Timberlake hat geschrieben : ↑ Mo 5. Aug 2024, 01:26
.. sicherlich kannst du mir erklären wie bzw. warum ich von daher auf den nun folgenden Reflex gestoßen bin ...
Mal sehen.
Die Obertöne sind gut erklärt und der Obertongesang eindrucksvoll demonstriert. Mein Thema war etwas anderes, die Entwicklungslinie von der eigenartigen Musiksprache des be bop in die populäre des hip hop, die viel mit dem starken Ausdrucksbedürfnis in diesen Musiken zu tun hat. Es stimmt aber, dabei spielt eine musikalische Dimension eine Rolle, die zumindest in unserer Musiktradition fast unbemerkt geblieben ist oder vergessen wurde, die Plastizität der Obertönigkeit.
Wir unterscheiden gesungene Töne von gesprochenen. Erstere haben eine bestimmte Tonhöhe, letztere nicht. Das heißt, im gesungenen Ton gibt es eine einzelne stark dominante Schallfrequenz. Man kann allerdings auch tief oder hoch sprechen, Aber das heißt nur, daß man mit einem sehr vielfältigen Frequenzspektrum vorwiegend tiefe oder hohe Frequenzen nutzt. Selbst das weiße Rauschen, dem ein kontinuierliches Spektrum zugrunde liegt, kann hoch und tief klingen. Wenn wir von Musik sprechen, meinen wir in der Regel Klangphänomene, die abgesehen von rein rhythmischen Organisationen von Klangereignissen Tonhöhenkonstellationen sind, also vertikale und horizontale Organisationen von temporär konstanten, diskreten Tonhöhen, Ereignismengen von Relationen einzelner Schwingungsfrequenzen. Die meisten Musiksprachen sind auf diskrete Werte von erlaubten/erwünschten Frequenzen festgelegt, aber oft sind auch Abweichungen erlaubt, sogar geboten (Vibrato, kontinuierliches Glissando).
Diese Unterscheidung Sprache-Gesang ist nicht strikt, in dem Video wird das emphasierte kultische Sprechen erwähnt, aber nicht nur der Übergang vom Sprechen zum Singen steigert die Ausdruckskraft, sondern auch der Übergang vom Singen ins Sprechen. Im "Überlebenden von Warschau" geht die Deklamation ins Singen über, die Oper "Moses und Aron" ist aus dem Spannungsverhältnis von beidem entwickelt. In der klassischen Musik gibt es Schreie und Flüstern (tonloses Sprechen), in der populären Musik gibt es den Sprechgesang lange vor dem Rappen. Bob Dylan ist das wohl bekannteste Beispiel.
In Opern gibt es gesprochene Phasen, das eindrucksvollste und wirkmächtigste Beispiel ist der Sprechgesang bei Schönberg ("Pierrot lunaire", für mich eines der wichtigsten und schönsten Werke), der das sporadisch eingesetzte Mittel auf ein komplettes mehrteiliges Opus ausweitet und zu einer spezifischen Ausdrucksform standardisiert. Vorläufer davon war "des Sommerwindes wilde Jagd" aus den Gurreliedern. Dabei wird die Sprechstimme wie eine gesungene in Noten notiert, aber mit eckigen, umrißhaften Notenköpfen oder durchgestrichenen bzw durchgekreuzten Notenhälsen als dieses eigenartige Sprechsingen gekennzeichnet.
Während der Sprechgesang tatsächlich ein Zwischending zwischen Singen und Sprechen ist, das beide Techniken voll ausschöpft, ist das musikalische talking (etwa bei Dylan) ein reduziertes, nicht richtig schwingen/klingen lassendes Eintonsingen und rhythmisiertes Sprechen. Aber das soll kein Qualitätsurteil sein, ob etwas gut ist, ist ja vor allem davon abhängig, wie, nicht mit welchen Mitteln etwas gemacht wird. Übrigens gibt es auch die Zweispurigkeit: Poesie und Musik sowie Rühmkorfs Jazz & Lyrik, in der der Text zur Musik nicht gesungen, sondern rezitiert wird.
Der Rapper Guru praktiziert das Eintonsingen, und zwar ganz überwiegend auf der Quinte, gelegentlich geht es auf die Septime, noch seltener steigt er herab von der Quinte, er formt ein Duett mit der sehr viel variableren, aber auch quint- und septimlastigen Trompete von Donald Byrd, und mit der Dominant-Tonika-Schleife entsteht der unwiderstehliche Sog dieser Musik. Bruce Springsteen dagegen macht normale Songs und singt, wenn auch etwas schnoddrig, aber weniger manieriert als Dylan, mit normaler Singstimme. Mir als Linkem ist ja die Botschaft Springsteens sehr sympathisch, allerdings finde ich ihn musikalisch wie hier passabel bis nett, aber nicht wirklich mitreißend, die Musik ist zu leichtgängig, zu süßlich und etwas überladen (das haben wir glaube ich schon in dem Thead diskutiert). Das paßt im Grunde nicht zu dem etwas bitteren Text.
Der Obertongesang von Bollmann ist auch ganz reizend, aber für komplexere Musik nicht verwendbar. Er legt auf Eintönigkeit fest. Es wäre interessant zu wissen, ob es Obertonduette gibt, mE sind sie nicht befriedigend durchführbar; das wäre wie funktionsharmonische Musik auf Instrumenten mit "reiner" Naturstimmung zu spielen, nur daß sich die Unstimmigkeiten noch potenzierten. Aber ich würde mich gerne von Besserem belehren lassen.