Gute und schlechte Lyrik - Urteilskriterien?

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Friederike
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Do 3. Aug 2017, 17:33

Jahrzehnte haben mich die Gedichte von M.-L. Kaschnitz begleitet. Falls mir nicht -wider Wissen- doch eines entgangen sein sollte, dann kenne ich sie alle. Identifikatorische Aspekte mit dem Autorinnen-Ich, Bekräftigung, Tröstung, lyrischer Notvorrat .. und nun gestehe ich mir heute das erste Mal ein, daß die Gedichte ihren Zauber für mich verloren haben. Schlimmer noch, daß ich die Gedichte teilweise richtig schlecht finde. Eigentlich nämlich hatte ich auf eines der unzähligen weißen Blätter hier ein Gedicht von Kaschnitz notieren wollen, um mit ihm auf eine meiner Heroinnen aufmerksam zu machen. Ja, und während ich in den früheren Lieblingsgedichten herumlas, fiel mir auf, daß ich sie unmöglich guten Gewissens aufschreiben kann, weil ich sie schlichtweg "daneben" finde (peinlich berührend). Entweder in Gänze schlecht oder aber doch von wenigen Zeilen zu viele, als daß die Bewertung nicht das ganze Gedicht beträfe. Beobachtet und geargwöhnt habe ich diesen Umschwung zwar schon länger, heute aber konnte ich mich nicht mehr daran vorbeimogeln. Ich zitiere zur Prüfung und als Beispiel eines von den Gedichten, die immer zu meinen Favoriten gehört haben:

Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzig Richtige
Geschweige denn von der Liebe.

Versuche. Gesuche. Mißlungen
Ungenaue Beschreibung

Weggelassen das Morgenrot
Nicht gesprochen vom Sämann
Und nur am Rande vermerkt
Den Hahnenfuß und das Veilchen.

Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung

Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich daß

Mich interessiert, was Ihr meint. Falls es nicht ein geradezu schlechtes Gedicht ist, dann ist jedenfalls aber auch kein gutes? Ist es nicht viel zu direkt? K. spricht darin zum einen über die Unzulänglichkeiten, die Versäumnisse, die sie als Autorin zu verantworten hat, und zum anderen spricht sie über das Unvermögen der Sprache, die "Dinge" des Lebens in Worte zu fassen. Die Unsagbarkeit oder Unbegrifflichkeit (in diesem Moment eine Anleihe bei Blumenberg) wird von ihr sprachlich allerdings nicht dargestellt. Ich glaube, das ist der für mich entscheidende Grund, aus dem ich meine, das Gedicht sei nicht gelungen. K. sagt alles, was sie nicht gesagt hat. Sie bleibt auf der Realebene, während das sprachliche Ungenügen, das sie ebenfalls thematisiert, in der Sprache selbst keinen Ausdruck findet. "Versuche. Gesuche. Mißlungen Ungenaue Beschreibung" - das klingt doch platt, oder nicht?

Ich habe keine Ahnung von Literatur- und Gedichte-Theorie, ich weiß nicht, ob und wenn ja, welche Kriterien der Literaturbetrieb und/oder die Schrift-KünstlerInnen heranziehen, wenn sie ein Gedicht beurteilen. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals ein Urteil über die Lyrikerin Kaschnitz gefunden zu haben, das dermaßen mies war wie meines es jetzt ist. An dem obigen ist keine Finesse, ohne Netz und doppelten Boden erzählt es von dem, was ist. Das Einzige, was ich ihm noch an Gutem zubilligen würde, worin vielleicht auch noch anklingt, was mich so lange Jahre fasziniert hat, daß die vielen Verneinungen (Negationen) am Ende zu einer Art von Einverständnis (Affirmation) führen. In der leisen Hoffnung, daß ich mich irre, übergebe ich es an Euch ...




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Jörn Budesheim
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Do 3. Aug 2017, 18:40

Vorneweg: mir gefällt es!

Mich erinnert es an die beiden folgenden Texte. Es geht darin offensichtlich um das Gelingen und um das Scheitern. Und in dem Text, den du zitiert hast, geht es darum ja offensichtlich auch. Und wie geht's sie mit ihrem Scheitern um? Sie versucht es gleich noch einmal, versucht es gleich besser, präziser und endet am Ende abrupt im Satz... So als würde sie dem Rezept Becketts genau folgen. So, als wäre sie auf derselben Suche wie Hölderlin. Für mich kommen die Zeilen, die du gebracht hast, schön und authentisch rüber. Und ich will ebenso wie du, gleich hinzufügen, dass ich natürlich nicht die geringste Ahnung von Lyrik und diesem gesamten Handwerk habe. Aber ich lese gerne Gedichte, insbesondere kurze :)
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Friedrich Hölderlin
An die Parzen

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heil´ge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinab geleitet; Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

..........................................................................................

"Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better." - Samuel Beckett

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iselilja
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Do 3. Aug 2017, 21:42

Die Unsagbarkeit oder Unbegrifflichkeit (in diesem Moment eine Anleihe bei Blumenberg) wird von ihr sprachlich allerdings nicht dargestellt. Ich glaube, das ist der für mich entscheidende Grund, aus dem ich meine, das Gedicht sei nicht gelungen.
Ich kenne weder die Autorin noch deren Gedichte.. und somit natürlich auch nicht den Hintergrund ihres Schreibens. Ich empfinde garnichts bei dem Gedicht. Und ich glaube (nein, ich weiß) Du hast recht damit Friederike, es ist das Unausgesprochene (weil Umschriebene), was den Geist des Lesers einlädt, sich auf eine Aura einzulassen, die er mehr oder weniger nur seiner eigenen Gefühlswelt entlehnen kann. Und da wir alle älter und reifer werden, verlieren viele Dinge eben genau diesen Zauber mit der Zeit.




Hermeneuticus
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Fr 4. Aug 2017, 00:31

Lyrik heißt so, weil sie ursprünglich gesungen wurde - zum Saitenspiel, auf der Lyra. Aber auch ohne instrumentale Begleitung und Gesang bleibt sie der Musik verbunden. Selbst dann, wenn sie sich gegen diese Verbindung oberflächlich sträubt oder sie bestimmt negiert.

Und worin besteht Verbindung der lyrischen Sprache - ob nun gesungen oder auch nicht - zur Musik? Darin, dass sie bereits schön ist, bevor man sie versteht. Dass sie diesseits von Wortbedeutung und begrifflicher Artikulation schon Sinn heraufbeschwört, vermöge ihrer klanglichen Qualitäten: Rhythmik, Harmonik, Intonation.

Bevor Lyrik irgendetwas Bestimmtes sagt, ist sie zunächst einmal: Nicht-Prosa. Sie unterbricht das Palaver der umgänglichen Rede, stellt sich abseits und beansprucht, wie die Aufführung eines Musikstücks, gesonderte Aufmerksamkeit. Darin ist sie auch der rituell gebundenen Sprache verwandt: Zauberformeln, Gebeten, Litaneien.

Hölderlins Gedicht "An die Parzen" ist für all das ein Paradebeispiel. Das Kaschnitz-Gedicht ebenso, wenn auch mit den für die Moderne typischen Brechungen. Während das lyrische Ich Hölderlins sich noch mit wuchtigem Archaismus gegen die Prosa des Lebens panzert, scheint das lyrische Ich der Kaschnitz ihr die offene Flanke darzubieten. Die Sonderstellung der Poesie, ihre Kraft zur Beschwörung scheint verflüchtigt, ihre Rede scheint nicht mehr treffen und begreifen zu können, was sie berührt. Vielleicht ist das ein schon etwas abgegriffener Topos, ein schon zu erprobtes Mittel, um ein zeitgemäßes "feeling" herzustellen. Das Fragmentarische scheint eine Spur zu gewollt, zumal die Dichterin es nicht lassen kann, einen ungebrochenen lyrischen Ton anzuschlagen...




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Jörn Budesheim
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Fr 4. Aug 2017, 06:15

Hermeneuticus hat geschrieben : Lyrik heißt so, weil sie ursprünglich gesungen wurde - zum Saitenspiel, auf der Lyra. Aber auch ohne instrumentale Begleitung und Gesang bleibt sie der Musik verbunden. Selbst dann, wenn sie sich gegen diese Verbindung oberflächlich sträubt oder sie bestimmt negiert.
Hier ein Beispiel für dieses Sträuben oder Negieren > "Verlange weder Gesang noch Melodie"

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An den Leser (Mahmud Darwisch)


Schwarze Lilien sind in meinem Herzen

Und auf meinen Lippen lodert eine Flamme

Aus welchem Wald seid Ihr zu mir gekommen

All ihr Kreuze der Wut?



Meiner Trauer habe ich den Treueid geschworen

Habe Vertreibung und Hunger gekostet

Meine Hände sind Wut

mein Mund ist Wut

Und in meinen Adern strömt ein Saft aus Wut


Du mein Leser

verlange nicht von mir zu flüstern

verlange weder Gesang noch Melodie


Dies ist mein Leid

ein überstürzter Schlag in den Sand

und ein zweiter in die Wolken

Diese Wut ist meine Bestimmung

Und jedes Feuer beginnt mit der Wut


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Ich bringe dieses Gedicht hier, weil es erstens die Sache mit der Musik und dem Gesang zum Thema macht sowie in einem performativen Selbstwiderspruch ihre Verweigerung. Und zweitens, weil es eine Verbindung zu einem anderen Thread schafft, nämlich den Thread über die documenta 14. Dieses Gedicht ist die Einleitung des Theorieteils zu documenta, es kommt aus dem sogenannten documenta Reader.




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Friederike
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Fr 4. Aug 2017, 07:52

Jörn Budesheim hat geschrieben : Aber ich lese gerne Gedichte, insbesondere kurze :)
"Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better." - Samuel Beckett
Je kürzer desto besser, ja! Beckett gefällt mir. Das Überraschungsmoment am Ende. Woran erkennt man, daß es ein Gedicht ist? Die Reimwörter "matter" - "better".




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Friederike
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Fr 4. Aug 2017, 08:03

Das Gedicht? Die Zeilen? Der Text von M. Darwisch - sprachlos bin ich.

Jörn, es ist eine Übersetzung? Gibt es dazu, hast Du das Gedicht in der Originalsprache?




Tosa Inu
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Fr 4. Aug 2017, 08:45

"K. spricht darin zum einen über die Unzulänglichkeiten, die Versäumnisse, die sie als Autorin zu verantworten hat, und zum anderen spricht sie über das Unvermögen der Sprache, die "Dinge" des Lebens in Worte zu fassen. Die Unsagbarkeit oder Unbegrifflichkeit (in diesem Moment eine Anleihe bei Blumenberg) wird von ihr sprachlich allerdings nicht dargestellt. Ich glaube, das ist der für mich entscheidende Grund, aus dem ich meine, das Gedicht sei nicht gelungen. K. sagt alles, was sie nicht gesagt hat. Sie bleibt auf der Realebene, während das sprachliche Ungenügen, das sie ebenfalls thematisiert, in der Sprache selbst keinen Ausdruck findet. "Versuche. Gesuche. Mißlungen Ungenaue Beschreibung" - das klingt doch platt, oder nicht?"

Hegel schreibt es so:

"Kein Ton der heil'gen Weih‘n
Hat sich zu uns gerettet, und vergebens sucht
Der Forscher Neugier mehr, als Liebe
Zur Weisheit. Sie besitzen die Sucher und verachten dich.
Um sie zu meistern, graben sie nach Worten,
In die dein hoher Sinn gepräget wär‘.
Vergebens! Etwas Staub und Asche nur erhaschten sie,
Doch unter Moder und Entseeltem auch gefielen sich
Die Ewigtoten, die Genügsamen! – Umsonst, es blieb
Kein Zeichen deiner Feste, keines Bildes Spur.
Worein dein Leben ihnen ewig nimmer wiederkehrt.
Dem Sohn der Weihe war der hohen Lehren Fülle,
Des unaussprechlichen Gefühles Tiefe viel zu heilig,
Als daß er trock‘ne Zeichen ihrer würdigte.
Schon der Gedanke faßt die Seele nicht,
Die, außer Zeit und Raum in Ahnung der Unendlichkeit
Versunken, sich vergißt und wieder zum Bewußtsein nun
Erwacht. Wer gar davon zu andern sprechen wollte,
Spräch‘ er mit Engelzungen, fühlt der Worte Armut.
Ihm graut, das Heilige so klein gedacht,
Durch sie so klein gemacht zu haben, daß die Red' ihm Sünde deucht,
Und daß er bebend sich den Mund verschließt.
Was der Geweihte sich so selbst verbot, verbot ein weises
Gesetz den ärmern Geistern, das nicht kund zu tun,
Was sie in heil‘ger Nacht gesehn, gehört, gefühlt,
Daß nicht den Bessern selbst auch ihres Unfugs Lärm
In seiner Andacht stört', ihr hohler Wörterkram
Ihn auf das Heil‘ge selbst erzürnen machte, dieses nicht
So in den Kot getreten würde, daß man dem
Gedächtnis gar es anvertraute, daß es nicht
Zum Spielzeug und zur Ware des Sophisten,
Die er obolenweis verkaufte,
Zu den beredten Heuchlers Mantel, oder gar
Zur Rute schon des frohen Knaben, und so leer
Am Ende würde, daß es nur im Widerhall
Von fremden Zungen seines Lebens Wurzeln hätte."
(Eleusis, Hegel an Hölderlin 1796)



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Fr 4. Aug 2017, 09:39

Urteilskriterien?
Das ist sehr knapp und daher ist auch nicht ganz klar, worauf die Frage zielt. Wie man weiter oben sieht, haben eigentlich alle User für Ihre Meinung Gründe angeben können. Insofern scheint es unstrittig zu sein, dass es so etwas wie Urteilskriterien geben kann.

Oft habe ich es jedoch erlebt, dass die Frage auf etwas anderes zielt. In vielen Fällen ist gemeint, ob es allgemeine Urteilskriterien gibt, die man auf jedes einzelne Gedicht abbilden kann, um dann zu entscheiden, ob es gut ist. Ich schätze mal, versuche so etwas zu formulieren gab es in der Geschichte der Lyrik oder der Poetologie sicherlich zuhauf.




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Jörn Budesheim
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Fr 4. Aug 2017, 11:37

Friederike hat geschrieben : Das Gedicht? Die Zeilen? Der Text von M. Darwisch - sprachlos bin ich.

Jörn, es ist eine Übersetzung? Gibt es dazu, hast Du das Gedicht in der Originalsprache?
Da muss ich leider passen, die Antworten darauf kenne ich nicht. Beim googeln habe ich gefunden, dass es sich bei ihm und einen sehr berühmten Dichter handelt, ich muss zugeben, dass ich von ihm zuvor nie gehört habe.




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iselilja
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Fr 4. Aug 2017, 19:31

Auch ein Kriterium für gute Lyrik/Poesie/Dichtung ist m.V.n. das unerwartete und dennoch nachempfundene Auftauchen von Akkumulationspunkten irgendwo im Text. Unerwartet, weil es keine erkennbare Steigerung gibt, keine logische Notendigkeit - und dennoch ist dieser eine kleine Punkt so offensichtlich wahrhaftig.

Der letzte große Poet, den ich kenne, brachte es in einer einzigen Zeile zum Ausdruck ".. und kein Sturm kommt auf, wenn ich Dich seh'". Da steckt ein so ungeheurliches Emotionspotential drin. Wer könnte schon anders, als Rio Reiser einen Poeten zu nennen.




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iselilja
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Fr 4. Aug 2017, 20:06

Jörn Budesheim hat geschrieben : Oft habe ich es jedoch erlebt, dass die Frage auf etwas anderes zielt. In vielen Fällen ist gemeint, ob es allgemeine Urteilskriterien gibt, die man auf jedes einzelne Gedicht abbilden kann, um dann zu entscheiden, ob es gut ist. Ich schätze mal, versuche so etwas zu formulieren gab es in der Geschichte der Lyrik oder der Poetologie sicherlich zuhauf.
Das sehe ich in weiten Teilen, besonders wenn es um Literaturkritik geht, genauso. Denn oftmals ist es gerade das Neue, was den Rahmen bisheriger Schematisierung sprengt und gerade durch dieses Aufsprengen (dieses Verlassen einer stereotypen Konzeption) etwas Schönes dabei herauskommt.




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Friederike
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Sa 5. Aug 2017, 12:57

Hermeneuticus hat geschrieben : Und worin besteht Verbindung der lyrischen Sprache - ob nun gesungen oder auch nicht - zur Musik? Darin, dass sie bereits schön ist, bevor man sie versteht. Dass sie diesseits von Wortbedeutung und begrifflicher Artikulation schon Sinn heraufbeschwört, vermöge ihrer klanglichen Qualitäten: Rhythmik, Harmonik, Intonation.
Nebenan, unter "Sprache der Sinne" erwähnte Jörn die Unersetzbarkeit eines Wortes. Der Klangkörper, der Duft, die Beleuchtung, die Farbe eines Wortes, mithin die auf die unterschiedlichen Sinne bezogene Qualität eines Wortes sind für das Gedicht konstitutiv. Insofern ist auch die Übersetzung eines Gedichtes in eine andere Sprache in einem starken Sinne immer ein anderes Gedicht. Das, was Du "Sinn" nennst, könnte man mit Wittgenstein wohl auch als das Verstehen eines Wortes bezeichnen. Eine bestimmte Art von "verstehen". Denn "verstehen" hat bei ihm natürlich nicht nur eine Bedeutung (die Familienähnlichkeiten).




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iselilja
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Sa 5. Aug 2017, 13:52

Viele Sprachwissenschaftler vertreten die Auffassung, dass bei der Entstehung von Worten "der Klang der Realität" zum Tragen kommt. Damit ist gemeint, dass wir bspw. das Springen in eine Pfütze mit einem bestimmten Geräusch verbinden. Und dieses Geräusch wird gewissermaßen versprachlicht - "es macht platsch" und nicht etwa "kling". Besonders im angelsächsischen Sprachraum lasst sich diese Intonation von affizierten Geräuschkulissen verstärkt beobachten.

Ganz ähnlich ist es mit dem Ausdruck von Schmerzen.. jeder unterschiedliche Schmerz ringt uns einen anderen Ausdruck ab, ob das konkret ein Lufteinsaugen durch die Zähne ist oder ein stöhnendes "äääää" oder "uuuu" hängt von der empfundenen (wahrgenommenen) Qualität ab.

In Hinsicht auf die Musik ist das nun von besonderem Interesse, weil der Prozess einer Intonation von Gesprochenem etwas anderes darstellt, als eine Melodie zu vokalisieren.

Und ich vermute, in der Poesie spielt all das ebenfalls eine wichtige Rolle.




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Friederike
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Sa 5. Aug 2017, 19:14

iselilja hat geschrieben : Viele Sprachwissenschaftler vertreten die Auffassung, dass bei der Entstehung von Worten "der Klang der Realität" zum Tragen kommt. Damit ist gemeint, dass wir bspw. das Springen in eine Pfütze mit einem bestimmten Geräusch verbinden. Und dieses Geräusch wird gewissermaßen versprachlicht - "es macht platsch" und nicht etwa "kling". Besonders im angelsächsischen Sprachraum lasst sich diese Intonation von affizierten Geräuschkulissen verstärkt beobachten.
Ich glaube, ich muß die beiden Threads in Einen überführen, weil ich mich in meiner Antwort u.a. auf den letzten Beitrag von Jörn zum Thema der Begriffs- und Sinnensprache am Beispiel von Kehlmanns -unverständigen- Humboldt beziehe. Ich verschiebe die Sache auf einen Zeitpunkt nach dem Umzug.

Humboldt geht offenkundig davon aus, man könne die Wörter eines Satzes substituieren, ihre Stellung innerhalb eines Satzes verändern und hätte gleichwohl dieselbe Aussage (Humboldt/Frege). Ob man obigen Satz so formuliert, wie ich es getan habe oder ob man sagt, "man könne die Worte eines Satzes durch jeweils ein anderes Wort ersetzen" macht hinsichtlich der Aussage keinen Unterschied. Oder um den von Dir erwähnten Aspekt zu nehmen, es ist für die Aussage gleich, ob das Wort sich "kling" oder "platsch" anhört. Der sinnliche Eindruck ist unerheblich für das Verstehen der Aussage. Nebenbei, mir fällt partout kein Beispiel ein für englische Wörter, die mehr als die deutschen Wörter diese sinnliche Qualität tragen. Kommt Dir spontan das eine oder andere Wort in den Sinn? Die spannende Frage ist für mich, ob die sinnliche Präsenz der Wörter, für die die Poesie exemplarisch ist, nicht doch auch in jedem Aussagesatz enthalten ist und insofern das Verstehen eines Satzes beeinflußt. "Substituieren" oder "ersetzen" oder "austauschen" ... wenn es so ist, wie viele SprachwissenschaftlerInnen es behaupten, dann würden in die 3 o.g. Worte bereits die "Klänge der Realität" eingeflossen sein.

In einem Deiner Beiträge zuvor hattest Du auf die "logische Notwendigkeit" hingewiesen, die einem Gedicht abgehen könne. "Logische Notwendigkeit" und die Notwendigkeit, logisch zu sprechen bedeutet wohl Unterschiedliches? Unabhängig davon, was Du genau gemeint hattest, für die philosophische Sprache scheint mir beides, im Unterschied zu einem Gedicht, unverzichtbar. Dennoch, wenn ich nochmal auf die Worte zurückkomme, dann enthält auch die philosophische Sprache eine unzählige Fülle von metaphorischen Redeweisen, die meiner Meinung nach nicht substituierbar sind. An ihnen wird der Klang der Realität lediglich augenfälliger als an anderen Worten. Das würde bedeuten, daß auch ein -philosophischer- Aussagesatz nicht ersetzbar ist. Jedenfalls nicht, ohne seinen Sinn zu verändern.




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Sa 5. Aug 2017, 20:36

Friederike hat geschrieben : Ob man obigen Satz so formuliert, wie ich es getan habe oder ob man sagt, "man könne die Worte eines Satzes durch jeweils ein anderes Wort ersetzen" macht hinsichtlich der Aussage keinen Unterschied. Oder um den von Dir erwähnten Aspekt zu nehmen, es ist für die Aussage gleich, ob das Wort sich "kling" oder "platsch" anhört. Der sinnliche Eindruck ist unerheblich für das Verstehen der Aussage.
Wenn es um das inhaltliche Verstehen reiner Objektiv-Prosa geht, bin ich ganz Deiner Auffassung. Wenn es allerdings um das Gefallen oder gar um das Lesen zwischen den Zeilen geht, ist die Melodie einer Aussage oftmals das eigentlich Aussagende.

Meine Erläuterungen waren auch mehr als Hintergrundinformation gedacht - inwieweit das auf das von Dir fokussierte Thema Einfluß hat, lässt sich im Moment wohl noch schwer einschätzen. Aber ich glaube schon, dass die Abfolge von bestimmten Vokalen einen harmonischen Klang hinterlassen, dessen Rhythmus durchaus den Inhalt einer Aussage gewichten kann - ähnlich wie bei Betonungen und Verlangsamungen.

Zu den Klangwahrnehmungen im Englischen müsste ich nochmal googlen, ob ich da was Brauchbares finde. Aber so wie ich das momentan in Erinnerung habe, waren die Wörter - zumeist Verben - dem Gefühl nach näher an der tatsächlichen Geräuschkulisse. Z.B. smash, ring, cut, splash, cry etc. Am auffälligsten war es soweit ich mich erinnere bei Jingle bells. :-)




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Jörn Budesheim
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So 6. Aug 2017, 06:21

Friederike hat geschrieben : Humboldt geht offenkundig davon aus, man könne die Wörter eines Satzes substituieren, ihre Stellung innerhalb eines Satzes verändern und hätte gleichwohl dieselbe Aussage
Nur um sicherzugehen: Davon gehe ich auch aus. Ich halte es sogar für essentiell für die Sprache. Ich bin nur der Ansicht, dass es in Gedichten anderes liegt.




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iselilja
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So 6. Aug 2017, 20:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Friederike hat geschrieben : Humboldt geht offenkundig davon aus, man könne die Wörter eines Satzes substituieren, ihre Stellung innerhalb eines Satzes verändern und hätte gleichwohl dieselbe Aussage
Nur um sicherzugehen: Davon gehe ich auch aus. Ich halte es sogar für essentiell für die Sprache. Ich bin nur der Ansicht, dass es in Gedichten anderes liegt.
Ich glaube, man muss hier zwei Dinge unterscheiden. Einmal die Schrift, da scheinen wir ja alle mehr oder weniger das selbe zu beobachten. Und einmal das Gesprochene, welches auch ohne Intention Betonungsregeln folgt. So macht es wohl einen Unterschied, ob man sagt "Morgen abend gehe ich ins Kino" oder "Ich gehe morgen abend ins Kino". Die Betonung des ersten Wortes ist in vielen solchen Aussagen obligatorisch und setzt somit eine Intention in die Aussage, die hervorhebt was darin wichtig ist. Durch die Vertauschbarkeit innerhalb der Satzgliedstellung gewinnt die Sprache eine Flexibilität, die es ermöglicht, in gewohnten Tonmustern den Inhalt (tatsächlich aber das Gemeinte) spielerisch zu verändern.

Kontextuell erkennt man dann auch eher den Unterschied.
Morgen? Morgen? ah.. morgen gehe ich ins Kino.
Also ich gehe morgen ins Kino, da habe ich leider keine Zeit für Dich.
Zuletzt geändert von iselilja am So 6. Aug 2017, 20:23, insgesamt 4-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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So 6. Aug 2017, 20:05

Jörn Budesheim hat geschrieben : Nur um sicherzugehen: Davon gehe ich auch aus. Ich halte es sogar für essentiell für die Sprache. Ich bin nur der Ansicht, dass es in Gedichten anderes liegt.
Weil das anscheinend zu Missverständnissen geführt hat: Damit meine ich NICHT die Unterscheidung Schriftsprache / gesprochene Sprache. Sowohl in der geschriebenen als auch der gesprochenen Alltagssprache ist es wichtig und für die Sprache wesentlich, dass wir alles, was wir sagen können, immer auch anders sagen können.

Anders liegen die Dinge bei lyrischen Texten (gesprochen, geschrieben,...) im weiten Sinne, da kann es auf jedes Wort, jede Silbe und jeden Buchstaben ankommen.




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Stefanie
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So 6. Aug 2017, 20:53

Da Gedichte in verdichteter Form etwas schildern bzw. beschreiben muss es auf jedes Wort, jedes Satzzeichen ankommen, sonst kann es passieren, dass es einen anderen Inhalt hat, einen anderen Sinn.
Es kann sogar auf die Betonung ankommen, wenn ein Gedicht gelesen wird.

Ich bin nun wirklich keine Fachfrau für Gedichte, deshalb mag das folgende Beispiel jetzt was falsch sein.

Das Gedicht zur documenta beginnt mit "Schwarze Lillien".
Das Schwarz weckt beim Leser/Leserin eine bestimmte Assoziation, ein bestimmtes Bild. Wenn das "Schwarz" durch z.B. "Grau" ausgetauscht wird, wirkt es nicht mehr so, wie mit "Schwarz".
Zumal ich sofort bei "Schwarze Lillien" ein eines der berühmtesten deutschen Gedichte denken musste.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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