"S/Z" - Intransitivität

Theoretische und poetologische Aspekte der Literatur
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Nauplios
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So 30. Jun 2019, 17:51

Michelet hat die Tatsachen in der Historie ins Wanken gebracht. Verschwommenheit geht eine Kooperation mit der Präzision ein. Am 18. Brumaire - 10. November - wurden im großen Saal der Orangerie die Öfen angezeizt, vor der Tür hängt ein Windfang. Kein Wort zu Barras´ Rücktritt und zur Rolle von Talleyrand. Verschwommenheit, Verwaschenheit diagnostiziert Barthes, spricht von einem Nullpunkt des Optativs: "Die gesamte Grammatik Michelets ist optativ." (Roland Barthes; Das Rauschen der Sprache; S. 224) - Barthes ist die aquaaffine Metaphorik seiner Diagnose nicht entgangen, doch geht es ihm hier um die "Proportion der Tatsachen", die Michelet aus dem Gleichgewicht bringt. Die Historiographie Michelets bringt, um an den Optativ anzuschließen, den Indikativ ins Schwimmen. Tatsachen beziehen ihren Sinn ja nicht daraus, daß ihr ontologischer Status sinngesättigt wäre (auch Barthes greift zu dieser Frege´schen Metapher der Sättigung), sondern daraus, daß es Tatsachen nur für Beobachter gibt. Michelet akzeptiert deshalb die "Störung des Begriffs" (Barthes; a.a.O. S. 225). Das Schwimmen der Tatsachen ist gleichsam die Konzession an diese Störung. - Von hier aus ist der Bogen möglich zu Blumenbergs Theorie der anthropologischen Genesis des Begriffs. (vgl. Theorie der Unbegrifflichkeit)




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Nauplios
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Fr 26. Jul 2019, 01:20

Der Ernst Lubitsch des lateinischen Epos ist Ovid. Seine Beschreibung der Jagd des Aktaion im dritten Buch der Metamorphosen bringt zur Sprache, was nicht zur Sprache kommen soll. In Gargaphia pflegt Artemis/Diana an entlegener Stelle zu baden, natürlich nackt. Die Umstände des Bades machen es erforderlich, daß Diana sich ihrer Jagdwaffen entledigt. Die Nymphe Krokale kümmert sich liebevoll um ihr Haar, weiteres Personal benetzt die Göttin mit Wasser aus Wasserkrügen. Das klingt angenehm und ist es wohl auch, bis zu dem Moment wo Aktaion, der für Jagd- und Forstwirtschaft zuständig ist, die Szenerie betritt. Was haben die Augen des Sterblichen am Körper der Göttlichen gesehen? Dies zu verschweigen, indem er es erzählt, versucht Ovid dem antiken Leser zu vermitteln. Der Einwand, man könne es sich denken, vereinnahmt den Leser der Metamorphosen zwar für´s Joviale, macht ihn aber seinerseits zum Motivjäger, der auf dem Anstand der Phantasie zwar ahnt, wonach er suchen soll, dem aber die Andeutungen und Umschreibungen Ovids die freie Sicht verstellen.

Der Ausgang der Geschichte ist schnell erzählt. Alkaion beobachtet Diana beim Bade, wird aber alsbald von einer Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet, welche ihrerseits als Beobachtung von einer Beobachtung dritter Ordnung beobachtet wird. Das Ineinander der Beobachtungen führt zu dem erwarteten empörten Aufschrei und in der Folge zum Erröten der nackten Göttin, genauer zu einem glühenden Erröten. Jetzt rächt sich, daß keine Jagdwaffen in Reichweite sind. Doch weiß sich Diana zu helfen. Sie bespritzt Aktaion mit dem Wasser der Quelle, in der sie badet - stehend wohlgemerkt. Die Sache entwickelt sich jedoch nicht in Richtung eines Badespaßes; Aktaion wird durch das Wasser in einen Hirsch verwandelt und wechselt damit unfreiwillig die Seiten des Jagdszenarios. Er wird vom Jäger zum Gejagten, um schließlich von seinen eigenen Hunden zerfleischt zu werden. Hyginus listet 71 Hunde auf. Namentlich. (Fabulae, 180f)

Der moderne Leser kann das für ein Stück Jägerlatein in sensu literae halten und mit der nötigen Verwegenheit ließe sich auch fragen: War´s das wert? - Eine Deutung ganz anderer Art hat der Altphilologe Jürgen Paul Schwindt gegeben. Thaumatographisch solle die Philologie verfahren und Schwindt nennt das die "aktaionische Perspektive", die Perspektive der Wunderung und Bewunderung, die nicht auf Distanz zu ihrem Gegenstand geht, sondern dessen Nähe sucht. Zur Jagd geblasen hat Schwindt in seinem Aufgalopp Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Daß Schwindt für den Untertitel den Begriff des "Vorspiels" heranzieht, darf als Verinnerlichung der "aktaionischen Perspektive" gewertet werden. - Horrido!




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