Sprache der Sinne und Sprache des Begriffs

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Jörn Budesheim
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Mi 16. Aug 2017, 17:07

Verstehe, argumentieren ist unvernünftig :-)




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Jörn Budesheim
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So 20. Aug 2017, 10:28

Friederike hat geschrieben :
So 30. Jul 2017, 13:33
Ein Mitglied der Schiffsbesatzung, mit der Humboldt und Bonpland den Orinoko hinauffahren, bitte Humboldt darum, eine Geschichte zu erzählen:

Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen sei kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach dem Sextanten.


(Daniel Kehlmann, "Die Vermessung der Welt", Reinbeck 2007, S. 128).
Das vorliegende Thema "Sprache der Sinne und Sprache des Begriffs" ist auch für die Kritik an der diesjährigen documenta von großer Bedeutung. In der Zeitschrift Weltkunst wird dazu der Bildhauer Balkenhol zitiert.

Bei einem Spaziergang über die documenta sagt er: "das Gute an der Kunst ist doch, dass sie keine Funktion hat und nur um ihrer selbst willen existiert, zu ihren Hauptelementen zählen die Freiheit, die Neugier auf die Welt und die Fantasie. Und ein formal starkes Werk kann mithilfe dieser Stärke durchaus eine Botschaft verbreiten. Wenn aber die Botschaft beim Kunstwerk im Vordergrund steht, dann reicht mir das persönlich nicht. Ich halte es für eine fatale Rückkehr zu illustrativen Roller, die Kunst bis ins 19 Jahrhundert hinein erfüllen musste."

Nach Ansicht von Balkenhol gibt es auf der documenta wohl zuviel Humboldt und zu wenig Goethe, mit anderen Worten zu viel Botschaft/Inhalt und zu wenig Form.




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Alethos
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So 20. Aug 2017, 13:14

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mi 16. Aug 2017, 16:30

Dies darf man eigentlich seit Aristoteles als geklärt voraussetzen, der bereits gezeigt hat, dass die Unterscheidung von Form und Materie bloß eine begriffliche und somit relative ist. Denn es gibt kein Form-Ding, das ohne Materie wäre, und kein Materie-Ding ohne Form. (Beispiel: Die Steine, aus denen ein Haus besteht, sind, relativ zum Haus, dessen Materie. Aber wenn diese Steine noch unverbaut auf der Baustelle liegen, sind an ihnen wiederum Form und Materie zu unterscheiden; d.h. die Steine - die Materie des Hauses - haben ihrerseits eine Form.)
Ein schöner Thread, ich hoffe, er hat sich noch nicht erschöpft.

Ich möchte mich hier mit Hermeneuticus solidarisch geben und dem Argument unterstüzend zur Hilfe kommen. Nicht, dass ich denke, Hermeneuticus hätte meine Hilfe nötig, aber vielleicht braucht das vernünftige Argument ein wenig Hilfe :-)

Il n'y a pas Haus. So lautet mein Argument. Es gibt kein maison. Wir meinen eben nicht jeweils den gleichen Inhalt in Sprache, wenn wir die Form ändern, sondern einen anderen. Der Inhalt von Sprache ist ja nicht ein ontischer Gegenstand (der sehr wohl angesprochen wird) sondern seine semantische Formung, d.h. seine Bedeutung im Gesamtkontext, seine Relativität im Sprachgefüge. Z.B. ist ein 'Wellenmeer der Gefühle' etwas anderes als ein Meer mit Wellen, die Gefühle repräsentieren sollen. Und diese Bedeutung gibt es im Französischen nicht (und in keiner anderen Sprache), weil es keinen Begriff auf Deutsch gibt im Französischen. Natürlich haben auch Franzosen temperierte Innenleben :-)



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Alle lächeln in derselben Sprache.

Hermeneuticus
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So 20. Aug 2017, 17:15

Sei bedankt im Namen der Vernunft, Alethos! ;) Vielleicht ist "Vernunft-Helfer" keine schlechte Umschreibung für den Philosophen, auch in Erinnerung an Sokrates und seine Geburtshelferkunst.
Alethos hat geschrieben :
So 20. Aug 2017, 13:14
Wir meinen eben nicht jeweils den gleichen Inhalt in Sprache, wenn wir die Form ändern, sondern einen anderen. Der Inhalt von Sprache ist ja nicht ein ontischer Gegenstand (der sehr wohl angesprochen wird) sondern seine semantische Formung, d.h. seine Bedeutung im Gesamtkontext, seine Relativität im Sprachgefüge.
Ja, das wird man wohl als sprachlichen Grundsachverhalt akzeptieren müssen. Aber wir sind der Relativität und Kontextualität der Bedeutung nicht hilflos ausgeliefert. So gehört es zu unserer sprachlichen Grundausstattung, immer auch über Sprachliches und Gesprochenes sprechen und nachdenken zu können. Und das ermöglicht uns auch Absprachen darüber, was wir mit unseren Ausdrücken jeweils meinen. Wir können zu bestimmten Zwecken und für einen begrenzten Zusammenhang festlegen, dass "maison" und "Haus" durch einander ersetzt werden dürfen, ohne dass aus wahren Sätzen falsche werden und umgekehrt. M.a.W können wir von den Unterschieden, die zwischen den Wörtern "Haus" und "maison" und ihrem Gebrauch bestehen, abstrahieren.

Ohne solche Abstraktionen würde die Verständigung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, denn zwei Sprecher könnten sich dann nicht einmal sicher sein, ob sie dasselbe Wort verwenden, wenn sie - und zwar jeder auf seine individuelle Weise - eine bestimmte Lautfolge aussprechen. Wenn z.B. ein Engländer wagt, das Wort "Prachtstück" zu gebrauchen, ist er unbedingt auf den guten Willen seines deutschen Gesprächspartners angewiesen, damit das lautliche Resultat als dasselbe Wort durchgehen kann, das dieser vorher gerbaucht hat. :-) Das heißt aber: Die "Selbigkeit", die Identität von Wörtern und anderen sprachlichen Elementen ist keine selbstverständliche oder gar natürliche Gegebenheit, sondern beruht auf unserer Anerkennung, auf Absprachen, Abstraktionen usw. (Hegel würde vielleicht sagen, die Identität eines Wortes sei "in sich reflektiert".)

Die Substituierbarkeit von verschiedenen Sprachstücken und damit die Möglichkeit, auf verschiedene Weise "dasselbe" zu sagen, ist durchaus eine elementare Eigenschaft unserer Sprache. Aber es hängt immer von den Sprechern ab, ob und inwieweit sie sich gegenseitig zugestehen, auf ihre je eigene Weise "dasselbe" gesagt zu haben. Darauf kann man in Streitgesprächen leicht die Probe machen, denn dort nimmt die Großzügigkeit, in der Reformulierung des Kontrahenten die eigene Aussage wiederzuerkennen, oft rapide ab. Da besteht vielleicht plötzlich einer darauf, dass nur seine eigene Formulierung wiedergebe, was er "eigentlich" behauptet habe. Jede Umformulierung wird dann vielleicht zurückgewiesen als Missverständnis, als polemische Unterstellung oder als "Strohmann". (Wer etwas Erfahrung mit Online-Diskussionen hat, kennt das.)

Das ist also der Hintergrund meines Arguments. Verschiedene Ausdrücke können "dasselbe" bedeuten, aber weil die "Selbigkeit" der Bedeutung letztlich von den Sprechern abhängt und somit eine Angelegenheit gegenseitiger Anerkennung ist, ist es nicht sinnvoll, von Bedeutung so zu sprechen, als handele es sich um ein abgetrennt vorkommendes, irgendwie "gegebenes" Ding.




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iselilja
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So 20. Aug 2017, 19:51

Alethos hat geschrieben :
So 20. Aug 2017, 13:14

Il n'y a pas Haus. So lautet mein Argument. Es gibt kein maison. Wir meinen eben nicht jeweils den gleichen Inhalt in Sprache, wenn wir die Form ändern, sondern einen anderen. Der Inhalt von Sprache ist ja nicht ein ontischer Gegenstand (der sehr wohl angesprochen wird) sondern seine semantische Formung, [...]
Das klingt gut und wenig hilfebedürftig. :-) Mich stört ein wenig der Glaube, dem die Sprachphilosophie allzuoft folgt, Sprache wäre etwas, was auch ohne Interpreten objektiv analysierbar wäre. Insofern finde ich den Begriff Formung sehr viel gehaltvoller als von Form zu sprechen, die irgendwie beschaffen sei.




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Friederike
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Mo 21. Aug 2017, 09:48

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 20. Aug 2017, 17:15
Die Substituierbarkeit von verschiedenen Sprachstücken und damit die Möglichkeit, auf verschiedene Weise "dasselbe" zu sagen, ist durchaus eine elementare Eigenschaft unserer Sprache. Aber es hängt immer von den Sprechern ab, ob und inwieweit sie sich gegenseitig zugestehen, auf ihre je eigene Weise "dasselbe" gesagt zu haben. Das ist also der Hintergrund meines Arguments. Verschiedene Ausdrücke können "dasselbe" bedeuten, aber weil die "Selbigkeit" der Bedeutung letztlich von den Sprechern abhängt und somit eine Angelegenheit gegenseitiger Anerkennung ist, ist es nicht sinnvoll, von Bedeutung so zu sprechen, als handele es sich um ein abgetrennt vorkommendes, irgendwie "gegebenes" Ding.
H. Blumenberg folgend, finde ich das grobe Raster von "Eindeutigkeit" und "Vieldeutigkeit" geeignet, um den Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und der poetischen Sprache herauszustellen. Die Sprache der Wissenschaften tendiert in Richtung "Eindeutigkeit", während die Sprache der Poesie in Richtung der "Vieldeutigkeit" tendiert (die Alltagssprache berücksichtige ich an dieser Stelle nicht). Barthes' "Zwischen" aufgreifend könnte man es auch so ausdrücken, daß der Wissenschaftssprache daran gelegen ist, soweit wie möglich die "Dazwischen" an den Nullpunkt zu führen oder anders, die Bedeutungslücken zu schließen. Im Unterschied dazu ist es der poetischen Sprache eigen, die "Dazwischen" auszuweiten, und die Multizplizität der Bedeutungen ins Unendliche zu treiben. Während die Wissenschaftssprache versucht, die Vielfalt der Bedeutungen auf ein Minumum zu reduzieren, lebt die Poesie von der Bildung neuer Deutigkeiten. Auf die nicht-sprachliche Ebene angewendet, liegt eine Absicht der Poesie u.a. darin, die Selbstverständlichkeiten der "Lebenswelt" -vermittels sprachlicher Elemente- unvertraut zu machen, wohingegen sich die Wissenschaften die Gegenstände ihrer Untersuchungen -vermittels sprachlicher Elemente wie der Substituierbarkeit- vertraut und somit auch intersubjektivierbar machen.




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iselilja
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Mo 21. Aug 2017, 14:34

In der Poetik des Aristoteles findet sich eine ganz amüsante Stelle, wo er darüber schreibt, wie die Wahl der Worte und der Rede in ihrer zusammenhängenden Form auf den Zuhörer wirken. Das Schöne daran ist, dass er diese Stelle, wo es um Langatmigkeit, Langweiligkeit und ähnliches geht, so langatmig und langweilig und schier nicht enden wollend wiedergibt, dass dem Leser im selben Augenblick begreiflich wird, dass zwischen Form und Inhalt etwas entsteht, was weder Form noch Inhalt selbst preisgeben.

Das sprichwörtliche Lesen zwischen den Zeilen - das inter-legere - beginnt mit diesem Klick machen.




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Friederike
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Mo 21. Aug 2017, 18:09

iselilja hat geschrieben :
Mo 21. Aug 2017, 14:34
In der Poetik des Aristoteles findet sich eine ganz amüsante Stelle, wo er darüber schreibt, wie die Wahl der Worte und der Rede in ihrer zusammenhängenden Form auf den Zuhörer wirken. Das Schöne daran ist, dass er diese Stelle, wo es um Langatmigkeit, Langweiligkeit und ähnliches geht, so langatmig und langweilig und schier nicht enden wollend wiedergibt, dass dem Leser im selben Augenblick begreiflich wird, dass zwischen Form und Inhalt etwas entsteht, was weder Form noch Inhalt selbst preisgeben. Das sprichwörtliche Lesen zwischen den Zeilen - das inter-legere - beginnt mit diesem Klick machen.
Der Text zeigt, was er sagt, so würde ich es ausdrücken. Sag mal, kannst Du die Fundstelle direkt verlinken? Ich würde zu gern wissen, wie die Langatmigkeit etc. in der "Poetik" von A. funktioniert.




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iselilja
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Mo 21. Aug 2017, 18:25

Friederike hat geschrieben :
Mo 21. Aug 2017, 18:09
Sag mal, kannst Du die Fundstelle direkt verlinken?
Oje, ich fürchte da muss ich Dich spontan enttäuschen, ich hatte eben aus dem Gedächtnis rezitiert, was wir im Seminar vor langer Zeit mal hatten. Ich kann Dir nichtmal eine gute deutsche Übersetzung empfehlen, um selbst herumzustöbern. Aber ich kann Dir versichern, dass man es während der Lektüre nicht überliest. :-)

Ich habe eben, weil mir das jetzt keine Ruhe ließ nochmal selbst herumgestöbert, und ich meine, dass es dieser Abschnitt 22 war. Es geht also um das richtige Maß der sprachlichen Verwendung.
Aristoteles in Über die Poetik hat geschrieben : 22. Die vollkommene sprachliche Form

Die vollkommene sprachliche Form ist klar und zugleich nicht banal. Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht; aber dann ist sie banal. Beispiele sind die Dichtungen des Kleophon und des Sthenelos. Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist. Doch wenn jemand nur derartige Wörter verwenden wollte, dann wäre das Ergebnis entweder ein Rätsel oder ein Barbarismus: wenn das Erzeugnis aus Metaphern besteht, ein Rätsel, wenn es aus Glossen besteht, ein Barbarismus. Denn das Wesen des Rätsels besteht darin, unvereinbare Wörter miteinander zu verknüpfen und hiermit gleichwohl etwas wirklich Vorhandenes zu bezeichnen. Dies läßt sich nicht erreichen, wenn man andere Arten von Wörtern zusammenfügt, wohl aber, wenn es Metaphern sind, z. B. »Ich sah einen Mann, der mit Feuer Erz auf einen Mann klebte« und dergleichen mehr. Aus Glossen ergibt sich der Barbarismus. Man muß also die verschiedenen Arten irgendwie mischen. Denn die eine Gruppe bewirkt das Ungewöhnliche und Nicht-Banale, nämlich die Glosse, die Metapher, das Schmuckwort und alle übrigen genannten Arten; der übliche Ausdruck hingegen bewirkt Klarheit. Durchaus nicht wenig tragen sowohl zur Klarheit als auch zur Ungewöhnlichkeit der sprachlichen Form die Erweiterungen und Verkürzungen und Abwandlungen der Wörter bei. Denn dadurch, daß sie anders beschaffen sind als der übliche Ausdruck und vom Gewohnten abweichen, bewirken sie das Ungewöhnliche, dadurch aber, daß sie dem Gewohnten nahestehen, die Klarheit. Daher haben diejenigen unrecht, die eine solche Ausdrucksweise verwerfen und sich über den Dichter lustig machen, wie es der ältere Eukleides getan hat. Der behauptete nämlich, es sei leicht zu dichten, wenn es erlaubt sei, die Worte nach Belieben zu erweitern, und er parodierte den Dichter in eben diesem Sprachgebrauch: Epicharen eidon Marathonade badizonta und uk an geramenos ton ekeinu elleboron. Derlei Erweiterungen derart auffällig zu gebrauchen, ist lächerlich; hierbei maßvoll zu verfahren, ist die Regel, die für alle diese Wortarten gemeinsam gilt. Denn wenn man Metaphern und Glossen und die übrigen Arten unpassend verwendet, dann erreicht man dieselbe Wirkung, wie wenn man sie eigens zu dem Zweck verwendet, Gelächter hervorzurufen. Wie sehr sich hiervon der angemessene Gebrauch unterscheidet, kann man am Epos beobachten, indem man die üblichen Wörter in den Vers einfügt. Wenn man nämlich die Glossen und Metaphern und die übrigen Arten durch die üblichen Wörter ersetzt, dann kann man erkennen, daß wir richtig urteilen. So haben Aischylos und Euripides denselben iambischen Vers verwendet, wobei Euripides nur ein Wort veränderte, indem er einen üblichen, gewohnten Ausdruck durch eine Glosse ersetzte; der eine Vers klingt schön, der andere gewöhnlich. Aischylos hatte nämlich in seinem »Philoktet« geschrieben: phagedainan he mu sarkas esthiei podos; Euripides ersetzte esthiei durch thoinatai. Derselbe Unterschied ergibt sich, wenn man in dem Vers nyn de meon oligos te kai utidanos kai aeikes die üblichen Ausdrücke einsetzt: nyn de m'eon mikros te kai asthenikos kai aeides. Ebenso verhält es sich, wenn man den Vers diphron aeikelion katatheis oligen te trapezan wie folgt verändert: diphron mochtheron katatheis mikrn te trapezan. Ebenso verhalten sich zueinander: eiones booosin und eiones krazusin. Außerdem hat Ariphrades die Tragödiendichter verspottet: sie gebrauchten Ausdrücke, die niemand in der Umgangssprache verwende, wie z. B. domaton apo statt apo domaton, ferner sethen und ego de nin sowie Achilleos pevi statt peri Achilleos und dergleichen mehr. Indes, da alle diese Wendungen nicht zum Üblichen gehören, bewirken sie in der sprachlichen Form das Ungewöhnliche; Ariphrades jedoch hat hiervon nichts gewußt. Es ist wichtig, daß man alle die genannten Arten passend verwendet, auch die zwiefachen Wörter und die Glossen; es ist aber bei weitem das Wichtigste, daß man Metaphern zu finden weiß. Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung. Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag. Von den Wörtern sind die zwiefachen vor allem dem Dithyrambos angemessen, die Glossen den heroischen und die Metaphern den iambischen Versen. In den heroischen Versen ist allerdings alles verwendbar, was hier behandelt worden ist. Da die jambischen Verse nach Möglichkeit die Umgangssprache nachahmen, sind dort alle die Wörter angemessen, die man auch in der Alltagsrede verwenden würde; dergleichen sind der übliche Ausdruck, die Metapher und das Schmuckwort. Über die Tragödie und die Nachahmung durch Handeln haben wir jetzt genug gesagt.
Zuletzt geändert von iselilja am Mo 21. Aug 2017, 19:22, insgesamt 1-mal geändert.




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Friederike
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Mo 21. Aug 2017, 19:20

@iselilja, wirfst Du mal einen Blick hinein? §24 "Das Epos" - die epische Breite ... erkennst Du es wieder?




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iselilja
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Mo 21. Aug 2017, 19:28

Friederike hat geschrieben :
Mo 21. Aug 2017, 19:20
@iselilja, wirfst Du mal einen Blick hinein? §24 "Das Epos" - die epische Breite ... erkennst Du es wieder?
Da hatten wir wohl beide den selben Gedanken. :-) Im Altgriechischen ist der Text natürlich etwas länger, was die Sache beim Lesen etwas deutlicher werden lässt. Aber ich denke man kann das auch in der Übersetzung ganz gut "erfühlen".

Aber Du hast glaube ich recht, die Stelle die ich eigentlich meinte kommt in 24 vor..
Das Wunderbare bereitet Vergnügen; ein Beweis dafür ist, daß jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt, in der Annahme, dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu erweisen. Homer hat den übrigen Dichtern auch besonders gut gezeigt, wie man Täuschungen anbringen kann. Es handelt sich hierbei um den Fehlschluß. Wenn nämlich, sobald eine Tatsache A vorliegt oder eintritt, infolgedessen auch eine Tatsache B vorliegt oder eintritt, dann meinen die Leute, daß, wenn B vorliegt, auch A vorliege oder eintrete; dies ist ein Irrtum. Daher muß man, wenn A unwahr ist und B, falls A vorläge, ebenfalls mit Notwendigkeit vorläge oder einsähe, B hinzufügen; denn da unser Verstand weiß, daß B wahr ist, begeht er den Fehlschluß, auch A für wirklich zu halten. Ein Beispiel hierfür findet sich in den »Niptra«. Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist.
Ich finde das spricht auf nette Art für sich. :-)

Wir sind nämlich damals im Seminar, soweit ich das noch in Erinnerung habe über den Begriff Beweis gestolpert und haben daraufhin die implizierte Beweisführung als Begriff geschaffen.




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Alethos
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Mo 21. Aug 2017, 20:01

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 20. Aug 2017, 17:15
Sei bedankt im Namen der Vernunft, Alethos! ;) Vielleicht ist "Vernunft-Helfer" keine schlechte Umschreibung für den Philosophen, auch in Erinnerung an Sokrates und seine Geburtshelferkunst.
Alethos hat geschrieben :
So 20. Aug 2017, 13:14
Wir meinen eben nicht jeweils den gleichen Inhalt in Sprache, wenn wir die Form ändern, sondern einen anderen. Der Inhalt von Sprache ist ja nicht ein ontischer Gegenstand (der sehr wohl angesprochen wird) sondern seine semantische Formung, d.h. seine Bedeutung im Gesamtkontext, seine Relativität im Sprachgefüge.
Ja, das wird man wohl als sprachlichen Grundsachverhalt akzeptieren müssen. Aber wir sind der Relativität und Kontextualität der Bedeutung nicht hilflos ausgeliefert. So gehört es zu unserer sprachlichen Grundausstattung, immer auch über Sprachliches und Gesprochenes sprechen und nachdenken zu können. Und das ermöglicht uns auch Absprachen darüber, was wir mit unseren Ausdrücken jeweils meinen. Wir können zu bestimmten Zwecken und für einen begrenzten Zusammenhang festlegen, dass "maison" und "Haus" durch einander ersetzt werden dürfen, ohne dass aus wahren Sätzen falsche werden und umgekehrt. M.a.W können wir von den Unterschieden, die zwischen den Wörtern "Haus" und "maison" und ihrem Gebrauch bestehen, abstrahieren.

Ohne solche Abstraktionen würde die Verständigung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, denn zwei Sprecher könnten sich dann nicht einmal sicher sein, ob sie dasselbe Wort verwenden, wenn sie - und zwar jeder auf seine individuelle Weise - eine bestimmte Lautfolge aussprechen. Wenn z.B. ein Engländer wagt, das Wort "Prachtstück" zu gebrauchen, ist er unbedingt auf den guten Willen seines deutschen Gesprächspartners angewiesen, damit das lautliche Resultat als dasselbe Wort durchgehen kann, das dieser vorher gerbaucht hat. :-) Das heißt aber: Die "Selbigkeit", die Identität von Wörtern und anderen sprachlichen Elementen ist keine selbstverständliche oder gar natürliche Gegebenheit, sondern beruht auf unserer Anerkennung, auf Absprachen, Abstraktionen usw. (Hegel würde vielleicht sagen, die Identität eines Wortes sei "in sich reflektiert".)

Die Substituierbarkeit von verschiedenen Sprachstücken und damit die Möglichkeit, auf verschiedene Weise "dasselbe" zu sagen, ist durchaus eine elementare Eigenschaft unserer Sprache. Aber es hängt immer von den Sprechern ab, ob und inwieweit sie sich gegenseitig zugestehen, auf ihre je eigene Weise "dasselbe" gesagt zu haben.)
Das gefällt mir sehr gut und kann ich, denke ich, auch nachvollziehen. Eine Bedeutung wird hergestellt durch die Verständigung über die Selbigkeit der Bedeutung eines Begriffs. Die Form des Ausdrucks, oder besser, die Formalität des Ausdrucks wird zum sekundären Vehikel, der die Übereinkunft zu einem Begriffsinhalt zwar "trägt", selbst aber nichts über den Inhalt aussagt. Es ist auch deshalb, dass Wörterbücher funktionieren. Die Übersetzung von einer Sprache in die andere ist nur möglich durch einen Transfer von Bedeutung jenseits des formalen Begriffs. Hierfür ist die Abstraktion von der Form und die Hinwendung an die intersubjektive Idealität des Begriffsinhalts notwendig. Geheimsprachen funktionieren ja auch so, über eine Codierung (Konvention).

Wir müssen dann aber präziser Weise sagen, dass die Form des Begriffs nur vordergründig variabel ist. Es ändert vielleicht die Form des Wortes von maison zu Haus, aber die Konvention, welche Form und Inhalt der Verständigung auf eine Bedeutung darstellt, bleibt sich gleich. Form und Inhalt, nämlich die Konvention selbst, bleibt bestehen. Die Form gehört zum Inhalt wie das Salz zum Salzwasser. Man kann es entsalzen, aber dann ist es eben kein Salzwasser mehr, was man anerkennen muss.



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Hermeneuticus
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Di 22. Aug 2017, 23:12

Friederike hat geschrieben :
Mo 21. Aug 2017, 09:48
H. Blumenberg folgend, finde ich das grobe Raster von "Eindeutigkeit" und "Vieldeutigkeit" geeignet, um den Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und der poetischen Sprache herauszustellen. Die Sprache der Wissenschaften tendiert in Richtung "Eindeutigkeit", während die Sprache der Poesie in Richtung der "Vieldeutigkeit" tendiert (die Alltagssprache berücksichtige ich an dieser Stelle nicht).
Ja, damit bin ich durchaus einverstanden. Ich möchte nur zwei Bemerkungen daran anknüpfen.

Die Tendenz zur Vereindeutigung macht sich nicht nur in den Wissenschaften bemerkbar, sondern auch schon vorwissenschaftlich, lebensweltlich in den Fachsprachen (wie z. B. im Handwerk, der Seefahrt oder der Jurisdiktion). Überall, wo sprachliche Missverständnisse folgenreich sein können, lohnt es sich, die Ausdrucksweise zu standardisieren und die Unterscheidungen zu verfeinern. Dort "arbeitet" die Sprache gewissermaßen, sie wird zum Werkzeug einer möglichst reibungslosen Verständigung. - In der Poesie dagegen darf die Sprache "feiern" (Wittgenstein). Sie ist gewissermaßen aus dem alltäglichen Zweckgefüge "ausgekuppelt", "freigestellt", "gelöst". Sie wird zum Ausdruck und Gegenstand von Freude, Spiel, Genuss.

Und das bringt mich auf meinen oben schon einmal unterbreiteten Vorschlag mit der Reflexivität zurück. Denn die Vieldeutigkeit der poetischen Sprache scheint mir erheblich auch dadurch bedingt zu sein, dass der sprachliche Ausdruck selbst zum Thema oder wenigstens zum Gegenstand der Aufmerksamkeit wird und so den zweckmäßigen Durchblick auf eine vom Ausdruck klar unterschiedene "Sache" verschleiert.

Das lässt sich an Deinem Beispiel "Wanderers Nachtlied" elementar studieren. Man könnte ja meinen, dass die Sprache dieses Gedichts betont schlicht sei, auf allen üppigen Zierrat verzichte und "einfach so dahingesagt" wirke. Es werden zunächst auch nur drei Sachverhalte aneinander gereiht: Über den Berggipfeln ist Ruhe, in den Baumwipfeln regt sich kaum ein Windhauch, die Vögel schweigen im Wald. Das ist eine knappe, irreflexive Beschreibung von nächtlicher Waldesstille, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt und so weit auch nichts Besonderes oder Weltbewegendes ist. (Es ist also kein Zufall, dass sich Humboldt, dem Mann der natürlichen Tatsachen, ausgerechnet dieses Gedicht eingeprägt hat; es kommt seiner Nüchternheit scheinbar von sich aus entgegen.) Erst mit den beiden letzten Zeilen bekommt das beschriebene Bild einen tiefen Riss und kippt die Bedeutung ins Abgründige: "Warte nur, balde ruhest du auch." Jetzt wird die Ruhe doppeldeutig, ja beunruhigend. Sehnt der Sprecher, der zu sich selbst spricht, sich nach dieser Ruhe? Oder empfindet er sie als bedrohlich? Wie auch immer - er selbst scheint nicht an der Ruhe um ihn her teilzunehmen. Er ist mit sich selbst beschäftigt... Vom selbstreflexiven Ende des Gedichts her bekommt die scheinbar irreflexive, nur beschreibende Sprache des Beginns plötzlich einen fragmentarischen, rätselhaften Charakter.
Zur Vieldeutigkeit des sprachlichen Ausdrucks trägt allerdings ganz erheblich auch das teils freie, teils durch Reim gebundene Versmaß bei; denn das hebt die Sprache gleich von Anfang an ab von alltäglich feststellender Rede und überzieht sie mit einer komplexen Gliederung. Aber das will ich jetzt nicht mühsam auseinanderklamüsern. Nur auf eins sei hingewiesen: Die beiden Zeilen "kaum einen Hauch" und "ruhest du auch", die sich auf Distanz reimen, wirken rhythmisch abschließend; sie unterbrechen gewissermaßen den eher fließenden Rhythmus der anderen Zeilen mit einer festen Struktur: / ~ ~ / Sie haben daher einerseits etwas Innehaltendes, Abschließendes, andererseits kommt der reimende Abschluss mit dem "auch" so überraschend, dass er nicht wirkt wie ein Punkt, sondern eher wie ein Doppelpunkt vorm Verstummen: " - - - - - " Es hängt also noch allerlei Ungesagtes, bewusst Ausgespartes in der Luft nach diesem "auch".

Auch die Versgestaltung durch Rhythmus, Reim, Zeilenumbruch usw. ist m.E. ein Beleg für die Reflexivität der poetischen Sprache: Zum einen setzt sie dadurch eine Zäsur zur gewöhnlichen Prosa hin; zum anderen lenkt diese Strukturierung einen großen Teil der Aufmerksamkeit auf die lautliche Gestalt der Rede, die als zusätzlicher Bedeutungsträger mobilisiert wird.

Auf die nicht-sprachliche Ebene angewendet, liegt eine Absicht der Poesie u.a. darin, die Selbstverständlichkeiten der "Lebenswelt" -vermittels sprachlicher Elemente- unvertraut zu machen, wohingegen sich die Wissenschaften die Gegenstände ihrer Untersuchungen -vermittels sprachlicher Elemente wie der Substituierbarkeit- vertraut und somit auch intersubjektivierbar machen.
Hmmm, "intersubjektivierbar" finde ich aber gerade auch die poetische Sprache. Nur unterscheidet sich der Stil ihrer "Intersubjektivität" von jener Nachvollziehbarkeit, die Fachsprachen durch möglichst eindeutigen und standardisierten Ausdruck bewirken.




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Jörn Budesheim
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 22. Aug 2017, 23:12
die Vögel schweigen im Wald
Goethe hat geschrieben : Die Vögelein schweigen im Walde.
Das gehört zu meinem Schul-Erinnerungen. Unser Deutschlehrer hat uns mal das Gedicht von Goethe vorgelegt und gefragt, wie man es noch verbessern könnte. Wie er später erläutete, hatte er dasselbe auch im Kollegenkreis diskutiert. Er war der festen Überzeugung, dass die "Vögelein" im Gedicht eigentlich nicht passen und durch "Vögel" ersetzt werden sollten. Dann wäre die völlige Schlichtheit, von der du oben auch gesprochen hast, erreicht und das Gedicht wäre dann perfekt.




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Die Ansicht Deines Lehrers kann ich nicht teilen. "Vögelein" ist schon OK. Und wurde wie "Walde" (statt Wald) vermutlich aus rhythmischen Gründen gewählt.




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Jörn Budesheim
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Das e im Walde hat er nicht moniert :-) das ist einfach beim Zitieren drin geblieben.




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Fr 25. Aug 2017, 06:04

Friederike hat geschrieben :
So 30. Jul 2017, 13:33
Ich würde den Unterschied so ausdrücken, daß die Sprache des Gedichtes sinnlich präsent ist
Ich denke, das mit der sinnlichen Präsenz, wobei die Betonung auf Präsenz liegen soll, ist ein wichtiger Punkt. Die Alltagssprache ist oft, wenn natürlich auch nicht immer, transparent. Das soll heißen, dass wir dabei gewissermaßen direkt den Sinn erblicken. Schaut man aufgedruckte (gepixelte) Zeichen, die man versteht, fällt es schwer, vom Sinn abzusehen... Die Druckerschwärze (die Pixel) werden in einem gewissen Sinn unsichtbar bzw eben transparent, unauffällig. Man kann ganz bewusst versuchen, diesen Effekt abzuschütteln: Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück (Karl Kraus). Wenn man ein Wort dauernd wiederholt, dann schüttelt man sozusagen den Sinn heraus bis der schiere Schall erscheint.

In der Dichtung kann das, was ansonsten transparent ist, wieder präsent werden. Einzelne Vokale oder auch ihr Fehlen, wie Friederike sagt, können plötzlich wieder thematisch, wieder auffällig werden. Es es ja ein altbekannter Topos, dass Kunst das Unsichtbare sichtbar machen kann. Und auch dieser Aspekt gehört meines Erachtens dazu.

In manchen Da Da Gedichten beispielsweise ist das bis zum Extrem gesteigert. Ich erinnere mich beispielsweise an einem DaDa Konzert bei dem "über allen Gipfeln ist Ruh'" vorgetragen wurde. Das startete mit einer Aufforderung den Konsonanten R zu üben: Übe rrrrrrrrrr! Und ging ziemlich gnadenlos weiter ...

(Das war einerseits natürlich bewusste Provokation gegenüber einem bildungsbürgerlichen Anbetungs-Produkt > wenn man so will, eine Zerstörung des Sinns. Andererseits aber auch eine Erforschung des Materials des Gedichtes, was einen gewissen Respekt davor ausdrückte. Und drittens natürlich auch witzig.) In solche Extreme begibt sich Goethe hier natürlich nicht, das wäre dem Gedicht auch unangemessen :) und "vermutlich" auch für die Zeit undenkbar gewesen 😉

Auch wenn wir uns an Reime natürlich gewöhnt haben, so dass sie in einer gewissen Hinsicht zur Transparenz neigen, erfüllen Sie dennoch weiterhin (auch) die Funktion, Aspekte der Sprache aus der Unauffälligkeit zu holen, so dass man das, was man ansonsten überhört wieder hört. (Natürlich macht dass nur einen Teil dieses Gedichtes aus, aber keinen unwichtigen, wenn man an die obige Paraphrase Humboldts denkt.)





Hermeneuticus
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Goethe hat mit "Wanderers Nachtlied" einen romantischen Topos begründet: der einsame Mensch im nächtlichen Wald. Mir fallen zu Schuberts Vertonung sofort die beiden Eichendorff-Gedichte "Mondnacht" und "Der Einsiedler" ein. Beide wurden von Schumann wunderbar vertont. Mehr als die "Mondnacht":



gefällt mir persönlich der "Einsiedler":



Fischer- Dieskau macht das Lied zu einem zuverlässigen Gänsehaut-Automaten...


Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst Du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehn
Und lassen mich hier einsam stehn,
Die Welt hat mich vergessen,
Da tratst Du wunderbar zu mir,
Wenn ich beim Waldesrauschen hier
Gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, Du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Lass ausruhn mich von Lust und Not,
Bis dass das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.

Diese Interpretation ist noch schöner, und zwar dank Gerald Moore am Klavier...





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Was Nauplius an anderer Stelle erörtert hat, das passt übrigens auch sehr gut hierher, weswegen ich es einfach mal kommentarlos verlinke.
Nauplios hat geschrieben :
Fr 25. Aug 2017, 02:53
Odysseus List ist im 12. Gesang der Odyssee eigentlich nicht gefragt, verrät ihm doch die Göttin Kirke, wie er der Gefahr der Sirenen begegnen könne. Deren Gesang ist bekanntlich so betörend und schön, daß sich Odysseus an den Mast binden läßt und die Gefährten ihre Ohren mit Wachs verstopfen. Der göttliche Rat verschafft Odysseus das einmalige Erlebnis, den Gesang der Sirenen zu hören, ohne dafür den Preis des Untergangs zahlen zu müssen. Die arabische Überlieferung kennt hingegen eine Reihe von Zeugnissen, in denen die Hörer der Koranrezitation sich spontan zum Islam bekennen, ohne den altarabischen Text überhaupt verstehen zu können. Allein die Ästhetik des Vortrags bewirkt ihre Konversion. Kein Wunder, daß es vor allem die Dichter sind, die vom Wunder der Rezitation auf wunderbare Weise zum Islam übertreten. Die List hat hier, wenn man das so sagen darf, die Seiten gewechselt. Die durch Unkenntnis der Sprache verstopften Ohren - andere Ursachen waren Hochmut und Feindschaft - waren kein Garant für die Unempfänglichkeit der koranischen Verse. Vergleicht man dies mit Erweckungs- und Bekehrungsmomenten aus der christlichen Tradition, dann fällt auf, daß es nicht so sehr die offenbarte Wahrheit ist, die moralisch-ethische Botschaft (Paulus, Augustinus, Pascal ... ), sondern die Schönheit der Dichtung und ihres Vortrags, welche entscheidend für den Entschluß sind, sich dem Islam zuzuwenden. Wer heute Koranrezitationen im Internet aufruft, wird auf eine Vielzahl von Bekundungen der Rührung stoßen. Das hat eine jahrhundertealte Tradition. Schon die ersten Hörer von Koranversen weinten vor Rührung angesichts der Schönheit dieser Verse.

Gott hat herabgesandt die schönste Kunde (ahsana l-hadit)
Ein Buch, sich ähnlich wiederholend,
Von dem die Haut erschauert derer,
Die fürchten ihren Herrn, dann schmeidigt
Sich ihre Haut und ihre Herzen
Der Mahnung Gottes.
(Sure 39:23)




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Für mich als musikalischen Laien klingen die Vertonungen Schuberts immer so, als seien sie irgendetwas zwischen "normalem" Gedichtvortrag und Musik aber nicht wirklich eins von beiden.




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