Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit

Kultur- und Geisteswissenschaften im erweiterten Umfeld der Philosophie
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Alethos
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So 16. Aug 2020, 14:10

Und du stellst dem entgegen, es verhalte sich gegenteilig, d.h. Begriffe seien definitorisch soweit eingegrenzt, dass sie als klar und rein gelten können. Ist das richtig?



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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 14:12

Das ist falsch. Aber wie kommst du nur darauf? Das finde ich rätselhaft.




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Alethos
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So 16. Aug 2020, 14:15

Weil du Begriffe in eine Reihe mit Klarheit, Reinheit und Deutlichkeit gestellt und ihre Feinde, die aus Aversion eine Begriffsklarheit ablehnen, identifiziert hast.



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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 14:42

So etwas in der Art habe ich gar nicht geschrieben. Geschrieben habe ich das folgende:

Ich sehe das so ähnlich wie du [Stefanie]. Der Begriff [unrein] klingt nur für diejenigen gut, die eine Aversion, gegen das Klare und Deutliche, gegen das Reine, gegen Begriffe und was sonst noch in diese Reihe gehört, haben. Sie hören dann hauptsächlich die Gegnerschaft zu diesen Begriffen, aber nicht mehr das was, was du z.b. beschreibst.

Die Kontrastfolie ist offensichtlich in allen Fällen ähnlich. Hier ist es die Reinheit, an anderen Stellen war es das Klare und Deutliche und noch woanders sind es die definiten Begriffe. Dem entgegengestellt wird das Unreine, das Unklare, vielleicht das Brodelnde und die Unbegreiflichkeit. Ziel der Übung ist vereinfacht gesagt ein Zusammenhang zwischen Aby Warburg und Hans Blumenberg vorzubereiten.

Wenn man so verfährt, kann man natürlich keinen Sinn mehr für das haben, was Stefanie eingewendet hat. Das Unreine ist dann halt schon deshalb positiv, weil es sich gegen das Reine und somit "indirekt" auch gegen das Klare und Begriffliche wendet.

"Bekanntlich hat Aby Warburg seinen berühmten Bilderatlas Mnemosyne genannt. Es ist die Summe dessen, was Warburg über das "bewegte Beiwerk", den "Pathosformeln" bis hin zum "Nachleben" an kunst- und kulturgeschichtlichen Überlegungen entwickelt hat und was entgegen der Tradition von Vasari und Winckelmann die Zeit als "unreine" und nicht in ihrem linearen Verlauf als Abfolge von Epochen und Kunststilen denkt." [von mir hervorgehoben]

Mit Nicolas Pethes z.b. kann man statt "entgegen" auch "auch" schreiben:

Warburg zufolge sind Werke der bildenden Kunst nicht nur hinsichtlich ihrer jeweils epochenspezifischen Stileigentümlichkeiten oder als geniale Spitzenleistungen zu betrachten, sondern auch als ein Aufbewahrungsspeicher für intensive Erlebnisse und affektive Ausdrucksformen des Menschen." ... "Historisch wird diese Kunstgeschichte aber nach wie vor betrachtet, insofern Warburg für die unterschiedlichen Epochen unterschiedliche Ausformungen der Pathosformeln identifiziert."




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Alethos
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So 16. Aug 2020, 14:55

Danke für deine korrigierenden Ausführungen. Aber du führst ein Argument gegen das Unbegriffliche, hier repräsentiert durch das Unreine, oder nicht?

Stefanies Deutung des Unreinen kann einfach deshalb nicht aufgenommen werden, weil sie auf den hier angewendeten Verwendungszweck von "rein" nicht zutrifft - nicht etwa aus Voreingenommenheit für den blumenbergschen Unbegrifflichkeitsterm.



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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 14:59

Wir sind nicht nur Haut, Fleisch und Knochen. Neben anderem sind wir auch die Geschichten, die wir uns selbst über uns erzählen. Geschichten bestimmen Identitäten. Für Einzelne ebenso wie für Gruppen. Zu diesen Geschichten gehört das Erinnern ebenso sehr wie das Vergessen und natürlich auch das Verdrängen.

Bild

Gleich zu Beginn kommen zwar die neun Musen vor, aber Platz für die Guerilla Girls und deren Dunkles, Geheimnisvolles, Unverfügbares ist nicht. Der Thread bestimmt sich aus einer gewissen Opposition heraus, das Reine gegen das Unreine, und deswegen schlage ich vor, hier einmal eine weitere Opposition ins Spiel zu bringen - gegen das Gemütliche.




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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 15:02

Alethos hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 14:55
Aber du führst ein Argument gegen das Unbegriffliche, hier repräsentiert durch das Unreine, oder nicht?
Ich führe eigentlich kein Argument gegen das Unbegriffliche, ich habe nur etwas zu Stefanies Einwänden gesagt und sie in einen Zusammenhang gesetzt, der mir wichtig schien.




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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 15:23

Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 19:51
Es ging um die Kunst, aber vorallem um die Geistesgeschichte der Kunst.
Das ist im Prinzip mein zentraler Punkt: das Bild, das hier von der Geistesgeschichte der Kunst gezeichnet wird, das lehne ich vollständig ab. Es ist entgegen den eigenen Bekundungen verknöchert und rückwärtsgewandt. Es hat vor allem offensichtlich keinerlei Kontakt zu Gegenwart und keinen Sinn für die eigenen blinden Flecke.




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Alethos
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So 16. Aug 2020, 15:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 15:23
Alethos hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 19:51
Es ging um die Kunst, aber vorallem um die Geistesgeschichte der Kunst.
Das ist im Prinzip mein zentraler Punkt: das Bild, das hier von der Geistesgeschichte der Kunst gezeichnet wird, das lehne ich vollständig ab. Es ist entgegen den eigenen Bekundungen verknöchert und rückwärtsgewandt. Es hat vor allem offensichtlich keinerlei Kontakt zu Gegenwart und keinen Sinn für die eigenen blinden Flecke.
Kannst du das nochmals am Beispiel der Guerilla-Girls etwas genauer ausformulieren? Was ist verknöchert an diesem Bild?



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Nauplios
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So 16. Aug 2020, 16:14

Hallo Jovis,

"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit." - ;) Ich erinnere mich an eine Streiterin für Aufklärung und Vernunft und ohne Hang zum Jakobinertum - gelegentlich im Tandem mit "Dreamweaver" ;) ... an "Das weite Feld der Vernunft" ... an einen Lektürekreis zur Kritik der Urteilskraft ... an die "Transversale Vernunft" ... Ich freu´ mich, Dich zu lesen. -




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NaWennDuMeinst
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So 16. Aug 2020, 16:28

Irgendwas läuft doch hier richtig schief. Diese unterschwellige Unfreundlichkeit stösst mich echt ab, und das soll sie wohl auch.
Noli turbare circulos meos!
Sicher doch. Man will ja den Grübeleien von weltbewegender Wichtigkeit nicht im Weg stehen.
Ich lass dann mal Archimedes weiter seine Kreise zeichnen.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 16:45

Alethos hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 15:31
Was ist verknöchert an diesem Bild?
Die Geschichte des Geistes endet nicht irgendwo. Wenn es um den lebendigen Geist geht, dann spüren wir seinen Atem heute. Ich lese gerade einen Autor, der verbindet mit spielender Leichtigkeit Bemerkungen von Sokrates und Nietzsche mit einer Kritik der Arbeiten von Neo Rauch. Wenn Aby Warburg tatsächlich eine Ikonographie des lebendigen Ausdrucks der Gefühle gefunden hat, dann müsste uns das auch noch heute berühren können. Vielleicht kann es das, aber das finden wir nicht heraus, wenn die Betrachtung den Schritt in die Gegenwart nicht wagt. (In der Ausstellung zu Aby Warburg im ZKM, haben zeitgenössische Künstler das übrigens versucht.) Die Kunst wird hier stattdessen immer nur aus einer sicheren Distanz heraus betrachtet. Und das in einer Sprache, die die anderen immer auf Abstand halten will. Unter die Haut gehen darf nichts, behaupten darf man das hier doch jederzeit.

Außerdem ist in der Gegenwart natürlich alles in Bewegung, heute mehr denn je. Die Guerilla Girls sind ja selbst schon Klassiker. Vieles in der Geschichte wird neu bewertet, alten Erzählungen wird nicht mehr getraut, alles wird hinterfragt. Dort wo es tatsächlich pulsiert und brodelt, wird der Fuß nicht hingesetzt...




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Alethos
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So 16. Aug 2020, 17:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 16:45
Alethos hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 15:31
Was ist verknöchert an diesem Bild?
Die Kunst wird hier stattdessen immer nur aus einer sicheren Distanz heraus betrachtet.
Die Betrachtungen gehen tatsächlich weit zurück und es würde, beliesse man es bei diesem Blick in die Vergangenheit, der Eindruck entstehen können, dass sie nicht in die Gegenwart reichen. Was die Distanz angeht, halte ich sie für eine produktive. Produktiv, weil nicht wir und unsere Gegenwart betroffen sind, sondern eine gewesene Gegenwart Gegenstand ist, deren Folgen und Werdungen wir aus diesem Blickwinkel besser überschauen können.

Ich gehe jedenfalls nicht davon aus, dass die Geistesgeschichte der Kunst nicht die kontroverseren Diskussionen umfasst, die wir heute führen.



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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 17:29

Alethos hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 17:14
weil nicht wir und unsere Gegenwart betroffen sind
Wiki hat geschrieben : Pathosformel ist ein von dem Kulturhistoriker Aby M. Warburg geprägter kunstgeschichtlicher Begriff. Man versteht darunter die Darstellung formelhafter Gestik und Mimik des Gefühlsausdrucks, denen eine universale Gültigkeit unterstellt wird.
(Ernst Cassirer; Gesammelte Werke, Bd. 17; S. 370) hat geschrieben : "Denn sein [Warburgs] Blick ruhte nicht in erster Linie auf den Werken der Kunst, sondern er fühlte und sah hinter den Werken die großen gestaltenden Energien. Und diese Energien waren ihm selbst nichts anderes als die ewigen Ausdrucksformen menschlichen Seins, ..."
Wenn es wirklich um ewige Ausdrucksformen mit universaler Gültigkeit geht, dann sind wir und unsere Gegenwart betroffen. Aby Warburg hat sich selbst nicht geniert z.b. Druckerzeugnisse seiner Gegenwart aus der Werbung zu zeigen. (Sieht man sehr schön in den beiden YouTube-Videos.)




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Jovis
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So 16. Aug 2020, 19:09

Nauplios hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 16:14
Hallo Jovis,

"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit." - ;) Ich erinnere mich an eine Streiterin für Aufklärung und Vernunft und ohne Hang zum Jakobinertum - gelegentlich im Tandem mit "Dreamweaver" ;) ... an "Das weite Feld der Vernunft" ... an einen Lektürekreis zur Kritik der Urteilskraft ... an die "Transversale Vernunft" ... Ich freu´ mich, Dich zu lesen. -
Hallo Nauplios,

danke für den netten Gruß. Schön, hier so viele der alten Kämpen und Kämpinnen wieder zu treffen.




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Nauplios
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So 16. Aug 2020, 19:19

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 16:28
Irgendwas läuft doch hier richtig schief. Diese unterschwellige Unfreundlichkeit stösst mich echt ab, und das soll sie wohl auch.
Noli turbare circulos meos!
Sicher doch. Man will ja den Grübeleien von weltbewegender Wichtigkeit nicht im Weg stehen.
Ich lass dann mal Archimedes weiter seine Kreise zeichnen.
Meinerseits gibt es Dir gegenüber nichts, was unterhalb oder oberhalb einer Schwelle von Unfreundlichkeit zur Mitteilung drängen würde, NaWennDuMeinst. Du hast ja geschrieben, daß Du diesem Thread wohlwollend begegnest. Ich bin darauf nicht weiter eingegangen, weil zum einen mit dieser Feststellung unser Mißverständnis ausgeräumt war und zum anderen auch, weil ich ohnehin mit dem Thema der Reinheit der Zeit zum Ende gekommen bin. Eigentlich versuche ich mich mit den "Heterotopien" im Proust-Thread bereits an einer Verunreinigung des Raums. ;)

Anlaß für diesen Thread war die Dissertation Warburgs über Botticelli, die ich mir Anfang August vorgenommen hatte und zu der ich ein wenig Begleitmaterial (u.a. Deleuze, Didi-Huberman) hinzugezogen hatte. Auf Warburg bin ich im Zusammenhang mit den drei Biographien zu Hans Blumenberg gestoßen. Blumenberg erwähnt zwar gelegentlich Warburg, etwa seine "Pathosformeln", aber ein zentrales Denkgestirn ist er in seinen Schriften nicht. Das ist eigentlich erstaunlich, denn sowohl Zill als auch Goldstein kommen darauf zu sprechen, weil sowohl Warburg als auch Blumenberg arbeiten mit Verweisungsstrukturen, die Entlegenes aufeinander beziehen. Bei Blumenberg ist das die Folge seines Zettelkasten-Prinzips, das solche Verweisungen fördert und bei Warbung ist es ebenfalls das Interesse, sein berühmtes "Nachleben" bis in die Alltagsgegenstände zu dokumentieren. Warburgs Schriften, die recht verstreut waren, liegen seit einiger Zeit in Werke in einem Band vor; darin abgedruckt ist auch seine Dissertation.

Warburg bezieht sich desöfteren auf Nietzsches zweiter unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und auf Nietzsches Lebensbegriff. Nietzsche wiederum greift auf Jacob Burckhardt zurück, so daß sich hier eine (lockere) Traditionslinie bis hin zu Jacob Bernays ziehen läßt, der in der deutschen Altertumswissenschaft einer der ersten ist, der den berühmten "Pessimismus" der Griechen, der ja dann für Nietzsche von zentraler Bedeutung in der Tragödienschrift wird, herausgearbeitet hat. Didi-Huberman ist dieser Verbindung von Burckhardt-Nietzsche-Warburg in seiner Studie Das Nachleben der Bilder. ausführlich nachgegangen. Das erste Kapitel trägt den Titel "Das Nachleben der Formen und die Unreinheit der Zeit". - Stellvertretend für viele Stellen:

"Die ˋEntwicklung des Individuums´ trägt also in sich die Entwicklung ihrer Symptome, ihrer Pervertierung, ihrer negativen Seiten. Welchen Schluß sollen wir aus dieser These ziehen? Eine moralische Sichtweise wird hier von ˋVerfall´ sprechen, und dies im Rahmen einer ˋReinheit´, von der man nicht recht weiß, ob man sie wie Winckelmann an der Schwelle zum ˋgriechischen Wunder´ verorten soll. Eine strukturelle Sichtweise wird dagegen begreifen, daß die Zeit - jede Zeit, die der Antike geradeso wie die der Renaissance - unrein ist. Auf der Grundlage solch einer Interpretation konnte Warburg seine Arbeit beginnen und dabei nutzen, was in Burckhardts Analysen die Konstruktion eines einschneidenden Begriffs der Unreinheit der Zeit ermöglichte und damit letztlich die Konstruktion einer theoretischen Grundlage für das ˋNachleben´." (Georges Didi-Huberman; Das Nachleben der Bilder, S. 88) -

Die FAZ hat Hubermans Nachleben der Bilder 2010 eine Rezension gewidmet; darin heißt es:

Didi-Huberman: "Die ,Kunstgeschichte' erzählt zum Beispiel, dass in der Renaissance aufgrund des Triumphs des Individuums und der Fortschritte in den Nachahmungstechniken ein Bildgenre namens ,Porträt' aufkam. Warburgs ,Kulturwissenschaft' erzählt dagegen eine andere Geschichte, gemäß der sehr viel komplexeren Zeit einer Kreuzung - einer Verschränkung [. . .] - der antiken und heidnischen Magie (im Sinne eines Nachlebens der römischen imago), der mittelalterlich-christlichen Liturgie (der Praxis der Votivbildnisse in Gestalt von Wachsbüsten) sowie der künstlerischen und geistigen Gegebenheiten des Quattrocento. Damit verwandelt das Porträt sich vor unseren Augen und wird zur anthropologischen Grundlage einer ,mythenbildenden Kraft' . . ." Man begreift, warum Nachleben für Didi-Huberman eine "Unreinheit" ist.

Was sich aber nun im Prozess von Kontinuität und Wandel, von Latenz und Sprung durchsetzt, ist für Warburg wörtlich verstanden eine "Lebensfrage", ist das Leben in "vitaler, heftiger, explosiver, dionysischer" Gestalt, mit Nietzsche der tragische Überschwang des Lebens - das heißt dann Pathosformel. Im Grunde ganz einfach: Der vordringlichste Ausdruck des Lebens, die Bewegung, bewegt die Mnemosyne, die Erinnerung, Warburgs Hausgöttin. Der Warburg-Forschung ist diese Denkbewegung nicht entgangen, aber selten wurde sie im Namen und im Stil ihres Urhebers so "anstachelnd", so energisch und energetisch dargestellt.


"Der Prozeß von Kontinuität und Wandel, von Latenz und Sprung durchsetzt, ist für Warburg wörtlich verstanden eine ˋLebensfrage´, ist das Leben in ˋvitaler, heftiger, explosiver, dionysischer´ Gestalt, mit Nietzsche der tragische Überschwang des Lebens." -

FAZ: "Latenz" (ich: "dunkel")
FAZ: "explosiv" (ich: "gärend")
FAZ: "vital, heftig" (ich: "brodelnd")

Das ist Nietzsches Lebensbegriff, das Leben als "dionysisches" Geschehen.

Weder Warburg, noch Didi-Huberman wollen die Zeit reinigen. (Ich übrigens auch nicht.) Ganz im Gegenteil. Die "Unreinheit der Zeit" von der Didi-Huberman schreibt, ermöglicht einen anderen Blick (Antike >< Moderne, Werbung, Alltagsgegenstände, s. die obigen YouTube-Videos) auf die Kunstgeschichte, einen Blick, der sich absetzt von dem auf Vasari/Winckelmann zurückgehenden Verständnis der Kunstgeschichte als bloße Epochengeschichte (s. ebenfalls die YouTube-Videos) -

Stefanie schreibt: "Was Nauplios beschreibt/zitiert, ist eine Einladung zur Geschichtsvergessenheit." Geschichtsvergessenheit ist ein Terminus aus dem Umgang mit der Erinnerungskultur, speziell des Gedenkens an die Verbrechen des Nationalsozialismus. "Die Zeit muß gründlich von Erinnerungen gereinigt werden und dann gegen Erinnerungen imprägniert werden, damit sie rein bleibt." (Stefanie) - Nein, im Gegenteil. "Die Unreinheit der Zeit besteht in ihrer Imprägnierung mit der Gegenwärtigkeit des Vergangenen." (Nauplios) - Es geht darum, das Vergangene gegenwärtig zu halten. Und das wendet sich gegen die Vorstellung isolierter Zeitpunkte, die keinen Zusammenhang miteinander haben. Ich hatte Husserls "Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" angesprochen: eine Gegenwart ist nicht allein das aktuelle, sich im Jetzt vollziehende Erlebnis. Unterhalb dieses Jetzt liegt die Schicht der Retentionen. Husserl macht das am Beispiel einer Melodie klar. Wenn wir eine Tonfolge hören, dann hören wir die einzelnen Töne von Jetztpunkt zu Jetztpunkt. Wäre das alles, könnten wir nie eine Melodie hören, die sich ja in der Zeit ausdehnt, über die einzelnen Jetztpunkte hinweg, eben ins Vergangene. Das Vergangene ist nicht vergangen. Es ragt gleichsam in die Gegenwart hinein. Nichts anderes meint die "Unreinheit der Zeit". Unterhalb der aktuellen Gegenwart liegen die Tiefenschichten der Vergangenheit. "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit" (Thomas Mann). Es gibt nicht die reinen (!) Jetztpunkte, individuell/kollektiv (auf die Untersuchungen von Aleida Assmann habe ich hingewiesen). Es gibt nur Jetztpunkte, Gegenwarten, die unter sich das Vergangene haben. Nicht die "reinen" Zeitpunkte (des JETZT gerade Geschehens) machen die Zeit aus, sondern durch Formen der Erinnerung, des Gedächtnisses ragt die Vergangenheit hinein. DAS meint "Unreinheit" der Zeit. - Es ist also genau UMGEKEHRT: Ich lade nicht zur "Geschichtsvergessenheit" ein, sondern rate dringend von ihr ab. - Ich will keine Zeit reinigen, ich will die Phänomenologie der Zeit verstehen. -

"Reinheit" findet sich übrigens als selbständiger Eintrag im Wörterbuch der philosophischen Metaphern!

Was sich, sofern von "Reinheit" die Rede ist und von "Geschichtsvergessenheit" natürlich anbietet: einen Assoziationsspielraum zu eröffnen, der von der "Vernichtung der Juden" bin hin zum Gauland´schen "Vogelschiss" die Unreinheit der Zeit (i. o. Sinne) ins "rechte" Licht rückt. -

http://www.dasjuedischehamburg.de (Man gehe einmal auf diese Seite und gebe dort die Namen ein: Warburg, Cassirer, Bernays, Fritz Saxl, Gertrude Bing!)

Aby Warburg gibt die Selbstauskunft: "Jude von Geburt, Hamburger im Herzen, im Geiste ein Florentiner." -

"Unterschwellige Unfreundlichkeit" (NaWennDuMeinst) - Vor mir liegt die Wochenend-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung. Seite 1: "Die neuen Tugendwächter". Darin heißt es:

"Die Wahrheit ist nie absolut, sie ist immer historisch. Sie ist abhängig von ihrer Zeit, von religiösen und politischen Ansichten. Wenn eine Gesellschaft nur noch eine Wahrheit zuläßt, dann mündet dies wie im 16. und 17. Jahrhundert in Konfessionskriege. Daher muß sich jede Gesellschaft entscheiden, ob sie in Wahrheit oder in Frieden leben will." - Der Gedanke von der "Unreinheit der Zeit" muß nicht wahr sein. Er kann falsch sein. Gombrich und Panofsky haben Warburgs Ansichten nicht geteilt. Hans Blumenberg sprach vom "Rigorismus der Wahrheit". Auch das kann man verwerfen. - Ich möchte Dich bitten, Stefanie, zu überlegen, ob Du auch nach diesen Erläuterungen bei Deiner These von der "Einladung zur Geschichtsvergessenheit" bleiben möchtest. -




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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 19:46

Nauplios hat geschrieben :
So 16. Aug 2020, 19:19
"Die Wahrheit ist nie absolut, sie ist immer historisch. Sie ist abhängig von ihrer Zeit, von religiösen und politischen Ansichten."
Na, wenn das in der NZZ steht, dann muss es ja wohl wahr sein.




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Stefanie
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So 16. Aug 2020, 20:06

Und wieder Widerspruch.

Ich habe meinen Antworten extra so versucht zu formulieren, dass Du eine Position beschreibst und nicht Dir zugeschrieben, was Du beschrieben hast.
Du hast Dir die Freiheit gekommen, dies zu machen,
FAZ: "Latenz" (ich: "dunkel")
FAZ: "explosiv" (ich: "gärend")
FAZ: "vital, heftig" (ich: "brodelnd"),

Ich habe mir die Freiheit gekommen, den Vorgang des Imprägnieren auszudehnen, und zwar darauf,das Erinnerungen wie ein heutiges Imprägniermittel die Zeit und die Geschichte davor schützen, sie zu verdrehen und umzudeuten.

Natürlich geht es darum, die Vergangenheit zu bewahren, Erinnerungen zu bewahren usw.
Dieser eine Beitrag von Dir, so wie er die Position beschreibt, ist eine Einladung, gerade das nicht zu tun.
Das liegt auch an der Verwendung von rein und unrein. Denn damit werden auch Erinnerungen unrein, egal welche rhetorischen Mittel angewendet werden (die lediglich linearen Punkte der Geschichte sind rein, deshalb die andere Ansicht unrein), um genau das, um das es geht, also das positive und wichtige, als unrein zu bezeichnen.
Dieses Paar unrein rein ist hier fehl am Platz. Ich glaube bei allen philosophischen Fachbegriffen, die vom alltäglichen Sprachgebrauch abweichen, ist dies diejenige, die einfach nicht passt und es auch nicht wird.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Nauplios
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So 16. Aug 2020, 22:12

Die "Position", die ich beschrieben habe, ist aus den Quellen geschöpft, die ich oben aufgelistet habe, u.a. die Dissertation von Warburg. Und der Jude Warburg lädt ein zur "Geschichtsvergessenheit"? - ;) - und der Jude Ernst Cassirer, dem 1933 in Hamburg von den Nazis der Lehrstuhl entzogen wurde, leistet dabei die philosophisch-theoretische Hilfestellung? - Und Gertrud Bing (Tochter eines jüdischen Kaufmanns) und Fritz Saxl, der 1939 im Exil britischer Staatsbürger wurde - beide retteten die Warburg Bibliothek vor den Nazis und brachten sie nach London ...

"Bilder trotz allem" ist ein Buch des hier schon erwähnten Georges Didi-Huberman. Es geht um vier Photos, die im August 1944 von Häftlingen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau aufgenommen wurden.

Zwei der Fotos sind durch die offen stehende Tür einer Gaskammer aufgenommen und zeigen Häftlinge des Sonderkommandos beim Verbrennen von Leichen. Ein weiteres Foto zeigt eine Gruppe entkleideter Frauen, die kurz danach in die Gaskammern geführt wurden. Das vierte Foto zeigt einen verschwommenen Blick in einige Baumwipfel.

Und ausgerechnet diesem Autor, der in seiner Studie zu Warburg von der "Unreinheit der Zeit" schreibt, wirfst Du Geschichtsvergessenheit vor?

Die Fragen sind rhetorisch gemeint. Eine Antwort wird ausdrücklich nicht erwartet.




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Stefanie
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So 16. Aug 2020, 22:22

Ich weiß um die Lebensgeschichte.

Und wenn Du richtig gelesen hättest, wie den letzten Beitrag, schrieb ich, es ist eine Einladung, es für dafür zu verwenden.
Leg mir keine Worte in den Mund, die ich nicht geschrieben habe.
Und "unreine Zeit " werde ich nicht verwenden, es widerstrebt mir. Geschichte und Erinnerungen sind nicht unrein.



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