nuances - nuages / ein Vibrationsalarm (2)

Theoretische und poetologische Aspekte der Literatur
Nauplios

Do 24. Aug 2017, 19:42

"Die Aufgabe, die sich dem strukturalen Diskurs anbietet, besteht darin, völlig homogen zu seinem Gegenstand zu werden; diese Aufgabe läßt sich nur auf zwei gleichermaßen radikalen Wegen ausführen: entweder durch eine erschöpfende Formalisierung oder durch ein integrales Schreiben. In der hier vertretenen zweiten Hypothese wird die Wissenschaft in dem Maße zur Literatur, in dem die [...] Literatur bereits Wissenschaft ist und immer schon war; denn was die Humanwissenschaften, in welchem Bereich auch immer, ob im soziologischen, psychologischen, psychiatrischen, linguistischen usw., heute entdecken, das hat die Literatur immer schon gewußt; der einzige Unterschied liegt darin, daß sie es nicht gesagt, sondern geschrieben hat." (Roland Barthes; Das Rauschen der Sprache; S. 16f.)




Nauplios

Do 24. Aug 2017, 20:31

Das mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften in Vergessenheit geratene Trivium (Grammatica, Rhetorica, Dialectica) - hier liegen im Grunde die "Geheimnisse des Sprechens" verborgen. Die Situation des Schreibenden, oder vielleicht noch eher, das Schreiben im Barthes´schen Sinne wird von diesem Trivium erhellt und nicht von den Philologien und Humanwissenschaften, welche in der Sprache das Instrument sehen, mit dem ein "Autor" etwas auszudrücken versucht.




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Jörn Budesheim
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Do 31. Aug 2017, 06:32

Der Begriff Trivium ist/war mir gar nicht geläufig. Da muss Wikipedia her :)
Wiki hat geschrieben : ... Die Freien Künste waren so bezeichnet, um sie gegenüber den praktischen Künsten (Artes mechanicae) als höherrangig zu bewerten. Seneca schreibt in seinem 88. Brief: Quare liberalia studia dicta sunt vides: quia homine libero digna sunt („Du siehst, warum die freien Künste so genannt werden: weil sie eines freien Menschen würdig sind“). Als freier Mann galt, wer nicht zum Broterwerb arbeiten musste. Somit konnten nur solche Beschäftigungen würdig sein, die keine Verbindung mit Erwerbstätigkeit hatten. Man unterschied bei den Freien Künsten das Trivium (Dreiweg) der sprachlich und logisch-argumentativ ausgerichteten Fächer, die die Voraussetzung für jede Beschäftigung mit der (lateinischen) Wissenschaft bilden, und das weiterführende Quadrivium (Vierweg) der mathematischen Fächer.

Zum Trivium gehörten:
  • Grammatik: Lateinische Sprachlehre und ihre Anwendung auf die Werke der klassischen Schulautoren
  • Rhetorik: Redeteile und Stillehre, ebenfalls mit Beispielen aus den Schulautoren
  • Dialektik bzw. Logik: Schlüsse und Beweise auf der Grundlage des Organons (Das Organon ist eine Sammlung von Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles. In ihnen beschreibt Aristoteles die Kunst der Logik als Werkzeug der Wissenschaft.)
...




Nauplios

Fr 17. Nov 2017, 20:40

Nietzsches Typologie von PRIESTER/ARTIST und die Barthes´sche "andere Wahrheit": Was ist die Wahrheit des Theoretikers? Es ist eine "sokratische" Wahrheit, die einer quaestio, bei der es um Inhalte geht. Die andere Wahrheit steht für Apollon/Dionysos. Der Gute-Nacht-Kuss von maman, ermöglicht den Schlaf, mit Barthes zu reden, das "entregelte, flackernde, der Logik des narrativen Syntagmas und der Chronologie entzogene Bewußtsein." (Roland Barthes; Die Vorbereitung des Romans; S. 275) - Die Entgrenzung, Durchlässigkeit (décloisonnement - Proust) der Zeiten führt zu dem, was Barthes als "andere Wahrheit" beschreibt - s. den Mallarmé´schen Übergang (vielleicht besser Rückgang) von der Metaphysik zur Physik des Buches. Nietzsches "Priester" bekommt es mit einer "metaphysischen" Wahrheit zu tun, er liest die Spuren einer quaestio aus, aber er bringt die Wahrheit (eine Wahrheit) nicht hervor. In der Hervorbringung steckt das poetische, eher noch poietische, das Handwerkliche der "Physik des Buches". Im Grunde ist das Anliegen Barthes´, sich dem "Werk" aus dieser Perspektive der "Hervorbringung" zu nähern. Proust bestätigt diese Perspektive in einem Brief vom 07. Februar 1914 an Jacques Rivière:

"Als Künstler habe ich es für redlicher und feinfühliger gehalten, nicht merken zu lassen, nicht auszusprechen, daß es mir gerade auf die Suche nach der Wahrheit ankomme, und auch nicht zu sagen, worin sie für mich besteht. [...] Erst am Ende des Buches, wenn die Lehren des Lebens verstanden worden sind, wird mein Denken sich enthüllen." (Marcel Proust; Briefe zum Werk; S. 293). -

Die "Lehren des Lebens" - sie entziehen sich dem "sokratischen", auf "Theorie" angelegten Denken.




Nauplios

Sa 18. Nov 2017, 19:16

Mythos - Ur-Buch - imitatio Jesu Christi

"Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Zarathustra. Ich habe mit ihm der Menschheit das größte Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist. Dies Buch, mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg, ist nicht nur das höchste Buch, das es gibt, das eigentliche Höhenluft-Buch [...] es ist auch das tiefste, das aus dem inneren Reichtum der Wahrheit heraus geborene, ein unerschöpflicher Brunnen, in den kein Eimer hinabsteigt, ohne mit Gold und Güte gefüllt heraufzukommen." (Friedrich Nietzsche; Werke II; S. 1066 f)

"Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, denn solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." (Franz Kafka; Brief an Oskar Pollak v. 27. Januar 1904; in: Briefe 1902 - 1924; S. 27f)

"Reichtum der Wahrheit" -
Eine Wahrheit, die Wahrheit kann reich sein, nicht nur wahr. Das Spiel mit der Höhe und Tiefe: das "Höhenluft-Buch", es bringt die Tiefe ("Brunnen") hervor, Wahrheit kann tief sein. Ihr Reichtum ist verborgen und er besteht aus Schätzen ("Gold"/"Güte"), die zu bergen sind (Heideggers Ent-Bergen)

Ein Buch "muß die Axt sein" -
Wie eine Axt bahnt uns das Buch den Weg zu etwas, das eingefroren ist. Das "gefrorene Meer in uns" - Bibliotechnik.




Nauplios

Sa 18. Nov 2017, 19:58

Kann das Buch die Form für das Ganze des Lebens sein?

Gedanke der Enzyklopädie / Antitypus: Bouvard et Pécuchet - hier wird das Enzyklopädische vor den Hintergrund des Absurden/Monströsen gestellt. Zum Enzyklopädischen vgl. die "Summen" des Mittelalters. Kann Proust als Bewohner dieses Mittelalters phantasiert werden? Ist die Recherche nicht auch eine jener Summen? Und wie ist es mit dem "Wissen" des Internets: eher Summe? eher Farce (Bouvard et Pécuchet)?




Nauplios

So 19. Nov 2017, 17:38

Proust an die Comtesse de Noailles (November 1908):

"Ich möchte, obwohl ich sehr krank bin, eine Studie über Sainte-Beuve schreiben. Die Sache stellt sich mir im Geist auf zwei verschiedene Arten dar, zwischen denen ich wählen muß. Aber ich bin noch unentschlossen und sehe noch nicht klar." (Proust; Briefe zum Werk; S. 173).

Barthes hat die Unterscheidung BUCH/ALBUM benutzt, auf welche die Wahl des Schreibenden hinausläuft. Bei Dante: die Darstellung eines Universums / Buch deckt sich hier mit Welt. Die Zersplitterung zeigt sich im Album (s. Schumann).

Splitter und Fragment. Das Rhapsodische. Darin liegt die Skepsis gegenüber einem Ganzen. - Dazu Valéry: "Es ist seltsam, wie der Lauf der Zeit jedes Werk - und also jeden Menschen - in Fragmente verwandelt. Nichts Ganzes überlebt - genau wie in der Erinnerung, die immer nur aus Trümmern besteht und sich immer nur über Fälschungen präzisiert." (Brief an Jeannie Valéry v. Juli 1909)

Wie haben wir die Recherche zu lesen? Als Rhapsodie? Legt nicht Prousts Schreibtechnik fast eine Art "Tagebuch" nahe, obwohl Proust das Tagebuch-Schreiben verabscheut hat?




Nauplios

Fr 24. Nov 2017, 19:58

Am 06. Dezember 1921 notiert Kafka in sein Tagebuch:

"Die Metaphern sind eines in dem vielen, was mich am Schreiben verzweifeln läßt." (Tagebücher; S. 550f)

Kafkas Verzweiflung liegt vielleicht darin begründet, daß die Metapher per se ein Wechsel auf das Ungefähre ist. Von "Ordnung ohne Beweis" spricht Barthes (Die Vorbereitung des Romans; S. 300). Orientierung an der Orientierungslosigkeit könnte man dies Verfahren nennen, das uns in denjenigen Belangen bleibt, in denen das Verlangen nach fixen Wegmarken unbefriedigt bleibt. Grundmetapher dieser Grundlosigkeit ist seit jeher das Meer. Das Meer zu befahren bedeutet, den festen Standpunkt aufzugeben. Hinaus auf´s offene Meer ist Wagnis ohne Zusage auf Ergebnis. Exemplarisch dazu Pascal:

"Genauso glauben die an Bord eines Schiffes, daß jene, die am Ufer stehen, davonlaufen. Man braucht einen festen Punkt, um darüber zu urteilen. Der Hafen beurteilt diejenigen, die an Bord eines Schiffes sind, doch wo werden wir in der Moral einen Hafen hernehmen?" (Pensées; § 591)




Nauplios

Fr 24. Nov 2017, 20:16

Wann ist ein Werk notwendig? - Das Werk ist der Gegenspieler des Zufalls. Wahre Literatur schafft den Zufall ab (Mallarmé, ähnlich Valéry). Proust: Dinge, ausgelöst vom Zufall, finden sich am Ende wieder. Es schließt sich ein Kreis. Das Werk verdankt sich dem Zufall, aber es ist jenem gegenüber undankbar. Die Recherche überdauert ja den Anlaß ihrer Suche und wird dadurch notwendig, d.h. nicht zufällig.




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Stefanie
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Fr 24. Nov 2017, 20:52

Ich lese deine Texte immer gerne. Bis jetzt bin ich hier ganz gut mitgekommen. Aber den letzten Beitrag verstehe ich nicht so richtig. Ist ein literarisches Werk jetzt Zufall oder nicht?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Nauplios

Fr 24. Nov 2017, 22:11

Stefanie hat geschrieben :
Fr 24. Nov 2017, 20:52
Ist ein literarisches Werk jetzt Zufall oder nicht?
Zumindest bei Proust verdankt es sich dem Zufall (s. die berühmte Madeleine-Episode). Aber die Notwendigkeit eines literarischen Werks ist die Gegeninstanz seiner anlassbedingten Zufälligkeit. Eine Frage, die sich die Literaturwissenschaft stellt (in dem Fall Barthes), ist ja: Gibt es eine Erklärung (oder gar ein Gesetz) dafür, daß bestimmte Werke ihre Zeit überdauern? Ist das eher ein zufälliges Überdauern oder steckt - um ein Beispiel zu geben - eine Notwendigkeit darin, daß Flauberts "Sittenbild aus der Provinz" 160 Jahre später immer noch (s)eine Wirkung entfaltet? Delphine Delamare, ist eine Bewohnerin des 19. Jahrhunderts, doch ihr Selbstmord veranlaßt das Entstehen einer fiktiven literarischen Gestalt, jener Madame Bovary im Zentrum des Sittenbildes aus der Provinz. Flaubert hebt gleichsam das Provinzielle in den Stand des Urbanen oder paradox ausgedrückt, Madame Bovary, die sich das Leben nimmt, ist unsterblich. Ähnlich dem philosophischen beweist das literarische Werk nichts; aber allein damit ist der Sinn dieses Werkes nicht verfehlt. Wäre alle Literatur nur Zufall, wäre ihre Lektüre ein sinnloses Zeit-Verlieren. Dann könnte die "Suche nach der verlorenen Zeit" nie erfolgreich sein. Dennoch war es Zufall, daß Flaubert 1848 das Journal de Rouen las und vom Schicksal einer Arztgattin aus der Provinz erfuhr. Philosophen müßte es ja eigentlich bedenklich erscheinen, daß der historisch-reale Verlauf dieses Schicksals die Zeiten nicht überdauert hat, das fiktive Geschehen hingegen wohl. Das Gegensatzpaar Zufälligkeit/Notwendigkeit gehört ja zu den Grundbeständen der Philosophie und seit Platon "lügen" die Dichter, sie finden die Zeit nicht, sie vertreiben sie. Barthes (und andere Literaturwissenschaftler/Philosophen) arbeitet an der Rehabilitierung der Literatur, indem er die Dignität der Literatur, wenn man so will, ihre Notwendigkeit herausarbeitet. Er operiert dabei von "innen", versetzt sich in die Rolle des Schreibenden und entfaltet von da aus die Notwendigkeit des Schreibens. Er läßt sich von der Lust am Text leiten, weniger von theoretischen Optionen. Seine Theorie der Literatur ist ihrerseits Literatur.




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Jörn Budesheim
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Sa 25. Nov 2017, 06:15

Mein Lehrer an der Kunsthochschule hat hin und wieder von einem Freund erzählt, der Schriftsteller war. Dieser las Madame Bovary alle paar Jahre. Aber natürlich nicht aus Vergesslichkeit, also nicht primär wegen der Geschichte, die er ja längst kannte; sondern, um seine eigene Sprache zu reinigen, wie er es nannte. Etwas lesen, um die eigene Sprache zu reinigen, ein Bild, welches mir in Erinnerung geblieben ist.




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Stefanie
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Sa 25. Nov 2017, 19:32

Danke Nauplios, dies habe ich verstanden. Mir fehlen die sprachlichen Mittel und das Wissen, darauf zu antworten.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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