Das Schöne in der Musik

Hier hast du die Möglichkeit, Musik deiner Wahl vorzustellen.
Timberlake
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Sa 13. Jul 2024, 12:23

Quk hat geschrieben :
Fr 12. Jul 2024, 22:24
Hier ist mal ein ziemlich minimalistisches Stück von Bowie (und Brian Eno). Erst am Ende beginnt er zu singen, und er singt sehr gerade; manchmal blendet das Gerade in ein sanftes Vibrato über, aber sehr zurückhaltend. Vielleicht kennst Du das Stück, es heißt Warszawa, also Warschau, aufgenommen zu Zeiten des Eisernen Vorhangs und des Kalten Kriegs, aber für mich ist das eine klangmalerische Interpretation der Wärme einer afrikanischen Savanne beim Sonnenuntergang. Er singt da eine Fantasie-Sprache, die auch eher zentral-afrikanisch als polnisch klingt ...

Dazu und zwar zentral-afrikanisch klingend nur mal zum Vergleich ...



Wenngleich ich den Krieg im Süden Sudans und damit das Elend und die Grausamkeit in Dafur sehr viel ´´schöner" mit den ziemlich minimalistisches Stück von Bowie (und Brian Eno) wiedergegeben finde. Andererseits wiederum "das Schöne in der Musik" von Matafix den Menschen vor Ort , zumindest in diesem Moment , dieses Elend und diese Grausamkeit anscheinend vergessen lassen lässt und nicht zu vergessen der Text, jenseits jener Bowies Fantasie-Sprache ..
  • Living Darfur

    Seht das Volk durch die Augen seiner Menschen
    Seht die Tränen, die wie Ströme vom Himmel fließen,
    dort, wo scheinbar nur Grenzlinien verlaufen.
    Dort, wo sich andere wegdrehen und nur seufzen,
    sollt ihr euch erheben!


    In Eurer Vergangenheit gibt es Unheil,
    Euer Weg stößt auf Grenzen.
    Was soll euch aus diesem Elend befreien?
    Ihr müsst gar nichts so Außergewöhnliches leisten, einfach nur vergeben.
    Auch denen, die eure Hilferufe nie gehört haben.
    Ihr sollt Euch erheben und zum Himmel blicken!
    Wo andere scheitern, werdet Ihr am Ende siegen.

    Erhebt euch!

    Ihr werdet es vielleicht nie erfahren, wenn ihr euch hängen lasst,
    wenn ihr am Boden bleibt.


    Also erhebt euch!

    Früher oder später müssen wir versuchen...zu leben.





Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 13. Jul 2024, 11:15
Ich gestehe, daß ich mit dieser Musik nicht viel anfangen kann.
Kannst du denn "als solches" mit dieser Musik etwas anfangen? Wie dem auch sei , zumindest mir macht dieses Schöne in der Musik von Living Darfur , in der Kombination mit den Bildern , gelegentlich noch immer eine Gänsehaut. Wohingehend mich die Musik von Warszawa völlig unberührt lässt. Womöglich eben wegen der fehlenden Bilder...





Wolfgang Endemann
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Sa 13. Jul 2024, 14:24

Ich weiß nicht, was der semantische Gehalt von Warszawa ist, ist es die Erinnerung an das Ghetto oder der Kommentar zum Kalten Krieg? Ersteres würde besser passen, aber auch nicht wirklich überzeugend. Es sei denn, man erkennt Formeln des liturgischen Gesangs in der Monodie.
In Living Darfur teilt sich die Sehnsuchts- und Mutmacher-Musik auch ohne Bilder mit, was ein Moment der Schönheit ist. Falls es eine Parallele zu Bowie gibt, dann die bittere Klage über ein himmelschreiendes Elend; das aber höre ich nicht (das kann an mir liegen).
Ich habe aber ein ungeheuer eindrucksvolles Beispiel aus der klassischen Musik, Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau". Da wird das Grauen vertont, der Überlebende erzählt die Geschichte, und im Moment der größten Verzweiflung beginnt die Schicksalsgemeinschaft zu singen, mitreißend, Gänsehauteffekt garantiert. Ein trotz allem versöhnender Schmerz. Die Katharsis durch Kunst.




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Quk
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Sa 13. Jul 2024, 15:10

Bowie war nie politisch. Das sieht man in seinen Texten und er sagt das auch selbst immer wieder in Interviews.

Auf dem Album "Low" auf der B-Seite haben alle Stücke diesen experimentellen, betont instrumental-klangmalerischen Charakter. Sie sind eher Zustände als Geschichten.

"Low" war ein Einschnitt im Leben Bowies. In den Jahren davor, nach Ziggy, hatte er seine "Soul"-Periode, lebte im sonnigen Los Angeles, extravertiert, kokste viel, und began zu versumpfen. Da wollte er raus und suchte eine total gegenteilige Umgebung: Er zog nach West-Berlin. 1976. Dort isolierte er sich, wie die Stadt. Er mauerte sich ein. Völlig introvertiert. Er suchte eine neue musikalische Sprache. Dabei half ihm Brian Eno. Eine Idee, zum Beispiel, war, melodische Phrasen in rhythmische umzuwandeln, und umgekehrt. Nebenbei fällt auf: Im Gegensatz zur B-Seite sind auf der A-Seite ausschließlich rhythmisch-betonte Stücke. Produzent Tony Visconti hatte die Idee (eine von vielen), den Snare-Sound durch einen Harmonizer zu schicken, und diesen so einzustellen, dass der Snare-Sound etwas tiefer tönt, und dieses Tiefere wiederum in den Harmonizer geführt wird, wobei eine noch tiefere Snare herauskommt, und diese abermals wieder in den Input kommt und so weiter; so entsteht ein ultraschnelles, nach unten gehendes Arpeggio, und das mit einem Schlag-Instrument. Das Arpeggio selbst ist zu schnell, um einzelne Arpeggio-Töne hören zu können. Das Arpeggio ist letztendlich ein Glissando. Die Snare, das Rhythmus-Instrument, wird zum Melodie-Instrument. Das ist jetzt nur ein kleines Beispiel, um was für Gedankengänge es damals im Studio ging. Bowie suchte eine neue musikalische Sprache, er vertauschte alte Routinen, und hat mit allerlei Kombinationen experimentiert. Die Isolation Berlins war eher "seelisch" inspirierend, nicht politisch. Ich habe mir die Platte sofort nach ihrem Erscheinen Anfang 1977 (da war ich 13) gekauft, ohne sie vorher anzuhören; ich erwartete so einen Sound wie auf "Station To Station". Nun denn, Seite A enttäuschte mich zunächst. -- Seite B hypnotisierte mich unverzüglich. Vielleicht beeinflusst dieses Erlebnis damals als schlichtdenkender Teenie meine heutige Empfindung dieses Werks. Mag sein, dass, wenn ich Warszawa heute zum ersten Mal hören würde, es vorschnell ablehnen und als langweilig bezeichnen würde. Ich weiß es nicht. Meine innerste Wellenlänge ist jedenfalls nach wie vor introvertierter Art, mit viel malerischer Fantasie. Mathematische Zusammenhänge in der Musik beeindrucken mich zum Beispiel nicht. Es gibt Sprachregeln; ich verwende sie, um Gefühle zu malen. Die Untersuchung der Sprachregeln selbst ist für mich ein rein sachliches Unterfangen und als solches bisweilen interessant, aber sie berühren mich nicht. Musik muss mich berühren. Gemälde berühren mich. Leinöl berührt mich nicht.




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Jörn Budesheim
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Sa 13. Jul 2024, 15:47

Quk hat geschrieben :
Sa 13. Jul 2024, 15:10
Bowie war nie politisch. Das sieht man in seinen Texten und er sagt das auch selbst immer wieder in Interviews.
War Bowie nicht schon aufgrund seiner Erscheinung eine politische Figur? Das ist natürlich etwas offtopic.




Timberlake
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Sa 13. Jul 2024, 16:25

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 13. Jul 2024, 14:24
Ich weiß nicht, was der semantische Gehalt von Warszawa ist, ist es die Erinnerung an das Ghetto oder der Kommentar zum Kalten Krieg? Ersteres würde besser passen, aber auch nicht wirklich überzeugend. Es sei denn, man erkennt Formeln des liturgischen Gesangs in der Monodie.
In Living Darfur teilt sich die Sehnsuchts- und Mutmacher-Musik auch ohne Bilder mit, was ein Moment der Schönheit ist. Falls es eine Parallele zu Bowie gibt, dann die bittere Klage über ein himmelschreiendes Elend; das aber höre ich nicht (das kann an mir liegen).
Ich habe aber ein ungeheuer eindrucksvolles Beispiel aus der klassischen Musik, Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau". Da wird das Grauen vertont, der Überlebende erzählt die Geschichte, und im Moment der größten Verzweiflung beginnt die Schicksalsgemeinschaft zu singen, mitreißend, Gänsehauteffekt garantiert. Ein trotz allem versöhnender Schmerz. Die Katharsis durch Kunst.

"mitreißend, Gänsehauteffekt garantiert" . bei mir leider nicht (das kann an mir liegen) . Wo hier schon mal von David Bowie die Rede ist ...




.. da ist bei mir eine Gänsehaut garantiert. Allerdings "schön" , wie bei Living Darfur von Mattafix ist das nicht. Um die Stimmung hier nicht gänzlich ins Alptraumhafte kippen zu lassen, dazu nur mal zum Vergleich ..


Quk hat geschrieben :
Sa 13. Jul 2024, 15:10
Musik muss mich berühren. Gemälde berühren mich. Leinöl berührt mich nicht.
ich ergänze .. sowohl im Bösen und Negativen , wie auch im Guten und Positiven und den unzähligen Facetten da zwischen. Wovon man beim Leinöl sicherlich nicht ausgehen kann.




Wolfgang Endemann
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Sa 13. Jul 2024, 18:19

Im Unterschied zu Warszawa gefällt mir dieses Lied, und ich möchte es auch begründen.
Bowie ist, mehr als ein Musiker, ein Show-Mensch, er schlüpft in Rollen, hier die des Lazarus; man weiß nie, ob er es ernst meint oder nur spielt, meistens wird man mit letzterer Annahme richtig liegen. Aber das ist auch egal, tatsächlich geht es in der Kunst nicht um den Künstler, sondern um die Kunst. In diesem Lied darf man ihn ernst nehmen, das belegt die Selbstauskunft über seine New Yorker Zeit.
Das Lied steht in Moll und rutscht ständig in die Dur-Parallele. Aber die New Yorker Zeit wird in auftrumpfendem Dur beschrieben, da ist er nicht Lazarus, dann kommt die Echtzeit zurück und er vergleicht sich mit einem bunten Vogel - und er ist frei wie ein Vogel (vogelfrei), imaginierend die Erlösung, die Lazarus verdient hat.
Vielleicht ist das überinterpretiert, aber es würde der Stimmung des Lieds entsprechen, eine resignierte Ergebenheit, die von der Identifikation mit einem Vogel getröstet wird.
Doch, das ist durchaus Gänsehaut, aber sehr schön. Das zu dick aufgetragene Positive stößt mich dagegen eher ab ("überorchestriert"), zumindest würde ich ein anderes Beispiel als "Stay!" nehmen. Das Positive sollte man nicht dekretieren, und es auch gar nicht erst versuchen.
Musik (Kunst) muß einem berühren, da sind wir uns sicher einig.




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Quk
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Sa 13. Jul 2024, 18:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 13. Jul 2024, 15:47
Quk hat geschrieben :
Sa 13. Jul 2024, 15:10
Bowie war nie politisch. Das sieht man in seinen Texten und er sagt das auch selbst immer wieder in Interviews.
War Bowie nicht schon aufgrund seiner Erscheinung eine politische Figur?
Ja, sicher, so gesehen war er politisch, vor allem was die Freiheit sexueller Mischungen angeht. Ich meinte das anders; er sang keine politischen Protestlieder, wie es Bob Dylan oder John Lennon tat. Lennon war konkreter und hat deutlich seine sozialistischen und humanistischen Visionen ausgerufen. Er war mit Bowie befreundet; da gibts diesen berühmten Satz von Lennon, den er Anfang der 70er zu Bowie sagte: "Glamrock ist nichts anderes als Rock'n'Roll mit Lippenstift drauf." Lennon machte auch Rock'n'Roll, aber halt ohne Lippenstift. Bowie befasste sich mit seiner eigenen Psyche. Das meine ich mit "unpolitisch" in diesem Kontext.

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 13. Jul 2024, 18:19
Das Lied steht in Moll und rutscht ständig in die Dur-Parallele. Aber die New Yorker Zeit wird in auftrumpfendem Dur beschrieben, da ist er nicht Lazarus, dann kommt die Echtzeit zurück und er vergleicht sich mit einem bunten Vogel - und er ist frei wie ein Vogel (vogelfrei), imaginierend die Erlösung, die Lazarus verdient hat.
Während Bowie diese letzten Sachen kreierte, litt er an Krebs im Endstadium. Drei Wochen nach der Veröffentlichung der "Lazarus"-Single starb er.




Wolfgang Endemann
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Di 16. Jul 2024, 19:52

Nach den oft durchaus schönen dunklen Stimmen zurück zur Sommerzeit, seiner Helle. Auch die kann atemberaubend sein, sogar gefährlich. Ich greife noch einmal zum Album Helium des tin hat trios und dem Song Helium, sowie der raffinierten Helium Reprise, mit der im traditionellen Sinn so wenig schönen und doch so ergreifenden, wahrhaftigen Stimme von Tom Waits:



Welch ein Meisterwerk, die Ewigkeit in ein paar Minuten gesteckt. Ich könnte sehr viel darüber schreiben. Ich begnüge mich mit dem faszinierendsten Aspekt. Dazu muß man sich die Basslinie der Gitarre merken, sie entpuppt sich als ein durchgehendes Ostinato. Jedes Strophenlied ist ja als repetierte Melodie selbst schon ein Ostinato, in der Regel, ohne daß dieser Charakter dominant hervortritt, im Gegenteil wird die Melodie meist der rhythmischen Struktur entgegengesetzt, und die Melodie ist auch meist zu lang für eine Ostinatowirkung. Das ist auch hier der Fall, aber die Melodie löst sich allmählich in ihre konstitutiven Motivteile auf. Damit ist jedoch die kritische Kürze/Länge erreicht, um als Ostinato zu wirken. So fügen sich die melodischen Kurzphrasen der Violine zu einer relativ unmerklichen Ostinatomelodie zusammen (zerfasern allerdings sofort wieder, übrig bleiben Motivbruchstücke, die auf die Begleitmusiker reagieren). Was sich da noch unmerklich zusammenbraut, wird bei 3:43 explizit, wenn sich das Akkordeon auf ein zweites kontrapunktisches Ostinato versteift, dieses Ostinato setzt tatsächlich schon bei 3:19 ein, aber fast unhörbar. So krallen sich ab 3:43 drei Stimmen zu einer Endlosschleife zusammen, die hypnotisch die Zeit aufhebt.

Die Reprise geht das Stück etwas langsamer an, erklärt sich durch die hinzugefügte Stimme und Text, betont noch stärker die Tief-Lufthol-Phasen, die die Liedstrophen trennen, rückt durch die massiven Bläsertöne aus der Gitarre 2:24 etwas vom Kammermusikalischen ab und verschärft den Kontrapunkt des Doppelostinatos, das erste pizzicato ab 3:24, das zweite dann die Bläsertöne ab 3:49. Der Atem des Lebens. Wunderbar.




Wolfgang Endemann
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So 28. Jul 2024, 14:19

Die klassische Musik ist überreich an wunderschöner komplexer Musik, aber eben auch an wunderschöner einfacher. Meine absoluten Lieblingsmusiken stammen von Schönberg und dem engeren Kreis um ihn. Hier habe ich mich allerdings hauptsächlich, obwohl es allgemein um Schönheit gehen sollte, mit Beispielen schöner einfacher Musik beschäftigt, jedenfalls, soweit es klassische Musik betrifft. In der populären Musik ist das schwieriger, daher habe ich da überwiegend auf komplexere Musik zurückgegriffen, da etwas richtig schönes einfaches zu finden, ist schwerer, da wird das Einfache häufig banal, trivial, reizlos. So haben sich in meinen Beispielen einfache klassische und raffiniert komplexe populäre Musiken getroffen. Der Kanonensong ist einfache klassische, könnte aber auch komplexe populäre Musik genannt werden.

Ich stelle jetzt einmal eine extrem vereinfachte klassische Musik vor, viel einfacher als die hier schon zitierten "Kanonensong", "pastorale d'ėtė" oder das Lied aus der Mutter Courage.



Ich könnte mir vorstellen, daß Françaix dieses Concertino für seine Kinder geschrieben hat, um es mit ihnen vierhändig zu spielen, als Klavierlehrer würde ich es mit meinen Schülern einüben. Genauso wie die fünf kleinen Stücke von Strawinsky. Das ist der einfachste Weg zu guter Musik. Und mit etwas mehr Technik das Wohltemperierte Klavier, insbesondere das c-Moll-Präludium, und wenn es ein wenig eingeübt ist, dann sollte man mit den Eleven sich Aki Takase anhören (ab: 35:25)



So kann man das überzeugende Einfache gekonnt ins Chaotische steigern. Aber zurück zu zurückgenommenen, verdichteten und einprägsam gemachten Harmonieverläufen. Ein gutes Kinderlied ist eines, das für das noch unentwickelte musikalische Bewußtsein leicht faßlich ist und doch schon das Potential der entwickelten Musik in sich trägt. Ein Wiegenlied tut das auf der fundamentalsten Stufe, ich habe hier schon an Summertime erinnert, das, weil frei von jeglichem falschen, trivialen Ton, auch noch den avanciertesten Musikfreund begeistern kann, und hier stelle ich ein ähnliches Beispiel vor, ein Wiegenlied von Jefferson Airplane, aus dem Album "Blows against the Empire", "The Baby Tree". Leider ist es nicht auf youtube verfügbar, aber es gibt eine fast ebenbürtige Rohversion unter dem Titel Baby Tree. Alles in diesem Stück ist auf die Schaukelbewegung ausgerichtet, die Wellenbewegung eines sanften, mal aufbrausenden Windes, des sich in diesem Wind bewegenden Baumes, und der darin reifenden Babies. Es ist eine Einheit aus Text und Musik, Syntax und Semantik, wunderbar. Hier noch der Text:

There′s an island way out in the sea
Where the babies they all grow on trees
And its jolly good fun
To swing in the sun
But you gotta watch out if you sneeze-sneeze
You gotta watch out if you sneeze

Yeah you gotta watch out if you sneeze
For swingin' up there in the breeze
You′re liable to cough
You might very well fall off
And tumble down flop on your knees-knees
Tumble down flop on your knees

And when the stormy winds wail
And the breezes blow high in a gale
There's a curious dropping and flopping and plopping
And fat little babies just hail-hail
Fat little babies just hail

And the babies lie there in a pile
And the grownups they come after awhile
And they always pass by
All the babies that cry
And take only babies that smile-smile
They take only babies that smile...
Even triplets and twins if they'll smile

Und dieses Beispiel rundet meine Vorstellung des Sommersongs "on the beautiful side of a romance" von can ab.





Timberlake
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So 28. Jul 2024, 18:31

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 28. Jul 2024, 14:19
Die klassische Musik ist überreich an wunderschöner komplexer Musik, aber eben auch an wunderschöner einfacher.
Apropos einfacher ..
https://www.domradio.de/artikel/der-ausnahme-komponist-wolfgang-rihm-ist-gestorben hat geschrieben :
Der Ausnahme-Komponist Wolfgang Rihm ist gestorben

"Komponieren, das ist eigentlich ganz einfach, man muss nur die Töne weglassen, die einem nicht gefallen", sagte Wolfgang Rihm einmal in Anlehnung an Claude Débussy.
Weil mir bis dato völig unbekannt , dazu nur mal zum Vergleich ein Video , das mir auf Youtube zuvorderst angezeigt wurde ..



.. wenn gleich zweifelsohne komplex , wunderschön klingt das , zumindest in meinen Ohren , ganz sicher nicht. Es könnte allerdings auch sein , dass meine Ohren noch allzu sehr in jener klassische Musik behaftet sind , wie sie seiner Zeit vom Beethoven, Mozart, Vivaldi , Bach ... . komponiert wurden. In sofern ich mich für den Fall , dass sie heute ihre Kompositionen vorgestellt hätten , allerdings schon frage , ob sie nicht , um heute Erfolg zu haben , die falschen Töne weg gelassen hätten. Töne , wie sie Wolfgang Rihm möglicherweise nicht gefallen haben .und die er deshalb in seinen Kompositionen weg gelassen hat.




Wolfgang Endemann
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Do 1. Aug 2024, 10:12

Timberlake hat geschrieben :
So 28. Jul 2024, 18:31

https://www.domradio.de/artikel/der-ausnahme-komponist-wolfgang-rihm-ist-gestorben hat geschrieben :
Der Ausnahme-Komponist Wolfgang Rihm ist gestorben

"Komponieren, das ist eigentlich ganz einfach, man muss nur die Töne weglassen, die einem nicht gefallen", sagte Wolfgang Rihm einmal in Anlehnung an Claude Débussy.

Bon mots sollte man nicht wörtlich nehmen. Auch wenn man sehr viele Töne wegläßt, bleiben noch zu viele übrig, aus denen man auswählen müßte. Aber ein bißchen sind alle Komponisten diesem Motto gefolgt.

Ich habe mir lange überlegt, ob ich auf diesen Kommentar oder dieses Ereignis reagieren sollte. Es sind gar nicht so viele zeitgenössische Komponisten, die mir richtig gut, also nicht nur sporadisch, sondern systematisch durch ihre Musiksprache gefallen. Rihm gehört dazu. Freilich ist es für Ungeübte schwer, die Ordnung und das Schöne an ihr zu erkennen, und entsprechend schwierig ist es, diese Schönheit diskursiv näher zu bringen. Daher wollte ich auf eine Kurzbesprechung hier verzichten, ich werde dieses Ziel an erheblich einfacheren Beispielen anvisieren.
Dennoch ein paar punktuelle Bemerkungen.

Wie kann man ein atonales (Sol Gabetta gewidmetes) Werk "Concerto en Sol" nennen? Sol steht für G, G-Dur oder für die Quinte (auf dem Grundton). Und tatsächlich kann man stellenweise einen Hauch von quintenvermittelter Tonalität hören, bevorzugt an Stellen, an denen sich die Musik beruhigt, erstmals in 1:22 bis 1:36. Die Tonalität kommt wieder bei 10:52 und endet erst nach der Terzschaukelbewegung 12:36, wenn das Orchester wieder einsetzt. Die komplette Cello-Solopassage kann als unter dem tonalen Bezugspunkt stehend verstanden werden. Dann wieder bei16:12 und hauptsächlich 17:10 bis 18:12, darüberhinaus endet das Stück tonal auf der Tonika. Aber keinesfalls beschränkt sich die Schönheit auf das Faßliche, Gewohnte, ich möchte das Bläsermotiv 5:02 hervorheben, das transponiert variiert und vom Cello aufgegriffen wird. Besonders schön leuchtet das Stück auch bei der vom Cello vorbereiteten Stelle 16:55, man könnte hier von einem Mahler-Moment sprechen.

Man könnte übrigens, was Schönberg im einem Radiokonzert einmal mit seinen Variationen für Orchester gemacht hat, dieses Konzert retonalisieren, es wäre sehr schön und viel leichter faßbar, aber natürlich geht dabei die musikalische Abstraktion verloren, und man kann gerade an Schönberg zeigen, was das für ein Verlust ist. Es wäre vergleichbar einem Verzicht auf abstrakte Malerei, die doch auch Gefühle womöglich besser artikulieren kann als die gegenstandsgebundene.




Timberlake
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Fr 2. Aug 2024, 14:18

Ich habe mir mal die Mühe gemacht , mir deine Bemerkungen zu Rihms "Concerto en Sol" genau an den , von dir beschriebenen Stellen , an zu hören und mir im Vergleich dazu die folgende .. hörbare! .. Musiktheorie vergegenwärtigt ...



.. in dem es bei deinen Bemerkungen , wenn ich mich nicht täusche , um Intervalle geht , so kommen mir diese Stellen , wie überhaupt die gesammte Komposition so vor , als ob sich Rihms nahezu vollständig diszonanter Intervalle bedient ( z.B . um eine Spannung zu erzeugen, Intervalle benutzen , bei denen die Töne , ausgehend vom Ton C , dicht bei einander liegen .... 5:50 , oder wie bei der übermäßige quarte, von Hause aus , einen diszonanten Abstand aufweisen ... 7:10 )
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 1. Aug 2024, 10:12
Timberlake hat geschrieben :
So 28. Jul 2024, 18:31

https://www.domradio.de/artikel/der-ausnahme-komponist-wolfgang-rihm-ist-gestorben hat geschrieben :
Der Ausnahme-Komponist Wolfgang Rihm ist gestorben

"Komponieren, das ist eigentlich ganz einfach, man muss nur die Töne weglassen, die einem nicht gefallen", sagte Wolfgang Rihm einmal in Anlehnung an Claude Débussy.

Bon mots sollte man nicht wörtlich nehmen. Auch wenn man sehr viele Töne wegläßt, bleiben noch zu viele übrig, aus denen man auswählen müßte. Aber ein bißchen sind alle Komponisten diesem Motto gefolgt.

In sofern nicht das Weglassen von nicht gefallenen Tönen , sondern vielmehr von nicht gefallenen Intervallen , das Komponieren vereinfachen würde. Wenn nun Wolfgang Rihm , du darfst mich gerne korrigieren , sich vorallem diszonanter Intervalle .. «gegeneinander klingen». .. bedient, so kommt man wohl nicht umhin an zu nehmen , dass ihm konsonante .. «miteinander klingen» ..nicht gefallen. Wie dem auch sei . ..
audisana.ch hat geschrieben :
Michael Ronner Experte für Technik & Hörakustik

Ein anderes Wort für Dissonanz ist der „Missklang“. Eine Dissonanz entsteht, wenn zwei oder mehr gleichzeitig erklingende Töne als Klang so verschieden sind, dass sie keine Verbindung zueinander finden. Dissonanzen klingen für unser Gehör folglich schräg, störend und unschön.
.. wenn für mein Gehör Rihms "Concerto en Sol" schräg, störend und unschön klingt , so werde ich vermutlich so falsch nicht liegen.
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 1. Aug 2024, 10:12
Freilich ist es für Ungeübte schwer, die Ordnung und das Schöne an ihr zu erkennen, und entsprechend schwierig ist es, diese Schönheit diskursiv näher zu bringen.
.. es kann allerdings auch daran liegen , dass ich ungeübt bin , die Ordnung und das Schöne an dieser Komposition zu erkennen.
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 1. Aug 2024, 10:12
Man könnte übrigens, was Schönberg im einem Radiokonzert einmal mit seinen Variationen für Orchester gemacht hat, dieses Konzert retonalisieren, es wäre sehr schön und viel leichter faßbar, aber natürlich geht dabei die musikalische Abstraktion verloren, und man kann gerade an Schönberg zeigen, was das für ein Verlust ist. Es wäre vergleichbar einem Verzicht auf abstrakte Malerei, die doch auch Gefühle womöglich besser artikulieren kann als die gegenstandsgebundene.
. sich dem zufolge für mich , bei allem Verlust an musikalische Abstraktion, die damit zweifelsohne einher geht , eine Retonalisierung , hin zu den konsonanten Intervallen , anbieten würde. Eine solche Transformation von abstrakter Malerei , hin zu gegenstandsgebundene Malerei wäre übrigens auch vorstellbar. Bei beidem gibt es allerdings nur ein Problem, für den Fall , dass die gleichen Maler bzw. die gleichen Komponisten sich mit dieser "Retonalisiereung" befassen , bei aller Wünschbarkeit , müssten sie sich damit vermutlich einer Form zu wenden, die ihnen so ganz und gar nicht gefällt. So wäre Rihms z.B. dazu gefordert sein "Concerto en Sol" in der Form von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" zu transformieren . Wie übrigens umgekehrt auch Vivaldi gefordert wäre , seine Kompostion in die Form von Rihms "Concerto en Sol" zu bringen.




Timberlake
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Fr 2. Aug 2024, 15:29

Wo wir schon mal bei Vivaldis "Vierjahreszeiten" und den Dissonanzen sind ..



... und vor Übermaß an Kälte die Zähne auf einander schlagen ... ruhige und zufriedene Tage am Kamin zubringen ..


.. ich denke mal , die gekonnte Mischung bzw. die gekonnten Übergänge von dissonanten und konsonanten Intervallen ( 3:10 Min.) hier das Schöne in dieser Musik aus macht.




Wolfgang Endemann
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Sa 3. Aug 2024, 14:27

Timberlake hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2024, 15:29
ich denke mal , die gekonnte Mischung bzw. die gekonnten Übergänge von dissonanten und konsonanten Intervallen ( 3:10 Min.) hier das Schöne in dieser Musik aus macht.
So ist es.

Man kannte schon vor Vivaldi die schreckliche musikalische Schönheit des Winters, ich verweise auf die Parallelen dieses Winter-Konzerts mit der Frostarie von Henry Purcell, die gleiche harmonische Entwicklung, die gleichen stakkatierten Viertel.



Was ist da schön (ich bleibe bei Vivaldi)? Ja, der Beginn mit dem Molldreiklang, der vor allem die kleine Mollterz hören läßt, ist harmonisch-schön. Schöner aber ist, wie dieser eindeutige Dreiklang verlassen wird, aus der e-Moll-Terz e-g wird: c-e-fis-a, das ist zwar a-Moll, die Subdominante, da aber das tonale Zentrum e betont bleibt, bleibt auch die Deutung als verharren im e-Moll erhalten, ein e-Moll mit der Sekunde (oder None) fis und der kleinen Sexte c (um eine Oktave nach unten versetzt). Es ist auch der Molldreiklang mit den disharmonischen Tönen c-fis, dem Tritonus, der das unharmonischste Intervall überhaupt ist. Vor allem aber ist es die Subdominante mit der großen Sexte fis, die dann vereindeutigt wird durch die Verschiebung der Terz fis-a auf a-c'. Dieser Klang mutiert durch den Wechsel von e zu dis zu einem H-Dur-Dreiklang, der Dominante zu e, wobei das H gar nicht gespielt werden muß. Aber man hört oder hat im Ohr die Bassbewegung E+H-E+c-E+c-E+H, und daher die Quintenzirkelbewegung Tonika-Subdominante-Dominante, die wieder zur Tonika führt. Durch die minimalen Tonveränderungen und stehengelassenen Töne kommt es zum Beziehungsreichtum, zur Vielfältigkeit und zu den dann notwendig vielen "falschen" Tönen, die im richtigen Bezug eben nicht falsch sind. So kommt es oft zum Tritonusintervall, im Fall der Subdominante zu fis-c', bei der Dominante zu dis-a.

Das Schöne ist die Spannungserzeugung durch Disharmonien, das haben wir schon im Barock, und genau so in der Romantik, wie der wunderbare Scherzosatz aus der IX. Sinfonie von Bruckner, und zwar der Themenanfang 0:44, zeigen mag. Hier wird der Anfang von Purcell und Vivaldi wiederholt.





Wolfgang Endemann
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Sa 3. Aug 2024, 14:38

Timberlake hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2024, 14:18
audisana.ch hat geschrieben :
Michael Ronner Experte für Technik & Hörakustik

Ein anderes Wort für Dissonanz ist der „Missklang“. Eine Dissonanz entsteht, wenn zwei oder mehr gleichzeitig erklingende Töne als Klang so verschieden sind, dass sie keine Verbindung zueinander finden. Dissonanzen klingen für unser Gehör folglich schräg, störend und unschön.
Michael Ronner mag ein Experte für Hörakustik sein, von Musik versteht er zu wenig. Richtig ist, daß zwischen zwei Tönen, reinen (obertonlosen) Tönen eine mehr oder weniger große Spannung besteht. Nur das Unisono, der Einklang ist spannungslos. Strenggenommen sind Töne, die von Instrumenten gespielt oder von Menschen gesungen werden, schon Klänge aus einem Grundton und unterschiedlichen, freilich nur leise mitschwingenden Obertönen, da die Frequenzen der Obertöne ganzzahlige Vielfache der Grundschwingung sind, verschmelzen sie zu einer harmonischen Schwingung, zu dem einen Einklang, der vom Grundton definiert wird. Musikalisch reden wir von einem Klang, wenn zwei oder mehrere unterschiedliche obertonhaltige Töne gleichzeitig erklingen. Die können nicht verschmelzen, weil sie nicht harmonisch miteinander schwingen. Tatsächlich klingt der reine Einklang unschön, besonders schön ist ein Grundton mit einem großen Obertonspektrum, in dem Intervalle vorkommen, deren Frequenz keine Zweierpotenz der Grundtonfrequenz ist; schon der zweite Oberton steht nicht im Einklang, dann der 4.-7., und sofern sie überhaupt noch zu registrieren sind, färben sie ab dem 6. nur noch dissonant, sogar auf einer höheren Stufe dissonant, nämlich außerhalb der regulären chromatischen Töne die Klangfarbe.

In der Entwicklung unserer Musiksprache hat es lange gedauert, bis man gelernt hat, die heptatonischen Töne als mehr oder weniger konsonant, nur die nichtheptatonischen als verkehrt, dissonant zu hören. Hatte man diesen Schritt gemacht, konnte man die Terzschichtung bis zur None, eventuell sogar bis zur Undezime als konsonant begreifen, also als schön hören. Und dann war es geradezu ein Beispiel für das Schönhören, nicht mehr der einfache Dreiklang galt bzw gilt für viele heute als wohlklingend, sondern als banal, verbraucht, primitiv, in Harmonien schwelgen heißt jetzt von delikat komplexen Klängen bewegt werden. Es bleibt die relative Ordnung des Spektrums von konsonant bis dissonant, aber das Schöne finden wir nicht mehr im allzu einfachen Harmonischen, sondern im reibungsvoll oder mehrdeutigen Harmonischen. Akkorde eines Tonleitertons mit einem Nichttonleiterton klingen disharmonisch, am disharmonischsten der Grundton mit der kleinen Sekunde, großen Septime und dem Tritonus. Noch disharmonischer klingen entsprechende Mehrklänge, am wenigsten harmonisch Cluster, also mehrfach aneinanderhängende kleine Sekunden, von mehreren unmittelbar benachbarten Tönen oder auch von unmittelbaren Nachbartönen der Heptatonik gebildete Akkorde. Neben der vertikalen Disharmonie gibt es auch die melodiöse, horizontale, wenn die Tonfolge sich nicht abschnittsweise einer Tonart zuordnen läßt. So hat sich die klassische Musik Europas bis zur Spätromantik entwickelt, der Bereich des Konsonanten wurde immer breiter und die Musik erlaubte sich den Zugriff auf immer dissonantere Klänge, ohne die prinzipielle Ordnung des Harmonischen infrage zu stellen.

Diese Infragestellung passierte erst nach der Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert. Da wurde die Tonalität, die Grundlage unserer Musik, nicht nur ignoriert, sondern explizit verworfen. Eine Revolution. Und doch, so revolutionär war sie gar nicht, jedenfalls nicht aus Sicht ihres bedeutendsten Wortführers, des konservativen Revolutionärs Arnold Schönberg. Mit diesem Bruch werde ich mich einmal beschäftigen, hier will ich die Debatte nicht überfrachten.

Eine Bemerkung unmittelbar zu Riem. Er vermeidet nicht tonalitäre Reste, die nach der neuen reinen Lehre nicht mehr sein dürfen. Daher erwähnte ich die quintbasierten Harmonien und Dreiklänge entsprechend der Werkbezeichnung "Concerto en Sol". Das Cello spielt horizontal den Dreiklang bei 10:55 und 12:28 und dann mit dem Orchester vertikal bei 12:36. Versteckt lassen sich sogar viele Stellen mit tonalem Bezug hören.




Wolfgang Endemann
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So 4. Aug 2024, 12:28

Vom be bop zum hip hop

Aus einer Zeit, als "Freiheit" und "Revolution" noch keine leeren Phrasen, Werbesprüche waren, kommen meine Beispiele des musikalischen Aufbruchs. Da setzen sich drei Leute ohne jede Vorbereitung, ohne jeden Plan zusammen und machen Musik, improvisierte Musik.



Und hier einer der unbekanntesten, unterschätztesten Pianisten:



In meiner Besprechung von Rihm habe ich auf die Resttonalität eines quintenbasierten Grundtons hingewiesen. Tonale Musik ist, wenn man sie auf ihre abstrakteste Struktur reduziert, festgelegt auf das Schema Konsonanz - Spannungserzeugung - entspannende Kadenz. Der große Ludwig van wurde zu seinem 200. Anniversarium von vielen bedeutenden zeitgenössischen Komponisten geehrt, zB von Schnebel, Stockhausen und Kagel, letzterer charakterisierte den Laureaten nicht nur durch das Zitieren des berühmten ta-ta-ta-taaa, sondern hauptsächlich durch die delikate Montage der von der Musikwelt sofort als Beethoven erkennbaren Kadenzformeln. Man kann freilich, und auch das tut Kagel, das Dazwischen (zwischen Anfang, Spannungsaufbau und Ende, -abbau) thematisieren, das Laufen der Musik, die perpetuum-mobile-hafte Mechanik der variierenden Wiederholung.

Hier im Thread wurde von mir zuletzt von der Schönheit der Musik, die im Beginn, im Verlauf und im Ende gefunden werden kann, das erstere thematisiert, die Lust auf die Dissonanz, den Spannungsaufbau. Ob Frostarie, Vivaldis Winter, das massive Scherzo Bruckners, diese Musik lebt von der Beunruhigung. Und die neue Musik lebt in der Beunruhigung, findet nicht mehr, oder wie bei Rihm nur sporadisch auf den sicheren Boden der quintvermittelten Konsonanz zurück. Hier bei Herbie Nichols aufs Wunderbarste das Heraustreiben aus der Ruhe, die Nervosität der Großstadt, das Fahrige, Schräge einer rastlosen Zeit, wie sie in der Klassik von Skrjabin, mit dem ich dieses blog begonnen habe, genial vertont wurde.

Hier ein weiteres Beispiel, ich bitte, die vortrefflichen Mitspieler nicht zu vergessen.



Dann drehen wir die Zeit vor und stoßen auf diesen 'Reflex:



Die musikalische Bewegung Ruhe - Spannung - Beruhigung ist zusammengezogen auf eine musikalische Schleife, und gleichzeitig auf Dauer gestellt. Und noch etwas vereinfacht, hypnotisch:





Timberlake
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Mo 5. Aug 2024, 01:26

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 4. Aug 2024, 12:28


Dann drehen wir die Zeit vor und stoßen auf diesen 'Reflex:


.. sicherlich kannst du mir erklären wie bzw. warum ich von daher auf den nun folgenden Reflex gestoßen bin ...



... und weil bei dir von Obertönen die Rede war ..



.... so scheint mir beim Gesang von Bruce Springsteen wie auch bei Loungin' eine Parallele zum Sprechgesang ab 2:10 zu diesem Video zu bestehen. Singen die nun deshalb mit einem Grundton ohne bzw. mit verminderten Obertönen ?




.. und wird hier im Gegensatz dazu mit deutlich "hörbaren" Obertönen gesungen?

Wie dem auch sei "Das Schöne in der Musik" finde ich bei all dem nur in der "Eintönigkeit" von Bruce Springsteen - Streets of Philadelphia verwirklicht.
  • Ich war verletzt, wie erschlagen,
    war so unten, dass ich mich selbst nicht wiedererkennen konnte.
    Mein Spiegelbild im Schaufenster,
    aber ich erkannte mein Gesicht nicht mehr.
    ...
    In der Nacht hörte ich das Blut durch meine Adern rasen,
    schwarz und flüsternd wie der Regen auf der Straße in Philadelphia.
    ..
    Es wird kein Engel kommen,
    um für mich da zu sein. "

    Bruce Springsteen: „Streets of Philadelphia“ – Songtext deutsche Übersetzung
.. übrigens auch passend zum Text und zu meinen eigenen Befindlichkeiten , um das an dieser Stelle nicht unerwähnt zu lassen.




Wolfgang Endemann
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Mo 5. Aug 2024, 16:23

Timberlake hat geschrieben :
Mo 5. Aug 2024, 01:26

.. sicherlich kannst du mir erklären wie bzw. warum ich von daher auf den nun folgenden Reflex gestoßen bin ...
Mal sehen.

Die Obertöne sind gut erklärt und der Obertongesang eindrucksvoll demonstriert. Mein Thema war etwas anderes, die Entwicklungslinie von der eigenartigen Musiksprache des be bop in die populäre des hip hop, die viel mit dem starken Ausdrucksbedürfnis in diesen Musiken zu tun hat. Es stimmt aber, dabei spielt eine musikalische Dimension eine Rolle, die zumindest in unserer Musiktradition fast unbemerkt geblieben ist oder vergessen wurde, die Plastizität der Obertönigkeit.

Wir unterscheiden gesungene Töne von gesprochenen. Erstere haben eine bestimmte Tonhöhe, letztere nicht. Das heißt, im gesungenen Ton gibt es eine einzelne stark dominante Schallfrequenz. Man kann allerdings auch tief oder hoch sprechen, Aber das heißt nur, daß man mit einem sehr vielfältigen Frequenzspektrum vorwiegend tiefe oder hohe Frequenzen nutzt. Selbst das weiße Rauschen, dem ein kontinuierliches Spektrum zugrunde liegt, kann hoch und tief klingen. Wenn wir von Musik sprechen, meinen wir in der Regel Klangphänomene, die abgesehen von rein rhythmischen Organisationen von Klangereignissen Tonhöhenkonstellationen sind, also vertikale und horizontale Organisationen von temporär konstanten, diskreten Tonhöhen, Ereignismengen von Relationen einzelner Schwingungsfrequenzen. Die meisten Musiksprachen sind auf diskrete Werte von erlaubten/erwünschten Frequenzen festgelegt, aber oft sind auch Abweichungen erlaubt, sogar geboten (Vibrato, kontinuierliches Glissando).

Diese Unterscheidung Sprache-Gesang ist nicht strikt, in dem Video wird das emphasierte kultische Sprechen erwähnt, aber nicht nur der Übergang vom Sprechen zum Singen steigert die Ausdruckskraft, sondern auch der Übergang vom Singen ins Sprechen. Im "Überlebenden von Warschau" geht die Deklamation ins Singen über, die Oper "Moses und Aron" ist aus dem Spannungsverhältnis von beidem entwickelt. In der klassischen Musik gibt es Schreie und Flüstern (tonloses Sprechen), in der populären Musik gibt es den Sprechgesang lange vor dem Rappen. Bob Dylan ist das wohl bekannteste Beispiel.
In Opern gibt es gesprochene Phasen, das eindrucksvollste und wirkmächtigste Beispiel ist der Sprechgesang bei Schönberg ("Pierrot lunaire", für mich eines der wichtigsten und schönsten Werke), der das sporadisch eingesetzte Mittel auf ein komplettes mehrteiliges Opus ausweitet und zu einer spezifischen Ausdrucksform standardisiert. Vorläufer davon war "des Sommerwindes wilde Jagd" aus den Gurreliedern. Dabei wird die Sprechstimme wie eine gesungene in Noten notiert, aber mit eckigen, umrißhaften Notenköpfen oder durchgestrichenen bzw durchgekreuzten Notenhälsen als dieses eigenartige Sprechsingen gekennzeichnet.
Während der Sprechgesang tatsächlich ein Zwischending zwischen Singen und Sprechen ist, das beide Techniken voll ausschöpft, ist das musikalische talking (etwa bei Dylan) ein reduziertes, nicht richtig schwingen/klingen lassendes Eintonsingen und rhythmisiertes Sprechen. Aber das soll kein Qualitätsurteil sein, ob etwas gut ist, ist ja vor allem davon abhängig, wie, nicht mit welchen Mitteln etwas gemacht wird. Übrigens gibt es auch die Zweispurigkeit: Poesie und Musik sowie Rühmkorfs Jazz & Lyrik, in der der Text zur Musik nicht gesungen, sondern rezitiert wird.

Der Rapper Guru praktiziert das Eintonsingen, und zwar ganz überwiegend auf der Quinte, gelegentlich geht es auf die Septime, noch seltener steigt er herab von der Quinte, er formt ein Duett mit der sehr viel variableren, aber auch quint- und septimlastigen Trompete von Donald Byrd, und mit der Dominant-Tonika-Schleife entsteht der unwiderstehliche Sog dieser Musik. Bruce Springsteen dagegen macht normale Songs und singt, wenn auch etwas schnoddrig, aber weniger manieriert als Dylan, mit normaler Singstimme. Mir als Linkem ist ja die Botschaft Springsteens sehr sympathisch, allerdings finde ich ihn musikalisch wie hier passabel bis nett, aber nicht wirklich mitreißend, die Musik ist zu leichtgängig, zu süßlich und etwas überladen (das haben wir glaube ich schon in dem Thead diskutiert). Das paßt im Grunde nicht zu dem etwas bitteren Text.
Der Obertongesang von Bollmann ist auch ganz reizend, aber für komplexere Musik nicht verwendbar. Er legt auf Eintönigkeit fest. Es wäre interessant zu wissen, ob es Obertonduette gibt, mE sind sie nicht befriedigend durchführbar; das wäre wie funktionsharmonische Musik auf Instrumenten mit "reiner" Naturstimmung zu spielen, nur daß sich die Unstimmigkeiten noch potenzierten. Aber ich würde mich gerne von Besserem belehren lassen.




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Quk
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Mo 5. Aug 2024, 17:04

Kleine Randbemerkung ...
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mo 5. Aug 2024, 16:23
Selbst das weiße Rauschen, dem ein kontinuierliches Spektrum zugrunde liegt, kann hoch und tief klingen.
Eigentlich nicht. Denn dann wäre es nicht weiß, sondern rosa oder braun oder sonstwie nichtlinear. Wenn Du den linearen Horizont nach links oder rechts verschieben willst, wirst Du keinen Effekt sehen, es sei denn da ist etwas nichtlineares irgendwo, ein Hügel etwa; an dem kannst Du die Verschiebung sehen oder hören. Im Rosa Rauschen sind die tieferen Frequenzen etwas lauter als die Höhen; da ist ein leichter gradueller Abfall von links nach rechts. Dadurch bekommt das Weiß einen Rotstich, sozusagen. Rosa. Schiebt man hier alle Frequenzen nach rechts (also höherklingender), wird der rote Hügel gelb, dann grün etc. Uuuoooaaaäääeeeiii...




Wolfgang Endemann
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Mo 5. Aug 2024, 21:59

Quk hat geschrieben :
Mo 5. Aug 2024, 17:04
Kleine Randbemerkung ...
Du verwechselst jetzt aber nicht Schall- und Lichtwellen?
Das "weiß" im weißen Rauschen ist ja eine Metapher, ein Analogon zum weißen Farbeindruck, der sozusagen der neutrale Farbeindruck ist und durch Überlagerung aller bzw einer repräsentativen Menge von Farbfrequenzen zustande kommt. Aber wie weit kann man die Analogie der Wellenphänomene treiben? Die Frage ist also: gibt es ein helles und ein dunkles Rauschen, so wie es Graustufen von Licht gibt, nämlich ein schwächerer, aber immer noch neutraler Farbeindruck?
Und wie drückt sich das mathematisch aus?
Ich würde in einer Geräuschkomposition (elektronisch erzeugte Musik) jedenfalls den Höheneindruck des Rauschens für ein wichtiges Merkmal halten.




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