Poetische Philosophie

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Philosophist
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So 10. Sep 2017, 23:52

Alethos hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 11:21
Ich kriege Zeilen 5 und 6 wegen der Kasus nicht zusammen, eher dann 4 und 5, obwohl die Interpunktion stört und irritiert.

Das
4 ist der kühne Rank.
5 Eines Wegs der dunklen Zeichen
Hört sich für mich so plausibler an:

Das Denken ist der kühne Rank eines Wegs der dunklen Zeichen.

Kriege überhaupt nichts auf die Reihe bei diesen letzten Abschnitten. :roll:

Das 'edle Schonen' könnte auch als Bewahren, als Behüten verstanden werden. Das Denken schont seine Erkenntnisse vor dem zeitlichen Verfall, es schützt sich auch vor dem Unwissen? Das Böse kann dann beides bedeuten: Destruktion und Verfall durch zersetzenden Zweifel oder auch Unwissen, Unkenntnis. Ein nicht Entrinnen können vor dem Unwissen. Ein Schmerz, etwas nicht zu wissen. Eine Sehnsucht nach Wissen im Sinne eines Fernwehs?
3 Denken ist das edle Schonen,
4 ist der kühne Rank.
5 Eines Wegs der dunklen Zeichen,
6 kehren zwischen Nichts und Sein.
7 Denken ist das Nie-Entweichen
8 aus dem Bösen , vor der Pein.


Ich würde Zeile 3 und 4 zusammenlesen und dabei auf die Interpunktion achten. Und dann auch Zeile 5 und 6 , wo am Ende auch ein Punkt folgt.

Zeile 4 und 5 ist etwas schwieriger zusammenzubringen, das diese eigentlich durch einen Punkt getrennt sind, obwohl es inhaltlich einfach in einander übergeht und so die Zeilen 3 bis 8 eigentlich einen "Gesamtgedanken" darstellen, wo es vor allem um die Beziehung des Denkens zum Bösen geht, meines Erachtens. Ist der "Rank" mit "List" zu übersetzen?

Ich bin nicht sicher, ob man Zeile 4 bis 5 in der Art zusammenbringen sollte, wie du hier vorschlägst...oder ob das vielleicht nicht etwas zu sehr sinn-entstellend ist..denn man sollte auf die Interpunktion der Stelle schon achten.



φιλοσοφος και σοφιστες

"(...) sondern weil die Philosophie wesentlich eine menschliche, d.h. endliche Möglichkeit ist, deshalb steckt in jedem Philosophen ein Sophist." (Heidegger ,Gesamtausgabe, Band 27, S.24)

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Philosophist
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So 10. Sep 2017, 23:58

Alethos hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 11:28
Friederike hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 10:58

Ich glaube, ich verliere langsam die Geduld mit diesem Gedicht.
Geht mir auch so. Empfinde es immer weniger als Gedicht und mehr als ein lyrisches Kondesat heideggerischer Philosophie. Es wirkt auf mich mehr wie eine Spielerei auf einem Notizblock, so als wollte der Philosoph für den nächsten Vortrag ein paar Stichworte aufschreiben, dies aber dank zufällig vorhandener Muße in Reimform verpackt hat.

Es gibt doch Gedichte, die schenken Leichtigkeit auch in ihrer totalen Schwere und Traurigkeit. Sie treffen genau einen Punkt. Dieses Gedicht verwirrt sich immer mehr, je mehr man sich seiner nähert. Frustrierend.
Kann man natürlich sehen, was du als "lyrisches Kondesat heideggerischer Philosophie" bezeichnest hast. Ob es als "Spielerei" von Heidegger gemeint ist, vermag ich nicht zu sagen...kann ich mir bei ihm aber eher weniger vorstellen...interessant ist ja, dass er anscheinend nicht nur Prosa-Texte "kann", sondern sich auf das lyrische Gebiet getraut hat und sich dabei der "Reimform" bedient hat...es ist so ein Wechsel zwischen Lyrik/Prosa bei ihm gegeben und das gibt es ja nicht bei jedem Denker (Kant hat glaube ich nur Prosa-Texte als Philosoph verfasst, während er Lyrik natürlich kannte (siehe Kritik der Urteilskraft), aber nicht selbst lyrisch aktiv wurde, soweit ich weiß...und seine Philosophie auch nicht lyrisch "verdichtet" hat, sozusagen ;-)



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Philosophist
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Mo 11. Sep 2017, 00:05

Friederike hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 13:11
Alethos hat geschrieben : Ich kriege Zeilen 5 und 6 wegen der Kasus nicht zusammen, eher dann 4 und 5, obwohl die Interpunktion stört und irritiert.


Das 'edle Schonen' könnte auch als Bewahren, als Behüten verstanden werden. Das Denken schont seine Erkenntnisse vor dem zeitlichen Verfall, es schützt sich auch vor dem Unwissen? Das Böse kann dann beides bedeuten: Destruktion und Verfall durch zersetzenden Zweifel oder auch Unwissen, Unkenntnis. Ein nicht Entrinnen können vor dem Unwissen. Ein Schmerz, etwas nicht zu wissen. Eine Sehnsucht nach Wissen im Sinne eines Fernwehs?
Oja, schön. Das Böse in Gestalt der Nicht-Wissens (Kehre zwischen Nichts und Sein, der Raum dazwischen, in dem das Denken herumgeistert) und in Gestalt des Bewahrens des Wissens, das ist eine Erklärung, bei der sich "Schonen" und "edel" zumindest nicht mehr in die Quere kommen -und die ich aus diesem Grunde plausibel finde. Wenn man von den Kasus und der Interpunktion absieht.


Das Böse mit der "Gestalt des Nicht-Wissens " zu verbinden, finde ich etwas überraschend vom Gedanken, da vom Wissen ja nicht explizit dort die Rede ist. Aber man kann natürlich hier schon etwas gewagt interpretieren und zwischen den Zeilen versuchen das herauszulesen...auf jedenfall ein interessanter Gedanke! So könnte man fast eine "erkenntnistheoretische" Lesart dieser Stelle hier gewinnen, bin aber nicht sicher, ob diese von Deutung her wirklich insgesamt überzeugend ist..bzw. ich muss darüber nochmal "nachdenken" :roll:

Also das edle Schonen vor Unwissen könnte (vielleicht) Sinn machen...



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Di 12. Sep 2017, 03:42

Ich habe einen entsprechenden Link zu der Thematik hier gefunden, der zwar etwas älter schon ist, aber dennoch nach wie vor lesenswert:

faz.net/aktuell/feuilleton/bue…ers-gedichte-1700784.html

Dort heißt es unter anderem:

"Der einundachzigste Band der Gesamtausgabe von Martin Heidegger trägt den Titel "Gedachtes" (Verlag Vittorio Klostermann) und enthält in vier Abteilungen Texte, die die Nähe und gegenseitige Abhängigkeit von Dichten und Denken nicht erörtern, sondern selbst erproben .
Es beginnt mit der lyrischen Selbstvergewisserung des einundzwanzigjährigen Theologiestudenten: "Ich mied der Gottesnähe heldenschaffende Kraft / Und tappte irrlichthaschend durch Not und Nacht." Und mündet, etwa Mitte der siebziger Jahre, kurz vor dem Tod, in gehärteter, spröderer Form wieder in den Anfang, wie es bei diesem Denker nicht anders sein kann: (---)

Man sieht, dass "Gedachtes" nicht etwa bedeutet: improvisiert und schnell notiert. Vielmehr wird im Spiel-Raum des Verses etwas gewagt, das zur Steigerung bekannter Leitworte des Heideggerschen Denkens führt. Sie werden aus ihrer gewohnten Umgebung, dem erläuternden Philosophieren, herausgehoben und zurückgeholt an die Grenze zu einer Erst-Sprache, in der Dichten und Denken noch nicht unterschieden sind.
So wird immer wieder das Wort Vorenthalt zur Bezeichnung des Daseins genutzt, dem die endgültige Wiederkehr des Anfangs, im weiteren Sinn: die Ankunft des Gottes vorenthalten wird. "Armutbereit" deshalb, weil es, mit Hölderlin, in dürftiger Zeit, des Gottes bedürfend, dahingebracht wird. Der Dichter, dem Heidegger sich anlehnt, ist nämlich der einzige, der stellvertretend für das vergessliche Menschentum das Andenken des Gottes erhält.

Wenn Denken etwas nicht enden wollend Vergängliches ist, wahre Dichtung aber in sich vollendet erscheint und damit den Ausgang ins Undenkbare öffnet, was ist dann "Gedachtes"? Ist es Denken, angehalten, in Perfektform erstarrt? Offensichtlich ist es nichts, das als Nebenprodukt beim Denken abfiele. Dennoch könnte es sich um eine Art Ausfällung handeln, die "Aus der Erfahrung des Denkens" (so der Titel des in sechzehn Kapitel gegliederten Hauptteils des Buchs) übrigbleibt, eine kernige, kristallische Substanz.
Der Autor selbst gibt eine Erklärung zum Charakter dieser Texte mit dem Hinweis, er habe diese und keine andere Form gewählt, um Aussagesätze, Sätze überhaupt zu vermeiden und alle "Füllwörter" zu umgehen. "Dem äußeren Anschein ,Verse' und Reime - sehen die Texte aus wie ,Gedichte', sind es jedoch nicht."

Oder sind es doch? Das kann weder der Autor noch der Leser eindeutig bestimmen. Und das nicht aufgrund des permissiven poetischen Geschmacks und der Fülle der Formerweichungen, die uns die experimentierende Moderne bescherte. Der Autor ist in seinem Urteil deshalb eingeschränkt, weil für ihn in letzter Instanz nicht Klang und Melodie ausschlaggebend sind, sondern allein die Annäherung an den vorsokratischen Spruch, der vom dichtenden Denker stammt. Den Grad seiner Annäherung kann er indes nicht selber ermitteln."

Oft fällt der äußere Reim eher gefällig aus, während das Sagen selbst durchaus ungefällig bleibt. Vers, Metrum, Strophe verwehren die freie Umständlichkeit des heraufholenden Denkens. Was sich in "Gedachtes" verwandelt, wird aufs Engste versammelt und ins Weite gekürzt. Dabei reizt es den Philosophen, sich der betörenden Mittel der Poesie zu bedienen. Rhythmus und Reim nutzen, um sein Sagen noch eindringlicher, wenn nicht gar memorierbar zu gestalten.

In der Prosa ein gemessen Schreitender wird der Philosoph ein Inständiger in seinem gedichteten Denken. Was er nach Art des Mystikers schweigend sagt, mag auf andere so belebend wie verletzend wirken. "

Vielleicht erstmal soweit dazu.

siehe auch: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b ... 60-p4.html



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Friederike
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Di 12. Sep 2017, 16:34

Vielleicht liegts an meiner theatralischen Verfaßtheit heute, wahrscheinlich ist es so, aber mir ist jetzt ganz unbedingt und dringend danach, das Gedicht einer jüdischen Lyrikerin hier zu notieren:
Hilde Domin hat geschrieben : Es kommen keine...

Es kommen keine nach uns,
die es erzählen werden,
keine, die was wir
ungetan ließen
in die Hand nehmen und zu Ende tun.
Bitte @Philosophist, das ist nichts gegen Dich - eher schon gegen B. Strauss und seine Apologie der Gedichte H's und natürlich gegen H.




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Alethos
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Di 12. Sep 2017, 16:53

Verständlich, dass sich bei dir nach diesem Gedicht der dringende Wunsch auftut, es in die Hände zu nehmen und zu posten. Weil es kommen keine nach uns, die es zu Ende tun, wenn wir es ungetan liessen.
Sehr schönes Gedicht. Traurig auf eine Weise, aber auch motivierend auf eine andere. Ein Appell an die Eigenverantwortung und an das Jetzt, es nicht ungetan zu lassen.

Im Grundtenor aber traurig, oder?



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Philosophist
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Di 12. Sep 2017, 16:56

Friederike hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 16:34
Vielleicht liegts an meiner theatralischen Verfaßtheit heute, wahrscheinlich ist es so, aber mir ist jetzt ganz unbedingt und dringend danach, das Gedicht einer jüdischen Lyrikerin hier zu notieren:
Hilde Domin hat geschrieben : Es kommen keine...

Es kommen keine nach uns,
die es erzählen werden,
keine, die was wir
ungetan ließen
in die Hand nehmen und zu Ende tun.
Bitte @Philosophist, das ist nichts gegen Dich - eher schon gegen B. Strauss und seine Apologie der Gedichte H's und natürlich gegen H.
@Friederike: Gegen die Nennung weiterer Gedichte (auch von anderen Autoren) habe ich hier natürlich nichts in diesem Zusammenhang...

(auch vor dem zeitgeschlchtlichen problematischen Hintergrund..., der ja bekannt ist und eben auch das Problematische bei Heidegger darstellt)



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Di 12. Sep 2017, 16:57

Alethos hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 16:53
Verständlich, dass sich bei dir nach diesem Gedicht der dringende Wunsch auftut, es in die Hände zu nehmen und zu posten. Weil es kommen keine nach uns, die es zu Ende tun, wenn wir es ungetan liessen.
Sehr schönes Gedicht. Traurig auf eine Weise, aber auch motivierend auf eine andere. Ein Appell an die Eigenverantwortung und an das Jetzt, es nicht ungetan zu lassen.

Im Grundtenor aber traurig, oder?
Ich habe auch den Eindruck , dass der Grundtenor hier eher eine traurige Stimmung ist.... :(



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Tosa Inu
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Di 12. Sep 2017, 18:29

Philosophist hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 23:31
Ob das Denken als "Erzeuger des Bösen" gilt, scheint mir die Stelle eigentlich nicht unbedingt zu sagen..eher verstehe ich so, dass das Denken sich nie vom Bösen trennen kann (daher "Nie-Entweichen")... es kann nicht so einfach "aus dem Bösen" heraus...der von erwähnte Kant hat auch über das Böse nachgedacht im Kontext seines Nachdenkens über Religion und dem Menschen...
So deute ich es auch am ehesten.
Philosophist hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 23:31
aber das "Wesen des Denkens" hat Kant meines Erachtens nicht mit dem Bösen in Verbindung gebracht, das scheint eher etwas Heidegger spezifisches zu sein und Heidegger selbst hat sich auch mit Bösen beschäftigt , nämlich im Kontext seiner Beschäftigung mit Schelling wie ich nochmal nachgesehen habe.. was die Wissenschaft anbetrifft: es in der Tat so, dass diese für ihn nicht "denkt", sondern dies nur die Philosophie macht im Grunde..; kurz es stellt sich die Frage wie Heidegger zum Bösen steht...und anscheinend hat er nicht wenig darüber nachgedacht...
Ist ja auch ein spannendes Thema.
Kant hatte nur davon gerdet, dass alles Denken ein Urteilen ist und für ihn was das Denken ja eine synthetische Kraft. Im Osten ist das oft anders.
Philosophist hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 23:31
Über Zen vermag ich nichts zu sagen und ich kenne mich auch nicht weiter aus mit Heideggers Beziehung zum ostasiatischen Denken...
Ich weiß da auch nichts näheres, außer, dass es ihn interessiert hat, wie andere Zeitgenossen.
Philosophist hat geschrieben :
So 10. Sep 2017, 23:31
Naja ich verstehe es halt so, dass bei Heidegger dem Denken diese Funktion (der Befreiung und des Heilens zugesprochen wird), Es kann natürlich sein, dass es beim Zen nicht so ist.
Mir ist insgesamt niicht ganz klar, inwieweit Heidegger dem Denken eine heilende Kraft zugesprochen hat. Die theoretische Position, die die Welt bezweifelt, in die man eingebunden ist, fand er jedenfalls reichlich absurd.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Philosophist
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Mi 13. Sep 2017, 00:04

Tosa Inu hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 18:29
So deute ich es auch am ehesten.
Okay.
Tosa Inu hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 18:29
Ist ja auch ein spannendes Thema.
Kant hatte nur davon gerdet, dass alles Denken ein Urteilen ist und für ihn was das Denken ja eine synthetische Kraft. Im Osten ist das oft anders.
Ja, das ist es. Und da könnte man sogar einen Extra-Thread aufmachen diesbezüglich (da es ein eigenes Thema für sich wäre; ist aber nicht zwingend).

Ich selbst finde es interessant wie so unterschiedliche Denker wie Kant , Hegel, Nietzsche oder Heidegger auf ihre Weise je über das "Denken" nachgedacht haben. Ob für Kant allein das Denken eine "synthetische Kraft" weiß ich nicht..vielleicht hat das Hegel oder Heidegger anders gesehen...Aber bei Heidegger wird das ganze eben auch anscheinend auf ein "dichterisches Denken" bezogen , was es so glaube ich nicht bei Kant oder Hegel usw. gab.
Tosa Inu hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 18:29
Ich weiß da auch nichts näheres, außer, dass es ihn interessiert hat, wie andere Zeitgenossen.
Alles klar.
Tosa Inu hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 18:29
Mir ist insgesamt niicht ganz klar, inwieweit Heidegger dem Denken eine heilende Kraft zugesprochen hat. Die theoretische Position, die die Welt bezweifelt, in die man eingebunden ist, fand er jedenfalls reichlich absurd.
Naja ich verstehe das Ganze hier erstmal in genereller Weise so, dass Denken mit Heilung irgendwie in Verbindung gebracht (eine heilende Funktion hat). Wie das aber genauer zu verstehen sein soll, vermag ich momentan nicht zu sagen.

Hmm was letzteres anbetrifft, kann ich Heideggers Position in dieser Frage irgendwie verstehen.



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Friederike
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Mi 13. Sep 2017, 12:29

Alethos hat geschrieben : Verständlich, dass sich bei dir nach diesem Gedicht der dringende Wunsch auftut, es in die Hände zu nehmen und zu posten. Weil es kommen keine nach uns, die es zu Ende tun, wenn wir es ungetan liessen. Sehr schönes Gedicht. Traurig auf eine Weise, aber auch motivierend auf eine andere. Ein Appell an die Eigenverantwortung und an das Jetzt, es nicht ungetan zu lassen. Im Grundtenor aber traurig, oder?
Stimmt! Die Aufforderung zum Engagement an diejenigen, die jeweils gegenwärtig lesen, die hatte ich gar nicht beachtet.

Es kommen keine nach uns,
die es erzählen werden,
keine, die was wir
ungetan ließen
in die Hand nehmen und zu Ende tun.

Die traurige Grundstimmung, wie Ihr -Du und @Philosophist- meint, habe ich auch empfunden. Als ich mir überlegte, ob ich das Gedicht aufschreiben soll oder nicht, weil ich es nicht herausragend finde, ist mir nur aufgefallen, daß ich die Zeilen überhaupt deswegen als ein Gedicht bezeichnen würde, weil im lauten Aussprechen der versäumten Möglichkeit(en) -was für mich die Traurigkeit ausmacht- seltsamerweise zugleich das Moment der Tröstung liegt. So, als würde die Vergeblichkeit jedes Bemühens, irgendetwas wieder ausgleichend Gutzumachen, was nicht getan wurde, geheilt, und zwar dadurch, daß die Trost-Losigkeit dichtend in ein "Ja" transformiert wird.
Philosophist hat geschrieben : @Friederike: Gegen die Nennung weiterer Gedichte (auch von anderen Autoren) habe ich hier natürlich nichts in diesem Zusammenhang ...
Wirklich nett. Das kann ich mir nicht verkneifen :lol: .
Philosophist hat geschrieben : (auch vor dem zeitgeschlchtlichen problematischen Hintergrund ..., der ja bekannt ist und eben auch das Problematische bei Heidegger darstellt).
Eben das ist ja der Grund für meinen dringenden Impuls gewesen, moralisch zu werden und eine Dichterin zu zitieren, die erstens wirklich Lyrik verfaßt und die zweitens zu denen gehört, die Menschen wie H. ...




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Mi 13. Sep 2017, 13:22

Friederike hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 12:29

Die traurige Grundstimmung, wie Ihr -Du und @Philosophist- meint, habe ich auch empfunden. Als ich mir überlegte, ob ich das Gedicht aufschreiben soll oder nicht, weil ich es nicht herausragend finde, ist mir nur aufgefallen, daß ich die Zeilen überhaupt deswegen als ein Gedicht bezeichnen würde, weil im lauten Aussprechen der versäumten Möglichkeit(en) -was für mich die Traurigkeit ausmacht- seltsamerweise zugleich das Moment der Tröstung liegt. So, als würde die Vergeblichkeit jedes Bemühens, irgendetwas wieder ausgleichend Gutzumachen, was nicht getan wurde, geheilt, und zwar dadurch, daß die Trost-Losigkeit dichtend in ein "Ja" transformiert wird.
Wow. Ganz genau! Und sehr schön formuliert.

Das Gedicht drückt eine positive Resignation aus. Der Umstand, dass da niemand auf uns folgt, der unsere unerledigten Pendenzen übernimmt, wird hingenommen, aber nicht auf eine passive Art, sondern mit einem gereiften Verständnis für den Lauf der Dinge. Und obwohl ein Schmerz zuvörderst mitschwingt, so bleibt dieses klare und positive Ja zum Leben unüberhörbar. Es ist auch ein Ja zur Vergänglichkeit, das mit einem Appell ans Jetzt die leise Aufforderung trägt, das Leben in die Hand zu nehmen. Die Dinge zu sagen und die Dinge zu tun, die wir nicht delegieren können.



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Mi 13. Sep 2017, 23:40

Friederike hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 12:29

Philosophist hat geschrieben : @Friederike: Gegen die Nennung weiterer Gedichte (auch von anderen Autoren) habe ich hier natürlich nichts in diesem Zusammenhang ...
Friederike hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 12:29
Wirklich nett. Das kann ich mir nicht verkneifen :lol: .
So bin ich eben 8-)

Philosophist hat geschrieben : (auch vor dem zeitgeschlchtlichen problematischen Hintergrund ..., der ja bekannt ist und eben auch das Problematische bei Heidegger darstellt).
Friederike hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 12:29
Eben das ist ja der Grund für meinen dringenden Impuls gewesen, moralisch zu werden und eine Dichterin zu zitieren, die erstens wirklich Lyrik verfaßt und die zweitens zu denen gehört, die Menschen wie H. ...
Darf man fragen, welche Kriterien das sind für dich, um von "wirklicher Lyrik" zu sprechen? Welche Maßstäbe setzt du da an? (und man könnte fragen: was hat ihre Lyrik, welche Heideggers nicht hat?)

Das sie zu Menschen gehört , die Menschen wie H...., gut, dass muss man ja wirklich nicht weiter kommentieren oder?



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Friederike
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Do 14. Sep 2017, 11:11

Philosophist hat geschrieben : Ich selbst finde es interessant wie so unterschiedliche Denker wie Kant , Hegel, Nietzsche oder Heidegger auf ihre Weise je über das "Denken" nachgedacht haben. Ob für Kant allein das Denken eine "synthetische Kraft" weiß ich nicht ... vielleicht hat das Hegel oder Heidegger anders gesehen ... Aber bei Heidegger wird das ganze eben auch anscheinend auf ein "dichterisches Denken" bezogen , was es so glaube ich nicht bei Kant oder Hegel usw. gab.
Ob man dem Gedicht Heideggers entnehmen kann, daß er die Heilfunktion im Denken und Dichten gesehen hat, oder aber nur im Denken oder aber in einem dichterischen Denken -und falls Letzteres zuträfe, was dichterisches Denken für ihn ist, das sind immer noch nicht beantwortete Fragen, oder? Ich würde mich, nur unter Bezugnahme auf das von uns besprochene Gedicht, immerhin soweit festlegen wollen, daß für ihn die das Heil bewirkende Tätigkeiten im Denken und im Dichten liegen. Das heißt, das Denken alleine vermag dies nicht. Nebenbei ist natürlich noch eine andere spannende Frage, was H. unter "heil"/"Heil" versteht.

Gefunden habe ich einen Aufsatz, der, unabhängig von Heidegger, das Thema "dichterisches Denken" vielleicht ein bißchen voranbringen könnte. B. Correa, "Arendt und das dichterische Denken":
Correa hat geschrieben : Und an diesem Punkt stoßen wir auf das „dichterische Denken“. Bei Benjamin, so Arendt, ist das dichterische Denken ein Denken, das die Sprache für „das größte Geschenk“ hält und der Metapher einen Erkenntniswert zuschreibt. Dank der Metapher ist es möglich, Begriffe mit „den Erfahrungen der Sinne“ zu verknüpfen. In ihrem Denktagebuch macht Hannah Arendt 1969 folgende Beobachtungen: „Was Denken und Dichten verbindet, ist die Metapher. In der Philosophie nennt man Begriff, was in der Dichtung Metapher heißt. Das Denken schöpft aus dem Sichtbaren seine Begriffe, um das Unsichtbare zu bezeichnen." (DT 728) Sofort interessiert uns, die Verbindung zu unterstreichen, die dank der Metapher zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Denken entsteht. In Benjamins Fall war es der Einsatz des metaphorischen Denkens, der ihn nach Arendt dazu brachte, die dialektischen „Vermittlungen“ beiseite zu schieben und sich von der metaphysischen Tradition zu trennen, um, wie schon gesagt, die Bedeutung zu erfassen, ohne dabei von den als sinnlich wahrgenommenen Fakten abzusehen. Dies bedeutet: durch die Metapher rettet man die sichtbare, gemeinsame Welt, in der sich unsere Handlungen und Taten abspielen.

In einem der ersten Absätze des Kapitels über das Handeln in ‚Vita Activa oder Vom tätigen Leben’ legt Arendt zusätzlich zu ihrer großen Wertschätzung der Literatur als Denkform die innige Verbindung zwischen der Condition Humaine, dem Handeln und dem Sinnlichen offen. Wenn, wie es die von Arendt zitierte Isak Dinesen sagt, „alle Gedanken ertragen werden können, wenn wir sie in eine Geschichte bergen oder eine Geschichte über sie erzählen“ (MZ 124), dann deswegen, weil das, was die Geschichte sichtbar werden lässt, die Enthüllung des „Wer“ einer Person ist, d.h. weil sie es möglich macht, dass wir in der Begegnung von zwei Erfahrungen, der des Erzählers und der des Zuhörers, jenem Augenblick beiwohnen, in dem der Funke eines Sinnes sichtbar wird und uns sein Schein erhellt. Arendt, die ihr Leben lang Gedichte schrieb, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, weiß sehr wohl um die Funktion und den Wert der Formgebung einer Erzählung. Die Wirksamkeit einer Geschichte, ihre Fähigkeit, Erfahrungen zu beleben, und der Widerhall, den sie für Wert erachtet, in der Erinnerung bewahrt zu werden, brauchen alle eine entsprechende Formung, d.h. verlangen nach einem Vorgang der Auswahl, der Organisierung, der Konstruktion einer Geschichte, die man erzählt, wie es auch bei den mündlich überlieferten Geschichten der Fall ist.




Tosa Inu
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Philosophist hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 00:04
Ich selbst finde es interessant wie so unterschiedliche Denker wie Kant , Hegel, Nietzsche oder Heidegger auf ihre Weise je über das "Denken" nachgedacht haben. Ob für Kant allein das Denken eine "synthetische Kraft" weiß ich nicht..
Kann auch sein, dass ich mich da vertan habe, denn Kant sah das Ich als synthetische Kraft an. Das Denken hat neben den analytischen und damt trennenden, urteilenden Eigenschaften aber auch synthetische Eigenschaften.
Philosophist hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 00:04
vielleicht hat das Hegel oder Heidegger anders gesehen...Aber bei Heidegger wird das ganze eben auch anscheinend auf ein "dichterisches Denken" bezogen , was es so glaube ich nicht bei Kant oder Hegel usw. gab.
Zumindest das Ich haben sie anders gesehen. Hegel wunderte sich darüber, wieso das Ich nicht zerbirst, bei der Fülle ichzersetzender Eindrücke und Heidegger wollte mit dem Subjekt ja eher Schluss machen. Hier kann man sich übrigens erneut an östliche Philosophien erinnert fühlen, auch hier ist das Ich je eher nichts Dauerhaftes, sondern wird als gemischtes Bündel veränderlicher Eigenschaften (Skandhas) betrachtet.
Philosophist hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 00:04
Naja ich verstehe das Ganze hier erstmal in genereller Weise so, dass Denken mit Heilung irgendwie in Verbindung gebracht (eine heilende Funktion hat). Wie das aber genauer zu verstehen sein soll, vermag ich momentan nicht zu sagen.
Ich empfinde das in dem Gedicht auch so und ich glaube, dass Heidegger da in einer europäisierten Variante versucht, eine andere Antwort zu finden, als der Osten. Ic glaube er hat viel heilendes Potential in einer neuen Sprache gesehen, ohnehin war er ja der (nicht falschen) Meinung, dass die Sprache uns ja in vielem den Rahmen setzt. Was wir in einer Sprache nicht ausdrücken können, weil spezifische Begriffe fehlen, kann dann eben auch nicht ausgedrückt werden, insofern ist Sprache tatsächlich schicksalhaft, weil sie uns von bestimmten Erlebnissen abschneidet.
Philosophist hat geschrieben :
Mi 13. Sep 2017, 00:04
Hmm was letzteres anbetrifft, kann ich Heideggers Position in dieser Frage irgendwie verstehen.
Ich durchaus auch. Sich selbst als theoretisches Wesen zu entdecken und dann gleich die Welt zu bezweifeln, das hat schon Anklänge an die Hybris.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Do 14. Sep 2017, 20:31

Friederike hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 11:11

Ob man dem Gedicht Heideggers entnehmen kann, daß er die Heilfunktion im Denken und Dichten gesehen hat, oder aber nur im Denken oder aber in einem dichterischen Denken -und falls Letzteres zuträfe, was dichterisches Denken für ihn ist, das sind immer noch nicht beantwortete Fragen, oder? Ich würde mich, nur unter Bezugnahme auf das von uns besprochene Gedicht, immerhin soweit festlegen wollen, daß für ihn die das Heil bewirkende Tätigkeiten im Denken und im Dichten liegen. Das heißt, das Denken alleine vermag dies nicht. Nebenbei ist natürlich noch eine andere spannende Frage, was H. unter "heil"/"Heil" versteht.
Nun vom "dichterischen" Denken ist nicht die Rede im Gedicht. sondern nur vom Denken im Allgemeinen. Und ich sehe, dass gerade die letzten 4 Zeilen desselben , wo vom Denken und vom Heilem gesprochen wird ("Heilem der Behuf"), das sich dort sowas wie ein "Gesamt" Zusammenhang ergibt. Allerdings ist das eben eine Deutung von mir...und endgültige Gewissheit in dieser Frage, kann ich nicht anbieten. Mir scheint, dass eben von Heidegger einen Zusammenhang zwischen dem Denken und dem Heilem aufgemacht wird. So würde die Stelle eben für mich auch Sinn machen. Aber es sind eben "offene" Fragen, und eine Antwort mit endgültiger Gewissheit kann ich nicht geben. Das das Heil im Denken (und vielleicht auch im Dichten) für Heidegger liegt, wäre für mich daher keine große Überraschung. Ich verstehe "Heilem der Behuf" , das es hier grob gesagt um das Heilen geht. Aber evtl würde da Heidegger dieser Deutung widersprechen...("Heil(em)" kann ja eigentlich nur auf "heilen" verweisen oder?)...Das Denken wird im Grunde hier von Heidegger in den "Adelsstand" erhoben sozusagen 8-)
Friederike hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 11:11
Gefunden habe ich einen Aufsatz, der, unabhängig von Heidegger, das Thema "dichterisches Denken" vielleicht ein bißchen voranbringen könnte. B. Correa, "Arendt und das dichterische Denken":
Correa hat geschrieben : Und an diesem Punkt stoßen wir auf das „dichterische Denken“. Bei Benjamin, so Arendt, ist das dichterische Denken ein Denken, das die Sprache für „das größte Geschenk“ hält und der Metapher einen Erkenntniswert zuschreibt. Dank der Metapher ist es möglich, Begriffe mit „den Erfahrungen der Sinne“ zu verknüpfen. In ihrem Denktagebuch macht Hannah Arendt 1969 folgende Beobachtungen: „Was Denken und Dichten verbindet, ist die Metapher. In der Philosophie nennt man Begriff, was in der Dichtung Metapher heißt. Das Denken schöpft aus dem Sichtbaren seine Begriffe, um das Unsichtbare zu bezeichnen." (DT 728) Sofort interessiert uns, die Verbindung zu unterstreichen, die dank der Metapher zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Denken entsteht. In Benjamins Fall war es der Einsatz des metaphorischen Denkens, der ihn nach Arendt dazu brachte, die dialektischen „Vermittlungen“ beiseite zu schieben und sich von der metaphysischen Tradition zu trennen, um, wie schon gesagt, die Bedeutung zu erfassen, ohne dabei von den als sinnlich wahrgenommenen Fakten abzusehen. Dies bedeutet: durch die Metapher rettet man die sichtbare, gemeinsame Welt, in der sich unsere Handlungen und Taten abspielen.

In einem der ersten Absätze des Kapitels über das Handeln in ‚Vita Activa oder Vom tätigen Leben’ legt Arendt zusätzlich zu ihrer großen Wertschätzung der Literatur als Denkform die innige Verbindung zwischen der Condition Humaine, dem Handeln und dem Sinnlichen offen. Wenn, wie es die von Arendt zitierte Isak Dinesen sagt, „alle Gedanken ertragen werden können, wenn wir sie in eine Geschichte bergen oder eine Geschichte über sie erzählen“ (MZ 124), dann deswegen, weil das, was die Geschichte sichtbar werden lässt, die Enthüllung des „Wer“ einer Person ist, d.h. weil sie es möglich macht, dass wir in der Begegnung von zwei Erfahrungen, der des Erzählers und der des Zuhörers, jenem Augenblick beiwohnen, in dem der Funke eines Sinnes sichtbar wird und uns sein Schein erhellt. Arendt, die ihr Leben lang Gedichte schrieb, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, weiß sehr wohl um die Funktion und den Wert der Formgebung einer Erzählung. Die Wirksamkeit einer Geschichte, ihre Fähigkeit, Erfahrungen zu beleben, und der Widerhall, den sie für Wert erachtet, in der Erinnerung bewahrt zu werden, brauchen alle eine entsprechende Formung, d.h. verlangen nach einem Vorgang der Auswahl, der Organisierung, der Konstruktion einer Geschichte, die man erzählt, wie es auch bei den mündlich überlieferten Geschichten der Fall ist.
Ich danke für den Aufsatz und werde mir das in Ruhe anschauen ;)

(Nur soviel, sofern Hannah Arendt vom Dichten und Denken spricht, scheint sie mir da ganz eigentlich Heidegger zu folgen oder?)



φιλοσοφος και σοφιστες

"(...) sondern weil die Philosophie wesentlich eine menschliche, d.h. endliche Möglichkeit ist, deshalb steckt in jedem Philosophen ein Sophist." (Heidegger ,Gesamtausgabe, Band 27, S.24)

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Do 14. Sep 2017, 20:44

Tosa Inu hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 11:41
Kann auch sein, dass ich mich da vertan habe, denn Kant sah das Ich als synthetische Kraft an. Das Denken hat neben den analytischen und damt trennenden, urteilenden Eigenschaften aber auch synthetische Eigenschaften.
Kant spricht soweit ich mich erinnere vom "Ich denke" (dass alle meine Vorstellungen begleitet....) und es gibt einem Aufsatz von ihm mit dem Titel "Was heißt es sich im Denken zu orientieren?"....allerdings kenne ich mich mit Kants "Theorie" des Denkens eher weniger...Bei Hegel wird das Denken meist mit dem "Geist " in Verbindung gebracht. Das sind jedenfalls die Denker welche vor Heidegger sich Gedanken über das "Denken" gemacht haben. Aber sie sprachen eben nicht vom "dichterischen" Denken (obwohl Hegel und Kant sich auch mit Dichtung beschäftigt haben> siehe Ästhetik und Kritik der Urteilskraft).
Tosa Inu hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 11:41
Zumindest das Ich haben sie anders gesehen. Hegel wunderte sich darüber, wieso das Ich nicht zerbirst, bei der Fülle ichzersetzender Eindrücke und Heidegger wollte mit dem Subjekt ja eher Schluss machen. Hier kann man sich übrigens erneut an östliche Philosophien erinnert fühlen, auch hier ist das Ich je eher nichts Dauerhaftes, sondern wird als gemischtes Bündel veränderlicher Eigenschaften (Skandhas) betrachtet.
Ja, soweit ich mich erinnern kann, wird bei Heidegger das "Subjekt" eher in Frage gestellt , samt "Ich" (oder?)..und glaube ich durch den Begriff "Dasein" ersetzt werden. Dazu passen auch seine Ausführungen über das "Man" in "Sein und Zeit". ...man ist zunächst nicht "Ich-Selbst", sondern "Man-Selbst"...das dies an östliche Philosophie irgendwie anknüpft , kann gut sein.
Tosa Inu hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 11:41
Ich empfinde das in dem Gedicht auch so und ich glaube, dass Heidegger da in einer europäisierten Variante versucht, eine andere Antwort zu finden, als der Osten. Ic glaube er hat viel heilendes Potential in einer neuen Sprache gesehen, ohnehin war er ja der (nicht falschen) Meinung, dass die Sprache uns ja in vielem den Rahmen setzt. Was wir in einer Sprache nicht ausdrücken können, weil spezifische Begriffe fehlen, kann dann eben auch nicht ausgedrückt werden, insofern ist Sprache tatsächlich schicksalhaft, weil sie uns von bestimmten Erlebnissen abschneidet.
Das was du bezüglich der "europäisierten Variante" und dem "Osten" gesagt hast, kann vermutlich gut auf Heidegger zu treffen.. Das er die heilende Funktion auch auf die Sprache übertragen hat, kann ebenfalls gut sein, allerdings ist von dieser nicht wirklich die Rede dort, sondern nur vom Denken. An anderer Stelle in seinem Werk äußert er sich aber auch schon zur Sprache...und was wäre die Dichtung, das Dichten ohne die Sprache? Ich denke , dass ihm die Sprache des Dichtens und Denkens schon interessiert, nur wird es hier nicht ganz so sehr zum Thema, sondern wo anders thematisiert in seinem Werk. Aber man sollte natürlich immer versuchen auch den Gesamtzusammenhang zu reflektieren bei Heidegger und den gibt es schon bei ihm meines Erachtens.
Tosa Inu hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 11:41
Ich durchaus auch. Sich selbst als theoretisches Wesen zu entdecken und dann gleich die Welt zu bezweifeln, das hat schon Anklänge an die Hybris.
Die "Hybris" bei Heidegger wird eigentlich eher mit seinem politischem Handeln in Verbindung gebracht...in theoretischen Dingen bei ihm ist das eigentlich eher weniger der Fall (oder?).



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Philosophist hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 20:44
Ja, soweit ich mich erinnern kann, wird bei Heidegger das "Subjekt" eher in Frage gestellt , samt "Ich" (oder?)..und glaube ich durch den Begriff "Dasein" ersetzt werden. Dazu passen auch seine Ausführungen über das "Man" in "Sein und Zeit". ...man ist zunächst nicht "Ich-Selbst", sondern "Man-Selbst"...das dies an östliche Philosophie irgendwie anknüpft , kann gut sein.
Wobei man dann bei Heidegger als Sein-zum-Tode zu sich finden soll, was auch so ein Stück weit von den Bardo-Lehren inspiriert sein könnte, die Heidegger gekannt haben könnte.
Ansonsten gilt die Zuspitzung auf den Tod heute als umstrittener Punkt bei Heidegger, da man eigentlich nichts tatsächlich delegieren kann, egal wie unachtsam man lebt. Aber das hat mit unserem Thema weniger zu tun.
Philosophist hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 20:44
Das was du bezüglich der "europäisierten Variante" und dem "Osten" gesagt hast, kann vermutlich gut auf Heidegger zu treffen.. Das er die heilende Funktion auch auf die Sprache übertragen hat, kann ebenfalls gut sein, allerdings ist von dieser nicht wirklich die Rede dort, sondern nur vom Denken. An anderer Stelle in seinem Werk äußert er sich aber auch schon zur Sprache...und was wäre die Dichtung, das Dichten ohne die Sprache? Ich denke , dass ihm die Sprache des Dichtens und Denkens schon interessiert, nur wird es hier nicht ganz so sehr zum Thema, sondern wo anders thematisiert in seinem Werk. Aber man sollte natürlich immer versuchen auch den Gesamtzusammenhang zu reflektieren bei Heidegger und den gibt es schon bei ihm meines Erachtens.
Er hat der Sprache und auch dem Dichten ja viel aufgeladen, gerade weil er wohl dachte, dass man mit der Sprache neue Bereiche des Seins erobern kann.
Philosophist hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 20:44
Tosa Inu hat geschrieben :
Do 14. Sep 2017, 11:41
Ich durchaus auch. Sich selbst als theoretisches Wesen zu entdecken und dann gleich die Welt zu bezweifeln, das hat schon Anklänge an die Hybris.
Die "Hybris" bei Heidegger wird eigentlich eher mit seinem politischem Handeln in Verbindung gebracht...in theoretischen Dingen bei ihm ist das eigentlich eher weniger der Fall (oder?).
Das war keine Kritik an Heidegger, den ich mitunter brillant finde.
Mit der Hybris meinte ich das, was Heidegger kritisiert, nämlich die Idee Descartes' die Welt zu bezweifeln, nur weil man sich als Subjekt in einer von diesem Selbst durchs Denken ersonnenen Subjekt/Objekt-Spaltung erlebt. Also als nur mehr theoretisches Wesen, was meint von Warte der Theorie aus die Existenz Welt im Ganzen bezweifeln zu können. Das Bild, dass man ein theoretischer Beobachter ist, umringt von lauter "Dingen" in der Außenwelt, bei denen man sich nun zu fragen hat, ob sie irgendeinen Bezug zu einem haben.
Dem lässt Heidegger ja schön die Luft raus, auch mit dem Verweis auf das Zeug, die Zeughaftigkeit, sprich: den vortheoretisch immer schon vorhandenen/zuhandenen Bezug zu den Dingen, mit denen man längst umgeht, bevor man irgendwann ihre Existenz bezweifelt. Heidegger hat das in seltener Klarheit erkannt.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Fr 15. Sep 2017, 10:39

Philosophist hat geschrieben : (Nur soviel, sofern Hannah Arendt vom Dichten und Denken spricht, scheint sie mir da ganz eigentlich Heidegger zu folgen oder?)
Arendt gebraucht den Ausdruck "dichterisches Denken" speziell und nur bezogen auf Benjamin. Ob dies überhaupt ein Begriff ist, mit dem Heidegger generell hantiert hat, das entzieht sich meiner Kenntnis.




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Fr 15. Sep 2017, 12:35

Arendt erwähnt in dem oben zitierten Aufsatz die Elemente des Narrativen und der Metapher im Kontext dessen, was sie "dichterisches Denken" nennt.

Um den Schwenk aufs Eingangsthema wieder zu kriegen, habe ich bei Adorno ein bißchen herumgeblättert (Der Essay + ND) und möchte daraus lediglich eine seiner Denk- bzw. Schreib-Figuren, nämlich die "Konstellation" herausgreifen. "Konstellationen" verweben Begriffe in möglichst dichten und feinen "Texturen". Wie die Begriffe miteinander vernetzt sind, daraus gewinnt ein Text insgesamt, hier hauptsächlich der Essay als Gattungsform eines philosophischen Textes, seine Tragfähigkeit. "Alle seine Begriffe sind so darzustellen, daß sie einander tragen, daß ein jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mit anderen." Allein aus ihren Beziehungen zu anderen Begriffen, aus ihrer jeweiligen Anordnung im Essay, gewinnen die Begriffe ihre Bedeutung. Man müßte hier wohl besser "Worte" sagen, weil A. Definitiorisches ausschließt. Worte sollen also nicht in Definitionen "eingehegt" werden. Sie führen ein Art Eigenleben in ihren jeweiligen Zusammenhängen. Ich meine, daß man Adornos Konstellationstheorie damit in die Nähe zu poetologischen Ansätzen rücken kann, weil Gedichte auch wie "Gewebe" funktionieren, in dem die Wörter sich gegenseitig erhellen. Je nachdem im Rahmen welcher Sätze und welcher anderer Wörter sie stehen, verändern sich auch ihre Bedeutungen. Es ist so, als ob die Wörter, mit denen sie zusammen auftreten, jedes Wort selbst wieder verändert, sodaß Worte nie in -eindeutige- Begriffe überführt und verengt werden.*

Die Philosophie ist für Adorno wesentlich "Darstellung". Und die Darstellung geht über Begriffe, Definitionen und logisch schlüssige Sätze hinaus, d.h. sie wird auch in ihrer poetischen Funktion verwendet, um etwas auszudrücken. Sprache besitzt einen unbegrifflichen Teil, wenn sie 1. beispielsweise mit Rhythmus und Klang arbeitet. Die Philosophie sollte lt. Adorno diesen Teil der Sprache nicht vernachlässigen, weil die Philosophie sich aller Möglichkeiten, die das Medium "Sprache" beinhaltet, bedienen sollte. Zum unbegrifflichen Teil gehört aber auch gerade das 2. vom einem Begriff -im Sinne einer festgezurrten Bedeutung- jeweils ausgeschlossene, was unter Anwendung der konstellativen Schreibmethode ans Licht und das heißt ins Bewußtsein befördert werden kann.**

NS: Noch ein Zitat aus "Der Essay", weil ich meine, Hegels "Spekulativer Satz" habe Pate stehen können: "Er [der Essay] erstellt kein Gerüst und keinen Bau. Als Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung." Kristallisation durch Bewegung ist in sich widersprüchlich, denn Kristallisationen sind Verfestigungen und somit unbeweglich. Trotzdem denke ich, daß die beiden Begriffe "Kristallisation" und "Bewegung" zentral für das konstellative Verfahren A's sind, weil Konstellationen eben auch für einen Moment Strukturen bilden.

*Adorno, "Der Essay als Form", in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften (Bd 2) Frankf./M., 1997, S. 21ff.
**Adorno, "Negative Dialektik", in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften (Bd 6) Frankf./M. 19977, S. 27- 29.




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