Lindenblüten / Cattleyablüten

Theoretische und poetologische Aspekte der Literatur
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Nauplios

Fr 10. Nov 2017, 21:11

Wenn ich hinaufging, um mich schlafen zu legen, so war mein einziger Trost, dass Maman, wenn ich im Bett läge, kommen würde, um mir einen Gutenachtkuss zu bringen. Doch dieses Gutenachtsagen währte so kurz, sie ging schon so bald wieder hinunter, dass der Augenblick, in dem ich hörte, wie sie heraufkam, dann, wie das leichte Rauschen ihres Gartenkleides aus blauem Musselin, an dem kleine Quasten aus geflochtenem Stroh baumelten, den Flur mit der Doppeltür entlangwanderte, für mich ein schmerzvoller Augenblick war. Er kündigte jenen an, der ihm folgen musste, jenen, in dem sie mich verlassen haben, in dem sie wieder hinuntergegangen sein würde. Das ging so weit, daß ich schließlich wünschte, dieses von mir allzu geliebte Gutenachtsagen möge so spät wie möglich stattfinden, damit sich die Gnadenfrist, in der Maman noch nicht erschienen war, verlängern würde. Manchmal, wenn sie, nachdem sie mich geküsst hatte, die Tür öffnete, um davonzugehen, wollte ich sie zurückrufen, sie bitten: "Gib mir noch einen Gutenachtkuss", aber ich wusste, dass sie sogleich ihr verstimmtes Gesicht aufsetzen würde, denn das Zugeständnis, das sie meinem Kummer und meiner Erregung machte, indem sie heraufkam, mich in den Arm zu nehmen, mir diesen Friedenskuss zu bringen, ärgerte meinen Vater, der dieses Ritual lächerlich fand, und eher hätte sie getrachtet, mir diese Gewohnheit auszutreiben, als mich diejenige annehmen zu lassen, sie um einen weiteren Kuss anzubetteln, während sie schon auf der Türschwelle stand. Doch sie verstimmt zu sehen machte all die Besänftigung wieder zunichte, die sie mir gerade gebracht hatte, als sie ihr liebevolles Antlitz über mein Bett beugte und es mir darreichte wie die Hostie nach dem Friedensgruß bei der Kommunion, während meine Lippen aus ihrer leiblichen Anwesenheit die Kraft zum Einschlafen schöpften. (Marcel Proust; Auf dere Suche nach der verlorenen Zeit; I, 23f)

"Man seule consolation, quand je montais me coucher, etait que maman viendrait m´embrasser quand je serais dans mon lit. ..."

Der Übersetzer der Recherche, Bernd-Jürgen Fischer, hat sich dafür entschieden, daß der Gutenachkuss nicht gegeben, sondern gebracht wird. Auch die "Besänftigung" wird "gebracht", mamans Antlitz wird dargereicht "wie eine Hostie". Aus diesem "Ritual" erahnt der Leser die Innigkeit im Verhältnis von Marcel (das muß nicht zwangsläufig der Autor Marcel sein) und maman. Ihr Kontrast ist der Augenblick, in dem sich diese Innigkeit ereignet, die Flüchtigkeit eines Moments, dessen Wiederholung und Ausdehnung zu erbetteln sich verbietet. Es ist der Fristcharakter der Zeit, hier in Form der "Gnade" und die Verdichtung in einem Moment des Augenblicks ("petite Madeleine"), zwei Pole, zwischen denen die Recherche immer wieder oszilliert, die sich in nuce in dieser kleinen Passage aus Combray finden. Der "einzige Trost" - ein Moment "leiblicher Anwesenheit", der die "Besänftigung" bringt, gleichsam ein Sakrament, das man dem Todgeweihtem an sein Sterbebett bringt, woraus der die "Kraft zum Einschlafen" schöpft. Die "Hostie", das "Antlitz", der "Trost", der "Friedensgruß", die "Kommunion" ... eine quasi-sakrale Bedeutungsumgebung ... die "Türschwelle" wie eine Zeitschwelle, auf der das tröstende Jetzt sich verflüchtigt ... die verlorene Zeit, gegeben (das Gegebene gehört zum Grundwortschatz der Phänomenologie) einzig in einem Moment der Erinnerung, ausgelöst durch eine "Petite Madeleine", eingetaucht in Lindenblütentee. Die Ingredienzien des Proust´schen Romans sind in den obigen Zeilen in einer Art Integral enthalten. Ihre Entfaltung ist das Entstehen einer Welt, einer untergegangenen Welt.




Nauplios

Sa 11. Nov 2017, 18:39

Proust über den Zufall:

Aber da das, woran ich mich dann erinnern würde, mir ausschließlich durch meine willentliche Erinnerung, die Erinnerung des Verstandes, zur Verfügung gestellt werden würde, und da die Auskünfte, die diese über die Vergangenheit liefert, nichts von ihr bewahren, hätte ich auch niemals Lust verspürt, mich auf diesen Rest von Combray zu besinnen. All das war gänzlich tot für mich.
Tot für immer? Schon möglich.
Es steckt viel Zufall in alledem, und ein zweiter Zufall, unser Tod, erlaubt uns oft nicht, die Gaben des ersten lange zu genießen.
...
Nicht anders ist es mit unserer Vergangenheit. Es ist verlorene Liebesmüh, dass wir versuchen, sie zu beschwören, alle Anstrengungen unseres Verstandes sind vergeblich. Sie ist jenseits seines Machtbereichs und seiner Fassungskraft verborgen, in irgendeinem Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns auslöst), von dem wir es gar nicht vermuten. Bei diesem Gegenstand hängt es nur vom Zufall ab, ob wir ihm vor unserem Tod begegnen, oder ob wir ihm niemals begegnen werden.
(I, 66f)

Unauffällig: "beschwören" - darin steckt ebenso ein ritualisiertes Vorgehen. Man beschwört die Vergangenheit wie etwas Mysteriöses, um Einlass in dieses Reich des Dunklen, Ungefähren, Unsicheren zu gelangen. Ein Acheron ("Tot für immer?") muß überquert werden. Dem Verstand fehlt hier die Lizenz, Ermittlungen anzustellen, denn die Vergangenheit ist "jenseits seines Machtbereichs". Es bedarf des doppelten Zufalls: ein Gegenstand (oder die Empfindung daran) schließt das Reich des Unverfügbaren auf, im Falle Marcels die "petite Madeleine", welche die versunkene Welt wie Atlantis wieder vor dem geistigen Augen erstehen läßt. Und der Tod muß die Gnade ausreichender Verspätung gewähren, damit der Erlebensfall des ersten Zufalls eintritt. Gleichsam eine Fahrt über den Acheron mit Rückschein. Prousts große Sorge galt bekanntlich dem zweiten Zufall, sein Werk nicht mehr beenden zu können. Der Tod gewährte die Frist. Und die Recherche konnte beendet werden. Auf der Zielgeraden des Lebens wird die Zeit immer mehr zur Frist. Vielleicht ist es ein Trost für den Menschen, daß sein Dasein ihm den Zufall der Proust´schen Lindenblüten gewährt - womöglich sein einziger Trost.




Nauplios

Fr 17. Nov 2017, 19:07

Proust - Combray/Illiers:








Nauplios

Fr 24. Nov 2017, 21:10

In der Wiedergefundenen Zeit entdeckt der Erzähler, daß die beiden Wege nach Guermantes und Méséglise, zusammentreffen. Modell: Kreis. Vereinigung beider Enden.

"Das unscheinbare Gesetz der Erde wahrt diese in der Genügsamkeit des Aufgehens und Vergehens aller Dinge im zugemessenen Kreis des Möglichen, dem jedes folgt und den doch keines kennt." (Martin Heidegger; Überwindung der Metaphysik; in: Aufsätze und Vorträge; S. 98). -

Das Unscheinbare aufscheinen zu lassen, bevor es in die "Genügsamkeit des Aufgehens und Vergehens" zurücksinkt, ins Meer des Möglichen, ist - sofern man diese Pathosformel akzeptiert - der Sinn der Recherche.

"Sogar im Bereich des Willens zu schreiben, das heißt seines UNMÖGLICHEN, liegt die Aufgabe des TALENTS darin, den Kreis seines MÖGLICHEN nicht zu überschreiten: der Bahn der NATUR innerhalb jener NICHT-NATUR, die das SCHREIBEN ist, genau zu folgen." (Roland Barthes; Die Vorbereitung des Romans; S. 307). - Schon im Aufgehen und Vergehen Heideggers, aber explizit in Barthes´ Bahn der Natur, welcher zu folgen ist, findet sich ein Stück astranoetischer Anstrengung und ordofugitiver Sorge: Wie läßt sich Ordnung unter den Bedingungen von Flüchtigkeit herstellen? Wie ist es möglich, daß sich die in entgegengesetzten Richtungen verlaufenden Spaziergänge nach Guermantes und Méséglise am Ende treffen? - Daß das "Verlaufen" das Zeug zur daseinstheoretischen Großmetapher hat, kann man nach Dante wissen. Daß man durch das Verlaufen an ein "Ende" kommt, ist die Quintessenz bei Proust, indem das Unmögliche zum Trabanten des Möglichen wird.




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