Sprache der Sinne und Sprache des Begriffs

In diesem Forum geht es um alle Formen der Literatur und Poesie
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Friederike
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So 30. Jul 2017, 13:33

Ein Mitglied der Schiffsbesatzung, mit der Humboldt und Bonpland den Orinoko hinauffahren, bitte Humboldt darum, eine Geschichte zu erzählen:

Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen sei kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach dem Sextanten.


(Daniel Kehlmann, "Die Vermessung der Welt", Reinbeck 2007, S. 128).

Wüßte Bonpland nicht um das Gedicht, dann würde er sicher nicht fragen, zumindest würde er nicht s o fragen, und würden die LeserInnen des Romans das Gedicht nicht kennen, verstünde man die Komik der Frage von Bonpland nicht. Inhaltlich gibt Kehlmanns "Humboldt" in indirekter Rede "Wanderers Nachtlied" von Goethe wieder. In Begriffe gefaßte Aussagen sind es, auf die Humboldt das Gedicht reduziert.

Über allen Gipfeln Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.


"Reduziert", wie ich meine. Warum und inwiefern? Goethe setzt (mich) in ein Bild; in das doppelte Bild einer Natur- und Gedankenlandschaft. Sprachlich betrachtet, ist es die Auswahl, die Reihenfolge, der Rhythmus der der Wörter, das sind ergänzte oder fehlenden Vokale, es ist die Anordnung der Zeilen, der Reim. Ich würde den Unterschied so ausdrücken, daß die Sprache des Gedichtes sinnlich präsent ist ... oder vielleicht besser, daß die Sprache des Gedichtes die Sinne aktualisiert. Schwer zu unterscheiden. "Aussagen" erschaffen eine Wirklichkeit. Möglicherweise zu pathetisch, das Gedicht läßt die Lesenden (oder auch Hörenden) eine Wirklichkeit kreieren.




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Jörn Budesheim
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So 30. Jul 2017, 14:52

Ich würde hier mir der altbacken Unterscheidung von Inhalt und Form kommen. Humboldt scheint keinen Sinn für künstlerische Form zu haben und greift alsbald wieder nach dem Sextanten, der anscheinend für ihn die angemessene Form der Vermessung der Welt ist.

Die Tatsache, dass man von dem Gedicht angesprochen wird - im doppelten Sinn von Ansprechen - ignoriert er. Weder fällt ihm die ansprechende Form auf, noch die Ansprache bei dem das "du", das der Künstler mitten ins Schweigen platziert, sowohl ihm selbst als auch dem Leser des Gerichts gelten mag. Sogar der Zoom des Gedichtes droht in der Zusammenfassung verloren zu gehen, das heißt die Bewegung aus der Ferne der Gipfeln zur unmittelbaren Präsenz des "ich" verliert sich im allgemeinen "man" ...

Humboldt arbeitet daran sich selbst aus dem Bild herauszunehmen - die Gegenbewegung versteht er nicht :-)




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iselilja
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So 30. Jul 2017, 15:26

Ich nenne es die Kunst der Sprache, die uns (gewiß nicht jeden von uns) eine Art Inszenierung schaffen lässt, die über das Objektive von Aussagen hinausgeht. Unser Geist beginnt zu spielen mit den Worten, wenn die Worte so gewählt sind, dass sie zum Spiel einladen.

Ich habe in den letzten Tage mir die Serie "Game Of Thrones" angesehen.. ja ich habe einen wahren Marathon hingelegt und die einzelnen Folgen regelrecht verschlungen. Unglaublich wie man so seine Nächte verbringen kann. Obwohl mir gesagt wurde, dass das Buch "A Song of Ice and Fire" natürlich viel besser sei und die filmische Umsetzung geradezu platt erscheinen lässt. Ich habe daraufhin den Begriff "längster Mittelalter-Fantasy-Porno der jeh gedreht wurde" erschaffen. Und trotzdem musste ich einfach immer weiter sehen. Natürlich auch angeregt, durch die obligatorischen Köstlichkeiten der Filmemacher: keine Folge ohne Cliffhanger!, Sex sales! und vor allem spannende Dialoge!

Hätte ich das Buch gelesen, wären die entsprechenden Bilder in meinem Kopf ganz andere. Ich hätte sie selbst inszenieren müssen. Ähnlich ist es mit der Poesie - ist sie gut, entstehen schöne Bilder im Geiste.




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Friederike
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Mo 31. Jul 2017, 15:10

Jörn Budesheim hat geschrieben : Ich würde hier mir der altbacken Unterscheidung von Inhalt und Form kommen.

Meine Idee dazu war, daß der Inhalt gemeinsam mit der Form ein anderer wird. Ich muß aber noch darüber nachdenken, weil die Idee hatte ich nicht, ob der entscheidende Punkt weniger im ästhetischen Unverständnis des von Kehlmann entworfenen, wissenschaftlich quantifizierenden und katalogisierenden Humboldt liegt, als vielmehr in dem, was Du beobachtest.
Jörn hat geschrieben : Humboldt arbeitet daran sich selbst aus dem Bild herauszunehmen - die Gegenbewegung versteht er nicht :-)
Sicher bin ich mir allerdings noch nicht, ob die Unbeteiligtheit Humboldts zwingend mit seinem wissenschaftlichen Rationalisierungsdenken zusammengehört.




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Friederike
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Mo 31. Jul 2017, 15:35

iselilja hat geschrieben : Hätte ich das Buch gelesen, wären die entsprechenden Bilder in meinem Kopf ganz andere. Ich hätte sie selbst inszenieren müssen. Ähnlich ist es mit der Poesie - ist sie gut, entstehen schöne Bilder im Geiste.
Ich meine mich zu erinnern, daß ich früher einmal bei Hegel Stellen gelesen habe (es müßte in der "Logik" gewesen sein), die derart begrifflich abstrahierten, daß sich so eine Art von Kipp-Effekt einstellte. Die bis zum Maximum getriebene Abstraktion, die sich am Spitzenpunkt ins Gegenteil verkehrt. Das heißt, reinster Begriff, der Bild wird. Was ich heute bisher bei Hegel gefunden habe, entspricht leider noch nicht dem, wonach ich suche.




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iselilja
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Mo 31. Jul 2017, 21:43

Friederike hat geschrieben :
iselilja hat geschrieben : Hätte ich das Buch gelesen, wären die entsprechenden Bilder in meinem Kopf ganz andere. Ich hätte sie selbst inszenieren müssen. Ähnlich ist es mit der Poesie - ist sie gut, entstehen schöne Bilder im Geiste.
Ich meine mich zu erinnern, daß ich früher einmal bei Hegel Stellen gelesen habe (es müßte in der "Logik" gewesen sein), die derart begrifflich abstrahierten, daß sich so eine Art von Kipp-Effekt einstellte. Die bis zum Maximum getriebene Abstraktion, die sich am Spitzenpunkt ins Gegenteil verkehrt. Das heißt, reinster Begriff, der Bild wird. Was ich heute bisher bei Hegel gefunden habe, entspricht leider noch nicht dem, wonach ich suche.
Vielleicht ist Hegel in dieser Sache nicht unbedingt die beste Quelle. Käme darauf an, wonach Du genau suchst. So ganz schlau werde aus Deinem Anfangsartikel noch nicht, obwohl er inspirierend wirkt.




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Jörn Budesheim
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Mi 2. Aug 2017, 08:26

Friederike hat geschrieben : Meine Idee dazu war, daß der Inhalt gemeinsam mit der Form ein anderer wird.
So ähnlich würde ich es mir auch vorstellen.

Nehmen wir die berühmt/berüchtigte Triangulation in den Blick, die meines Erachtens zu den Grundbedingungen der Kommunikation gehört. Dieses Dreieck besteht aus zwei kommunizierenden Sprechern (wenn man so will: die Basis) und dem Gegenstand der Rede (wenn man so will: die Spitze).

Bei der Kommunikationsart des Sextantenliebhabers geht es (alles natürlich aufs Gröbste vereinfacht) allein um das, was an der Spitze des Dreiecks zu finden ist. Wie die Umstände, um die es geht, ausgedrückt werden, ist egal. (Man nimmt sich selbst und den eigenen Ausdruck aus dem Bild.)

Bei dem Gedicht liegen die Dinge anders. Die Basis des Dreiecks (das Material der Kommunikation) wird selbst zum Gegenstand der Kommunikation, also zur Spitze des Dreiecks. So dass wir es mit einer "dialektischen Doppelspitze zu tun haben" :-) wobei der "ursprüngliche" Inhalt (derjenige, der ausschließlich bei Humboldt in den Blick kommt) gemeinsam mit der Form ein anderer wird, weil die Form und seine Beziehung zum Inhalt selbst zum Inhalt wird, so dass schließlich über den Inhalt nur in dieser Form berichtet werden kann.

Das heißt die eigentliche "Stärke" der Sprache, dass man alles, was man sagen kann, stets auch in anderen Worten sagen könnte, wird zurückgenommen. Dadurch kommt ein neues Paar ins Spiel. Neben das Duett von Form und Inhalt tritt das Duett von Allgemeinem und Besonderen. Weil das, was zu sagen ist, sich nur in dieser speziellen Form zeigt, wird klar, dass es um diesen einen besonderen Augenblick ging. Was uns Leser verrückter weise jedoch nicht davon abhält, solche besonderen Augenblicke auch erleben zu können :-)

Das, was dem Sextanten notwendig entgeht und was er bewusst ausblendet: Das Jetzt und das Hier werden zum Mitspieler und Hauptakteur des Gedichts!




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iselilja
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Mi 2. Aug 2017, 22:25

:-) Gut, das ist nur eine Spielerei, die textimmanente Zusammenhänge (also die am häufigsten betrachteten Aspekte Form und Inhalt) offensichtlich macht, auch weil es natürlich einen Sonderfall darstellt.

Ein kurzer Ausschwenker in die Informatik zeigt uns allerdings auch nicht viel anderes, als Ihr beiden bereits sagt:
Friederike hat geschrieben:
Meine Idee dazu war, daß der Inhalt gemeinsam mit der Form ein anderer wird.
Jörn hat geschrieben:
So ähnlich würde ich es mir auch vorstellen.

Verändern wir die Form, verändern wir damit zwangsläufig den Inhalt. Wobei ich mit dem Wort Inhalt an dieser Stelle nicht so recht zufrieden bin, denn eigentlich wird das Resultat des Textes verändert, obwohl der objektiv erfassbare Inhalt seiner Wertigkeit nach unverändert bleibt - dennoch es entsteht dabei etwas anderes. Und ich hatte das glaube schon erwähnt - wie die Poesie Bilder vor unserem geistigen Auge erzeugt, so auch Computerprogramme auf dem Bildschirm. Verändern wir die Form der Poesie oder des Programms verändert sich das dabei entstehende Bild. Und da wir ja im Grunde damit bereits auch über allgemeine Sprache reden, glaube ich, dass es so auch in der Kommunikation läuft.. wie sagt man so schön: der Ton macht die Musik.




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Jörn Budesheim
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Do 3. Aug 2017, 05:19

iselilja hat geschrieben : Verändern wir die Form, verändern wir damit zwangsläufig den Inhalt
... bei einem Gedicht.




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Friederike
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Sa 12. Aug 2017, 19:12

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 3. Aug 2017, 05:19
iselilja hat geschrieben : Verändern wir die Form, verändern wir damit zwangsläufig den Inhalt
... bei einem Gedicht.
Der semantische Gehalt ist das, was sich substituieren läßt. Meine These geht allerdings dahin, daß sich die sinnliche Dimension und die Bedeutung (d.i. der semantische Gehalt) nicht nur beim Gedicht nicht auseinanderdividieren lassen, sondern bei viel mehr Sorten von Text und Rede (Umgangssprache, Essay, Kommentar, narrative Literatur, vielleicht sogar Nachrichten). Vorausgesetzt habe ich der Bequemlichkeit halber, daß Form mit "sinnlicher Dimension" und Inhalt mit "semantischem Gehalt" gleichbedeutend sind.




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Jörn Budesheim
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Sa 12. Aug 2017, 19:57

Würde das nicht bedeuten, dass ein Bayer, der einen Sachsen nach dem Weg fragt, damit ein unmögliches Unterfangen startet? Und Gespräche zwischen Deutschen und Franzosen wären hoffnungslos.




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Friederike
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So 13. Aug 2017, 14:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 12. Aug 2017, 19:57
Würde das nicht bedeuten, dass ein Bayer, der einen Sachsen nach dem Weg fragt, damit ein unmögliches Unterfangen startet? Und Gespräche zwischen Deutschen und Franzosen wären hoffnungslos.
Ja. Ersetzbarkeit und somit Übersetzung sind nur dann möglich, wenn Aussageinhalt und Aussageform getrennt werden können. Da es eine Tatsache ist, daß die Wegbeschreibung einer x-sprachigen Person von einer y-sprachigen Person unter bestimmten Voraussetzungen verstanden werden kann, folgt daraus, daß Inhalt und Form unter bestimmten Voraussetzungen voneinander getrennt werden können. Soweit ich es jetzt vorausblickend überdenke, scheint es nicht sinnvoll, diesen Weg weiter zu verfolgen, indem man die "bestimmten Voraussetzungen" näher expliziert. Er dürfte in einer Sackgasse münden. Anstelle dessen müßten der semantische Gehalt und insbesondere die "sinnliche Dimension" genauer in Augenschein genommen werden. Das werde ich tun.




Hermeneuticus
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Mo 14. Aug 2017, 07:02

Friederike hat geschrieben :
So 13. Aug 2017, 14:28
Anstelle dessen müßten der semantische Gehalt und insbesondere die "sinnliche Dimension" genauer in Augenschein genommen werden. Das werde ich tun.
Mir scheint diese Unterscheidung "Inhalt - (sinnliche) Form" nicht glücklich gewählt zu sein. Es ist zwar eine altehrwürdige Unterscheidung, die sich scheinbar von selbst versteht, aber sie wird der Sache - der poetischen Sprache im Unterschied zur nicht-poetischen - nicht gerecht. Einen Grund dafür hast Du selbst schon genannt:
Meine These geht allerdings dahin, daß sich die sinnliche Dimension und die Bedeutung (d.i. der semantische Gehalt) nicht nur beim Gedicht nicht auseinanderdividieren lassen, sondern bei viel mehr Sorten von Text und Rede.
Aus dieser These folgt doch, dass man Inhalt und Form nicht "auseinanderdividieren" sollte - ganz gleich, um welche Art von Rede es sich handelt. Denn damit lässt sich die Eigenart der poetischen Sprache nicht in den Blick bringen. Trotzdem willst Du weiter an dieser Unterscheidung entlang vorgehen :?

Mir scheint ein anderer Ansatzpunkt mehr zu versprechen, nämlich der bei der Reflexivität der poetischen Sprache. In der alltäglichen Verständigung ist unsere Aufmerksamkeit meist auf die Sachen gerichtet, von denen geredet wird, und nicht selten beiläufig auch auf den Gesprächspartner, über den wir aus seiner Rede etwas in Erfahrung bringen wollen. D.h. das Gesprochene wird von uns ganz überwiegend als Medium, als Mittel der Verständigung über etwas bzw. über jemanden behandelt. Bei der poetischen Rede richten sich unsere Verstehensbemühungen vorrangig auf das Gesagte selbst. Dieses hört dadurch auf, nur als Durchgangsmedium für ein davon unabhängiges Thema zu fungieren. Es wird gewissermaßen undurchlässig für Bedeutungen jenseits des hier und jetzt präsenten sprachlichen Phänomens.

Diese reflexive Umstellung der Aufmerksamkeit ist zunächst einmal ein durchaus "intellektueller" Akt, der uns mehr Kontrolle abverlangt, nicht weniger. Ein Sich-gehen-lassen, eine passive Hingabe an die "sinnlichen" Reize des Phänomens wäre dagegen unangemessen, griffe zu kurz angesichts der gesteigerten Komplexität poetischer Rede. (Zumindest ist Poesie in den meisten Fällen komplexer als die Alltagssprache, wenn es auch Beispiele für den Einsatz poetischer Rede gibt, die auf passiven Konsum aus ist; ich denke etwa an Schlagertexte.)

Zu beachten ist allerdings, dass die Reflexivität der poetischen Sprache sich von der Reflexivität der Metasprache unterscheidet. Metasprache macht Sprachliches ausdrücklich zum Thema. Es wird also über Sprachliches so gesprochen, als handelte es sich um einen beliebigen Gegenstand; und auf diesen richtet sich dabei die Aufmerksamkeit. Die Metasprache ist also ebenso "durchlässig", ebenso "Medium" wie die Objektsprache. Das kann manchmal zu einem krassen Missverhältnis führen, wenn etwa in wissenschaftlichen Texten auf eine Weise über Poesie gesprochen wird, die von dieser völlig unberührt scheint... :-)




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Jörn Budesheim
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Mo 14. Aug 2017, 07:52

Da wir mit "Haus" und "maison" dasselbe meinen können, scheint es mir unvermeidlich zwischen Inhalt und Form zu unterscheiden, ansonsten könnten zwei verschiedene Formen nicht dasselbe bedeuten.




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Friederike
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Mo 14. Aug 2017, 09:12

Ich möchte nur zu meinem besseren Verständnis nachfragen, ob Eure Aussagen in den beiden Zitaten diesselben sind. Nämlich 1. die, daß in der Poesie die Sprache selbst zum Medium der Kommunikation wird, während in anderen Text- oder Redesorten die Sprache hauptsächlich als Medium dafür dient, Aussagen über einen Sachverhalt zu treffen. Und 2. die, daß ein wesentlicher Aspekt bei der Poesie die sinnliche Beteiligung ist (ich hänge noch an der "sinnlichen Dimension" und überlege, ob man anstelle des "Besonderen" nicht um der Verdeutlichung willen von den "Sinnen" sprechen sollte. Dies nur nebenbei).
Jörn Budesheim hat geschrieben : Bei dem Gedicht liegen die Dinge anders. Die Basis des Dreiecks (das Material der Kommunikation) wird selbst zum Gegenstand der Kommunikation, also zur Spitze des Dreiecks. So dass wir es mit einer "dialektischen Doppelspitze zu tun haben" :-) wobei der "ursprüngliche" Inhalt (derjenige, der ausschließlich bei Humboldt in den Blick kommt) gemeinsam mit der Form ein anderer wird, weil die Form und seine Beziehung zum Inhalt selbst zum Inhalt wird, so dass schließlich über den Inhalt nur in dieser Form berichtet werden kann. Das heißt die eigentliche "Stärke" der Sprache, dass man alles, was man sagen kann, stets auch in anderen Worten sagen könnte, wird zurückgenommen. Dadurch kommt ein neues Paar ins Spiel. Neben das Duett von Form und Inhalt tritt das Duett von Allgemeinem und Besonderen. Weil das, was zu sagen ist, sich nur in dieser speziellen Form zeigt, wird klar, dass es um diesen einen besonderen Augenblick ging. Was uns Leser verrückter weise jedoch nicht davon abhält, solche besonderen Augenblicke auch erleben zu können :-)
Hermeneuticus hat geschrieben : Mir scheint ein anderer Ansatzpunkt mehr zu versprechen, nämlich der bei der Reflexivität der poetischen Sprache. In der alltäglichen Verständigung ist unsere Aufmerksamkeit meist auf die Sachen gerichtet, von denen geredet wird, und nicht selten beiläufig auch auf den Gesprächspartner, über den wir aus seiner Rede etwas in Erfahrung bringen wollen. D.h. das Gesprochene wird von uns ganz überwiegend als Medium, als Mittel der Verständigung über etwas bzw. über jemanden behandelt. Bei der poetischen Rede richten sich unsere Verstehensbemühungen vorrangig auf das Gesagte selbst. Dieses hört dadurch auf, nur als Durchgangsmedium für ein davon unabhängiges Thema zu fungieren. Es wird gewissermaßen undurchlässig für Bedeutungen jenseits des hier und jetzt präsenten sprachlichen Phänomens.




Hermeneuticus
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Mo 14. Aug 2017, 09:26

Um mit zwei verschiedenen Ausdrücken "dasselbe" sagen zu können, müssen wir eine Abstraktion vornehmen. Wir müssen also zunächst einmal entscheiden, was wir als das Gleichbleibende, Äquivalente betrachten wollen, von dem ausgehend wir die faktisch verschiedenen Ausdrücke als austauschbar betrachten dürfen. "Dasselbe" sagen wir mit "Haus" und "maison" also nur als Resultat einer Reflexion und Abstraktion. Und die könnten wir auch bleiben lassen. Oder einer der Sprecher könnte sich weigern, der vorgeschlagenen Abstraktion zu folgen - vielleicht, weil er feine Bedeutungsunterschiede zwischen "Haus" und "maison" sieht, auf die er nicht verzichten möchte.

Daraus, dass wir so abstrahieren können, folgt also nicht, dass wir es müssen. Der Unterschied zwischen "Form" und "Inhalt" ist also nicht in Stein gemeißelt und liegt somit nicht quasi in der "Natur" der Sprache. Und schon gar nicht in der "Natur" der poetischen Sprache. Denn gerade dort führt die besagte Abstraktion, die der Unterscheidung zwischen Forum und Inhalt zugrunde liegt, an der Sache vorbei.




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Mo 14. Aug 2017, 09:43

Friederike hat geschrieben :
Mo 14. Aug 2017, 09:12
Ich möchte nur zu meinem besseren Verständnis nachfragen, ob Eure Aussagen in den beiden Zitaten diesselben sind.
Was mich betrifft, so finde ich meine Ansicht in Jörns Formulierungen nicht wieder. :-) Das liegt daran, dass ich die Unterscheidung zwischen "Form" und "Inhalt", die er für selbstverständlich oder grundlegend zu halten scheint, in Frage stelle. Ich halte sie für ein ungeeignetes "Werkzeug", wenn man die Unterschiede zwischen Alltagsprosa und Poesie herauspräparieren will.

Grob gesagt, besteht das Unzweckmäßige darin, dass man zuerst einmal etwas auseinander schneidet, um dann zu versichern, dass es in der Poesie nicht getrennt werden dürfe. Das ist so, als wenn man sagte: Die Welt zerfällt in Materie und Geist, nur bei den und den Gegenständen bilden sie ein unteilbares Ganzes. :-)




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Friederike
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Mo 14. Aug 2017, 15:00

Hermeneuticus hat geschrieben : Was mich betrifft, so finde ich meine Ansicht in Jörns Formulierungen nicht wieder. :-) Das liegt daran, dass ich die Unterscheidung zwischen "Form" und "Inhalt", die er für selbstverständlich oder grundlegend zu halten scheint, in Frage stelle. Ich halte sie für ein ungeeignetes "Werkzeug", wenn man die Unterschiede zwischen Alltagsprosa und Poesie herauspräparieren will.
Grob gesagt, besteht das Unzweckmäßige darin, dass man zuerst einmal etwas auseinander schneidet, um dann zu versichern, dass es in der Poesie nicht getrennt werden dürfe. Das ist so, als wenn man sagte: Die Welt zerfällt in Materie und Geist, nur bei den und den Gegenständen bilden sie ein unteilbares Ganzes. :-)
Ah ja. Dann habe ich Dich noch nicht hunderprozentig verstanden. Was kein Wunder ist, weil ich an den Tätigkeiten des Auseinanderschneidens und Zusammensetzens als -gedanklichen- Akten zur Unterscheidung von poetischer und alltäglicher Sprache bisher festhalte.
Das, was Blumenberg den "semantischen Dienstwert" der Sprache nennt, das bezieht sich, so wie ich es verstehe, auf die Austauschbarkeit von Wörtern. Und diese Funktion muß die Sprache auch in der Poesie erfüllen, weil andernfalls nichts übrig bliebe zum Verstehen, d.h. der semantische Dienstwert würde versagen, und ein Gedicht würde in sinn-lose Buchstaben zerfallen.




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iselilja
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Mo 14. Aug 2017, 17:49

Hermeneuticus hat geschrieben : Um mit zwei verschiedenen Ausdrücken "dasselbe" sagen zu können, müssen wir eine Abstraktion vornehmen. Wir müssen also zunächst einmal entscheiden, was wir als das Gleichbleibende, Äquivalente betrachten wollen, von dem ausgehend wir die faktisch verschiedenen Ausdrücke als austauschbar betrachten dürfen.
Das Spannende ist nun, wie Poesie hier wirkt. Ich meine nämlich, dass (so wie Du es erläutert hast) die Ausdrücke zwar zu einer Abstraktion "nötigen" (ich denke auch Jörns Erläuterungen sind hier soweit zutreffend, dass Form und Inhalt zu trennen sind), jedoch der Dichter auf Grund anderer (zumeist im Vorfeld verwendeter) Ausdrücke, diese Abstraktion nicht nur erzwingt sondern auch bereits sinngebend besetzt. So dass nicht nur aus Haus Maison oder aus Maison Haus werden kann, sondern etwas völlig anderes - Garten (Haus der Blumen), Ameisenhaufen, Firmament (ein Haus mit Sternen ausgekleidet) etc.




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Friederike
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Mo 14. Aug 2017, 18:57

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.


-F. Hölderlin, "Patmos"-

Warum ist das allgemeine Urteil, dies sei Poesie? Ich finde keine vorweggenommene Sinnbesetzung, keine Bilder, Hölderlin bedient sich normaler umgangssprachlicher Wörter. Weder werden die Sinne angesprochen noch scheint es ein "Ich" zu geben, das ein "du" anspricht. Hier scheint mir das Poetische einzig an der Stellung der Wörter zu hängen, denn die Kontrastbildung (ich weiß den lit. Fachausdruck dafür nicht) "nah" - "schwer" sowie "aber" - "auch" könnten einen -philosophischer- Aussagesatz im Rahmen eines theoretischen Textes bilden. Wie verhält es sich mit der von Dir, Hermeneuticus, ins Gespräch gebrachten Reflexivität? Sollte es möglich sein, daß allein mit der ungewohnten Wortstellung die Sprache selbst bereits vom Dichtenden reflektiert wird? Worauf die RezipientInnen ihrerseits mit dem Reflektieren -der Sprache und dem Aussagegehalt- antworten?




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