er Jahren die "neuen Wilden" Furore machten, hat der Künstler und Theoretiker Bazon Brock geltend gemacht, dass diese Kunst die Kunstgeschichte gleichsam "nach hinten" verändert hat. Er vertrat, so wie ich mich erinnere, damit die Ansicht, dass bestimmte Stilrichtungen, z.b. die Fauves und der Expressionismus, aufgrund der neuen Situation anders zu lesen seien.

Das führt gewissermaßen direkt zu dem Titel des Beitrags im deutschlandfunk: "das Werdende der Bilder". Bilder sind schließlich nicht in demselben Sinne Dinge, wie etwa Steine oder Elektronen. Wir selbst und unsere Betrachtungen sind schließlich ein integraler Bestandteil der Bilder selbst. Das Bild (das Kunstwerk) ist also nicht einfach "das da" sondern "das da" in seiner Rezeption, Betrachtung, Interpretation, Wirkungsgeschichte et cetera ... die Idee von Brock war, soweit ich mich entsinne, dass der Fortgang der Geschichte die Geschichte selbst verändert. Denn die Bilder sind nichts fix und fertiges, sondern etwas im Werden.

Das ist natürlich ein Gedanke, der nicht ohne weiteres - gelinde gesagt - mit der Idee einer linearen Abfolge (=reine Zeit) vereinbar ist.




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Aug 2020, 08:59

Ich habe praktisch nichts über Georges Didi-Huberman gefunden. Deswegen habe ich keine Ahnung, inwiefern das obige etwas mit dem zu tun hat, was er sich vorstellt.

Ich will aber noch mal klar machen, dass aus meiner Sicht diese Sicht auf die Kunstgeschichte keineswegs eine Form von Konstruktivismus, Relativismus oder Idealismus darstellen muss. Es passt natürlich wunderbar in einer solche Konzeptionen, aber das ist nicht zwingend.

Der Grund dafür ist die Ontologie des Gegenstandes. Es gehört zur Ontologie der Kunst, dass sie nur in ihrer Betrachtung existiert. Das ist sicherlich viel komplizierter, als es sich in dieser Formulierung anhört. Ich wollte nur noch mal hervorheben, dass man zu dieser Sichtweise auch als Realist neigen kann.




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Alethos
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Fr 28. Aug 2020, 19:11

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 28. Aug 2020, 07:17
Bilder sind schließlich nicht in demselben Sinne Dinge, wie etwa Steine oder Elektronen. Wir selbst und unsere Betrachtungen sind schließlich ein integraler Bestandteil der Bilder selbst. Das Bild (das Kunstwerk) ist also nicht einfach "das da" sondern "das da" in seiner Rezeption, Betrachtung, Interpretation, Wirkungsgeschichte et cetera ... die Idee von Brock war, soweit ich mich entsinne, dass der Fortgang der Geschichte die Geschichte selbst verändert. Denn die Bilder sind nichts fix und fertiges, sondern etwas im Werden.

Das ist natürlich ein Gedanke, der nicht ohne weiteres - gelinde gesagt - mit der Idee einer linearen Abfolge (=reine Zeit) vereinbar ist.
Und es ist ein Gedanke, der nicht ohne weiteres die Prämisse zulässt, es gebe da Objekte und hier Subjekte. Wir müssen das Sein der Dinge in der Interaktion durch uns als mit uns werdendes Sein verstehen. Sie sind nicht einfach da liegende Steine oder fallende Wassertropfen, sie sind immer auch Objekte, deren Sein wir mitgestalten, weil wir sie wahrnehmen. Und viceversa gestalten sie uns mit, weil sie das sind, was sich in das Wahrnehmen von ihnen einbringt als ihr selbstragendes Sein.

Das gilt für Gemälde wie für Elektronen und Steine oder Wolken. Meine ich. Fühle ich.



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NaWennDuMeinst
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Fr 28. Aug 2020, 22:44

Alethos hat geschrieben :
Fr 28. Aug 2020, 19:11
Das gilt für Gemälde wie für Elektronen und Steine oder Wolken. Meine ich. Fühle ich.
Schwer vorstellbar. Ich denke es ist nicht allzu gewagt anzunehmen, dass Elektronen, Steine und Wolken auch dann noch ihr eigenes Sein haben werden, wenn Alethos schon lange aufgehört hat zu meinen und zu fühlen.



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Alethos
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Sa 29. Aug 2020, 00:00

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Fr 28. Aug 2020, 22:44
Alethos hat geschrieben :
Fr 28. Aug 2020, 19:11
Das gilt für Gemälde wie für Elektronen und Steine oder Wolken. Meine ich. Fühle ich.
Schwer vorstellbar. Ich denke es ist nicht allzu gewagt anzunehmen, dass Elektronen, Steine und Wolken auch dann noch ihr eigenes Sein haben werden, wenn Alethos schon lange aufgehört hat zu meinen und zu fühlen.
Es geht gar nicht um das, was du ihr eigenes Sein nennst, was wahrscheinlich so etwas wie ihr Ansichsein ist, sondern es geht um ihr Sein als Phänomene. Dass sie Phänomene sind, macht sie erst zu intentionalen Objekten.



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NaWennDuMeinst
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Sa 29. Aug 2020, 00:07

Alethos hat geschrieben :
Sa 29. Aug 2020, 00:00
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Fr 28. Aug 2020, 22:44
Alethos hat geschrieben :
Fr 28. Aug 2020, 19:11
Das gilt für Gemälde wie für Elektronen und Steine oder Wolken. Meine ich. Fühle ich.
Schwer vorstellbar. Ich denke es ist nicht allzu gewagt anzunehmen, dass Elektronen, Steine und Wolken auch dann noch ihr eigenes Sein haben werden, wenn Alethos schon lange aufgehört hat zu meinen und zu fühlen.
Es geht gar nicht um das, was du ihr eigenes Sein nennst, was wahrscheinlich so etwas wie ihr Ansichsein ist, sondern es geht um ihr Sein als Phänomene. Dass sie Phänomene sind, macht sie erst zu intentionalen Objekten.
Ich begreife bis heute nicht, was Du mit "intentionalen Objekten" meinst. Wahrscheinlich sowas wie das kantsche Objekt der Anschauung. Dinge existieren aber nicht nur oder erst, wenn sich irgendwer auf sie bezieht. Mir scheint Du verwechselst einfach Kenntnis von Objekten mit den Objekten selbst.
Unser Fühlen und Meinen ist für die Existenz diverser Objekte einfach irrelevant. Nicht aber für unsere Kenntnis (Erkenntnis) von den Objekten. Diese ist ohne das Subjektive einfach nicht zu haben.



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Jörn Budesheim
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Sa 29. Aug 2020, 08:29

"Intentionalität ist diejenige Eigenschaft vieler geistiger Zustände und Ereignisse, durch die sie auf Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt gerichtet sind oder von ihnen handeln." (Searle)

So verstehe und nutze ich den Begriff auch. Die intentionalen Gegenstände sind dabei die Objekte oder Sachverhalte selbst.




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NaWennDuMeinst
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Sa 29. Aug 2020, 09:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 29. Aug 2020, 08:29
"Intentionalität ist diejenige Eigenschaft vieler geistiger Zustände und Ereignisse, durch die sie auf Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt gerichtet sind oder von ihnen handeln." (Searle)
Also das Reden über oder Denken an Objekte?
Aber wieso sollte das eine Bedingung für deren Existenz sein?



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Jörn Budesheim
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Angenommen wir stehen zusammen auf einem Feld und betrachten einen Stein. Dann ist meines Erachtens für uns beide derselbe Stein das intentionale Objekt. und er existiert, ob wir von ihm Notiz nehmen oder nicht.

Deutlich komplizierter ist es, meines Erachtens, wenn wir vor der Mona Lisa stehen. Zwar existiert das Stück Materie, welches glaube ich im Louvre hängt, natürlich ganz unabhängig davon, ob wir uns dem zuwenden oder nicht. Aber das Stück Materie - ist das schon die Mona Lisa?




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Alethos
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Sa 29. Aug 2020, 11:07

Der Punkt ist doch nicht, welchen Gegenstand du vergegenwätigst, sondern die Gegenwärtigkeit selbst, die Ausdruck findet im Füreinandersein.

Und man denke nicht, dass ich für den Stein weniger bin, als er für mich, denn ihm geschieht ebenso etwas, wenn ich ihn sehe oder aufhebe, wie mir geschieht. Und man kann nicht mit gutem Recht behaupten, dass er weniger bedeutsam sei als die Mona Lisa. Bedeutsam für wen und in welchem Sinn?



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Jörn Budesheim
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So 30. Aug 2020, 10:24

Steine kann es auch dort geben, wo niemand von ihnen Notiz nimmt. Für Bilder gilt das jedoch nicht. Oder mit anderen Worten: es gehört, ganz anders als bei Bildern, nicht zu den Wesensmerkmalen von Steinen, betrachtet zu werden.




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So 30. Aug 2020, 10:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 10:24
Oder mit anderen Worten: es gehört, ganz anders als bei Bildern, nicht zu den Wesensmerkmalen von Steinen, betrachtet zu werden.
Das hast Du schön formuliert. Nun überlege ich gerade was sich ändert, wenn ich den Stein nehme und ihn bemale (oder seine Form verändere).



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Jörn Budesheim
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So 30. Aug 2020, 11:36

In der Kunst gibt es seit gut einem Jahrhundert sogenannte "readymades" und danach auch "objects trouvés". Die sind für ein solches Gedankenexperiment noch geeigneter, weil sich an der Anatomie des fraglichen Gegenstands ist im Grunde (fast) gar nichts ändert. Er wird einfach so, wie er ist, zum Kunstwerk erklärt. Am berühmtesten ist in dieser Hinsicht das Pissoir von Marcel Duchamp. Ein handelsübliches Pissoir auf den Kopf gestellt mit Signatur und den Titel "fountain" versehen.

Deswegen müsste man den Stein nicht mal bemalen oder sonstwie verändern, um in seine Ontologie einzugreifen, dafür genügt es, ihn in ein anderes/weiteres Feld zu rücken, nämlich in das Feld der ästhetischen Erfahrung, sprich der Kunst. Die physikalischen Eigenschaften des Steines werden dabei also gar nicht tangiert. Und das Feld der ästhetischen Erfahrung kann es natürlich nicht geben ohne diejenigen, die die Erfahrung machen.




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Alethos
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So 30. Aug 2020, 13:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 10:24
Steine kann es auch dort geben, wo niemand von ihnen Notiz nimmt. Für Bilder gilt das jedoch nicht. Oder mit anderen Worten: es gehört, ganz anders als bei Bildern, nicht zu den Wesensmerkmalen von Steinen, betrachtet zu werden.
Es gehört nicht zum Wesensmerkmal schlechthin von Bildern, dass sie notiert werden, damit "es sie gibt". Genau das aber behauptest du oben, Jörn, wenn du sagst, dass es sie nicht geben kann, wo keiner von ihnen Notiz nimmt.

Bilder sind zunächst einmal Farben, Formen und Materialien, durch jemanden so und so angeordnete Farben und Formen, nach Regeln oder nach keinen, mit Absicht oder ohne so angeordnete Farben und Formen. Sie sind Artefakte und damit Produkte eines Tuns und Handelns. Ein Bild gibt es nicht erst dadurch, dass es betrachtet wird, Bild war es von Anfang durch seine Kreation. Wäre es nicht so, wären Bilder von blinden Künstlern, die ihr Atelier nie verlassen und von denen niemand je Notiz nimmt, nicht einmal die Künstler selbst, keine Bilder. Das ist doch völlig absurd, nicht wahr, zu sagen, es handelte sich bei diesen nicht beachteten Objekten im Atelier, von denen nie jemand Notiz nahm, um keine Bilder?

Bilder werden dadurch, dass wir von ihnen Notiz nehmen, überhaupt ins Licht geholt. In diesem Licht entfalten sie (ihre) Bedeutung, aber sie haben kein ontologisches Vorrecht gegenüber am Boden liegenden Steinen oder am Himmel leuchtenden Sternen aufs Notiertwerden.
Dass Artefakte eine Funktion erfüllen, z.B. dass sie aufs Gesehenwerden ausgerichtet sind, das macht sie aus ontologischer Sicht nicht zu bedeutenderen Gegenständen als andere. Es macht sie aber zu Phänomenen einer besonderen Art, nämlich zu Phänomenen, die sich dem Schauen in einer Weise anbieten, wie es Steine nicht tun. Das ist ihr Wesensmerkmal, dass sie etwas über sich selbst aussagen wollen, dass sie sich dem Schauen, dem Nachdenken, dem Fühlen aufdrängen in einer Weise, wie es nichtkünstlerische Gegenstände nicht tun. Darum ist das Kunstphänomen ein Phänomen anderer Art als ein da liegender Stein, aber sie sind beide als Phänomene Gegegenstand einer Bezugnahme, ohne die sie nicht das wären, was sie sind: Gemäldephänomen und Steinphänomen - Phänomen schlechthin.
Als solches Phänomen schlechthin, als Gegenstand einer Betrachtung oder einer Auseinandersetzung mit ihm, sind sie intentionale Objekte.

Intentionale Objekte sind immer Objekte, auf die sich innere Einstellungen beziehen, ungeachtet der Tatsache, um welche Objekte es sich handelt. Ein Bild ist ein ebenso intentionales Objekt wie ein am Boden liegender Stein, sobald es Gegenstand meiner Betrachtung, meines Denkens, meines Fühlens etc. wird. Da ist phänomenologisch kein Unterschied festzustellen bezüglich dem Betrachten eines Steins und dem
Betrachten eines Bilds, was natürlich nicht heisst, dass beide zwei gleiche Objekte sind.
Ein Bild ist kein Stein, aber beide sind sie intentionale Objekte gleichen Rangs, wenn es darum geht, Phänomene überhaupt
zu sein.

Und wenn ich den Stein aufhebe, wenn ich ihn betrachte, auch wenn ich bloss
über ihn nachdenke, dann gehört es zu seiner Wirklichkeit, dass ich es tue. Über ihn spannt sich nämlich dieTatsache auf, dass er bedacht, erfühlt, ertastet wird. Das alles erleidet er als Stein und was er als dieses Objekt erleidet, das kann nicht nicht wahr über ihn sein resp. kann nichts über ihn wahr sein, was nicht wirklich ist an ihm. Es ist nämlich durch die Tatsache, dass er in meiner Hand liegt, an ihm wirklich, dass er in meiner Hand liegt. Es ist über ihn wahr, dass er es tut, und deshalb kommt es ihm zu, in diese Tatsache eingebettet zu sein. Das ist seine relationale Verortung als Einzelding mit diesen und diesen Eigenschaften: dass er in dieser Tatsache vorkommt.
Es geschieht dem Stein, dass er in meinem Denken vorkommt, und das ist eine Tatsache, die nicht wirklicher sein könnte als jede Tatsache, die von diesem Stein handelt.

"Der Stein wiegt 200g." und "Der Stein besteht aus Kohlestoff-Atomen" sind Tatsachen seine Eigenschaften betreffend. Aber die Tatsache: "Der Stein ist Gegenstand meines Nachdenkens" ist eine ebenso artikultierte Tatsache über diesen Stein, nämlich über ihn als Objekt meines Nachdenkens mithin über ihn als intentionales Objekt.

In dieser phänomenologischen Form entfaltet er seine Wirklichkeit in meinem Gedanken. Über ihn als Phänomen ist anderes wahr, als über ihn als Nichtphänomen.
Es ist über den Stein z.B. wahr, dass er sich in meiner Hand kühl anfühlt. Über das Gemälde ist wahr, dass es schön (und nicht schön) ist. Weder am Stein, das ich nie in Händen halte, ist es wahr, dass er kühl ist, noch über das Gemälde, das niemand sieht, dass es schön ist. Erst als Phänomene entfalten sie diese Wirklichkeit.

Das intentionale Objekt ist deshalb eben kein nichtgedankliches Objekt oder ein totes Objekt, sondern es ist ein ganz in der Beziehung zu mir lebendig werdendes. Die Lebendigkeit eines Bilds zeigt sich natürlich nicht in Stoffwechselprozessen, aber sie zeigt sich in der Wechselhaftigkeit des Lichts, mit dem das Phänomen strahlt - Licht, das aufgrund sich verändernder Konstellationen und wechselnder relationaler Verortungen der
Dinge selbst in Tatsachen immer wieder anders auf das Ding strahlt - worauf es, das Ding, wechselnd zurückstrahlt.
Das ist die Lebendigkeit der Dinge: dass sie funkeln im Lichte ihrer phänomenelogischen Wirklichkeit.

Wenn du also in einem anderen Thread von der "Lebendigkeit der Kunst" sprichst, dann bezieht sich das auf diese hier beschriebene Lebendigkeit.



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So 30. Aug 2020, 13:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 11:36
Und das Feld der ästhetischen Erfahrung kann es natürlich nicht geben ohne diejenigen, die die Erfahrung machen.
Das Feld überhaupt einer Erfahrung kann es ohne diejenigen nicht geben, die diese Erfahrung machen. Die Kunsterfahrung ist eine Erfahrung wie jede andere: eine Erfahrung der Besonderheit der Objekte, von denen sie Erfahrung ist. Eine Baumerfahrung ist eine ebenso besondere Art der Erfahrung wie die Kunsterfahrung.

Und es reicht eben nicht, ein Pissoir in ein bestimmtes Feld zu rücken, das das Etikett "ästhetisch" trägt, um aus ihm einen Kunstgegenstand zu machen. Das wäre ein Institutionalismus, der, weitergedacht, bahaupten würde: Wenn Duchamp pisst, ist seine Pisse Kunst. Wenn Hans Müller pisst, ist seine Pisse Nichtkunst.



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So 30. Aug 2020, 14:40

Alethos hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 13:26
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 11:36
Und das Feld der ästhetischen Erfahrung kann es natürlich nicht geben ohne diejenigen, die die Erfahrung machen.
Das Feld überhaupt einer Erfahrung kann es ohne diejenigen nicht geben, die diese Erfahrung machen. Die Kunsterfahrung ist eine Erfahrung wie jede andere: eine Erfahrung der Besonderheit der Objekte, von denen sie Erfahrung ist. Eine Baumerfahrung ist eine ebenso besondere Art der Erfahrung wie die Kunsterfahrung.
Schon möglich. Ich habe Jörn aber anders verstanden, nämlich so, dass Bilder geschaffen werden um diese Erfahrungen zu machen. Das ist sozusagen ihr "Zweck" und Teil der Definition "Kunstwerk".
Der natürlich gewachsene Baum wurde weder geschaffen (von wem?) noch hat er von Hause aus den Zweck dass irgendwer mit ihm Erfahrungen macht. Der Baum ist auch weiterhin Baum, wenn ihn niemand betrachtet.
Ein Kunstwerk kann es aber - per Definition - gar nicht geben, ohne Künstler und ohne Betrachter.
Man sagt zwar auch manchmal die Natur sei die größte Künstlerin von allen. Aber das ist nur metaphorisch gemeint, solange man hinter der Natur keine Intelligenz vermutet.



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So 30. Aug 2020, 15:39

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Messung (einem Messergebnis) und einer (Be-)Wertung?
Ist der Begriff "Kunstwerk" eine Messung oder eine Bewertung?



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