nuances - nuages / ein Vibrationsalarm

Theoretische und poetologische Aspekte der Literatur
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Nauplios

Di 15. Aug 2017, 20:35

"... die Welt vibrieren [..] lassen."
(Roland Barthes; Die Vorbereitung des Romans;
S. 74)

ma (jap.: Leere)

Sonnenaufgang frühmorgens
Eine Wolke ist da
Wie eine gemalte Wolke
(Shusai)




Diaphoralogie - so nennt Barthes die Wissenschaft der Nuancen. (diaphora - das, was etwas von etwas anderem unterscheidet). Die nuages unterscheiden sich in Nuancen voneinander. Die Etymologie der Nuance ist von Belang. Haiku und Proust, unmittelbares und unfreiwilliges Gedächtnis, Kern und Wucherung, japanische Blüte und Madeleine, Stummheit und Beredtheit, Tanzen auf dem "Drahtseil der Zeit" im fragilen Augenblick und Zeitversinken - das sind die Pole, zwischen denen die Welt vibriert, in denen das Poetische sich ereignet.




Nauplios

Mi 16. Aug 2017, 16:41

Hypotypose (Heimat: Musik und Rhetorik): im Haiku wird etwas in den Text geklebt, metaphorisch, etwas wird vor Augen geführt, wird tangibel, berührbar, und berührt. (Ergriffenheit des Lesers) - Typisch dafür ist das Überspringen aus einem Sinn in einen anderen. Barthes spricht von einer "heterogenen, 'häretischen' Metonymie":

Das Geräusch einer Ratte
Die an einem Teller kratzt
Wie kalt das ist

(Buson, Munier)

Ähnliches findet sich bei Proust (Contre Sainte-Beuve): "denn er begriff oft eine Kunst in der Gestalt einer anderen." (S. 164) oder Baudelaires "Düfte, frisch wie Kinderwangen" (Blumen des Bösen; S. 566) - Das Haiku ist also Gegenstand synästhetischer Wahrnehmung im euphorischen Sinne einer Totalität, gleichsam eine Landschaft im Dunkel, vom Blitz erhellt, eine Vertiefung der Sinnlichkeit über den Umweg eines Tausches der Sinne.




Nauplios

Mi 16. Aug 2017, 17:06

"Ich schreibe ich, also bin ich." (Roland Barthes; Die Vorbereitung des Romans; S. 121) - Das Ich des Haiku ist das geschriebene Ich. Eine Schule der Mikroskopie:

Mittagsruhe
Die Hand hört auf
Den Fächer zu bewegen

(Taiji, Coyaud)




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Friederike
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Mi 16. Aug 2017, 18:10

"Vibrieren" ist ein Spüren, oder? Vibration -die Umwandlung in ein Substantiv- ist eine Nuance lauter, nicht stärker. Und der Vibrationsalarm ist wie ein Paukenschlag. Es ist das gleiche Wort, das als Verb, Substantiv oder in Verbindung mit einem anderen nicht sprunghaft, sondern abgestuft und nahezu unmerklich, den einen Sinn mit dem anderen tauscht. Denn angetan hat es mir die häretische Metonymie. Eine Metonymie, die verraten wird, eine, die sich absichtlich nicht so verhält, wie sie es soll ...

@Nauplios, ich lese gerne mit.




Nauplios

Mi 16. Aug 2017, 19:39

Friederike hat geschrieben :
Mi 16. Aug 2017, 18:10
"Vibrieren" ist ein Spüren, oder? Vibration -die Umwandlung in ein Substantiv- ist eine Nuance lauter, nicht stärker. Und der Vibrationsalarm ist wie ein Paukenschlag. Es ist das gleiche Wort, das als Verb, Substantiv oder in Verbindung mit einem anderen nicht sprunghaft, sondern abgestuft und nahezu unmerklich, den einen Sinn mit dem anderen tauscht. Denn angetan hat es mir die häretische Metonymie. Eine Metonymie, die verraten wird, eine, die sich absichtlich nicht so verhält, wie sie es soll ...

@Nauplios, ich lese gerne mit.
Die häretische Metonymie ist dann quasi ein Doppelagentin. ;) Sie agiert im Dienste der Namensvertauschung und im Dienste der Sinnenvertauschung. - Was das Vibrieren angeht, so hat Barthes nicht zufällig die kleine Form des Haiku gewählt, eine Form, die es im Französischen eigentlich nicht gibt, sondern in Japan beheimatet ist. Ende der 60er Jahre war Barthes mehrfach in Japan, was sich in seinen semiologischen Studien niedergeschlagen hat. Er stellt das Haiku der Photographie zur Seite (s. o. Proust: eine Kunst in der Gestalt einer anderen Kunst begreifen). Das Noema des Haiku wie der Photographie: es ist so gewesen.

Und nun lese ich auf der Seite unseres neuen Mitglieds Wojtek Skowron:
Seine »Japanischen Orte« sind
in Wirklichkeit Stimmungen und Vibrationen, die
überall gültig sind und die überall verstanden
werden.
(Hervorhebung von mir)

http://www.wojtexkowron.de/TexteSkowron.pdf

Vibrationen / Japan / Photographie (Barthes/Skowron) :)




Nauplios

Do 17. Aug 2017, 18:39

Denn die Verhältnisse der Zeit und des Daseins werden völlig verwirrt durch die Menge und die Intensität der Empfindungen und Vorstellungen. Man lebt - könnte man sagen - mehrere Menschenleben innerhalb einer Stunde.
(Baudelaire; Die künstlichen Paradiese; S. 79)
Die kleine Form, exemplarisch das Haiku, ist die poeto-logische Reduktion auf das Dazwischen, das Intervall, das ma, welches sich unter den Bedingungen der Vergrößerung, Vergröberung erst zeigt. Daher rührt auch Barthes Vorliebe für die Photographie, die er dem Film vorzieht. Die Photographie stellt fest, friert ein, der Schnapp-schuss ist in seinem Schnappen schneller als die Menge oder Intensität der Empfindungen und Vorstellungen. Das Barthe´sche klick hat im Grunde diese Doppelbedeutung. In Partnerprofilen auf einschlägigen Seiten - mehr bei Frauen als bei Männern - heißt es bei der Frage nach dem Wunschpartner oft: es muß einfach klick machen. Die Schnelligkeit darin kommt auch im Schießen von Photos zur Sprache. Darin kann eine Stimmung, eine Atmosphäre eingefangen sein; insofern ist der Photograph ein Fallensteller. Photographie: der Kampf gegen die Zeit mit den Mitteln der Zeit. Näheres: Die helle Kammer.




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iselilja
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Do 17. Aug 2017, 21:58

Nauplios hat geschrieben :
Do 17. Aug 2017, 18:39
[...] Daher rührt auch Barthes Vorliebe für die Photographie, die er dem Film vorzieht. Die Photographie stellt fest, friert ein, der Schnapp-schuss ist in seinem Schnappen schneller als die Menge oder Intensität der Empfindungen und Vorstellungen. Das Barthe´sche klick hat im Grunde diese Doppelbedeutung. In Partnerprofilen auf einschlägigen Seiten - mehr bei Frauen als bei Männern - heißt es bei der Frage nach dem Wunschpartner oft: es muß einfach klick machen. Die Schnelligkeit darin kommt auch im Schießen von Photos zur Sprache. Darin kann eine Stimmung, eine Atmosphäre eingefangen sein; insofern ist der Photograph ein Fallensteller. Photographie: der Kampf gegen die Zeit mit den Mitteln der Zeit. Näheres: Die helle Kammer.
In einem anderen Thread/Forum hatte ich mich eine Zeit lang mit der Zeit intensiv beschäftigt. Was mich jetzt erstaunt, ist, dass mir dabei nie so wirklich die Photographie als brauchbares Instrument eingefallen ist. Die onto-logische und auch gefühlte Schwierigkeit zwischen gerade noch eben, jetzt und in Kürze ein Kontinuum zu erschaffen, erfordert eine greifbare Bestimmung des Momentes. Das Foto fängt genau diesen Moment ein, der weder sprachlich noch sinnlich (wegen der Latenz vermutlich) erfassbar ist.




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Friederike
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Fr 18. Aug 2017, 10:25

Den Aspekt des "so ist es gewesen" möchte ich nur noch einmal besonders hervorheben, weil er mir für die Unterscheidung der Photographie von der Malerei oder auch von einem Text wichtig scheint. Die Photographie ist (wie) die Beglaubigung der Realität. Ein gemaltes Bild kann eine Realität fingieren, d.h. sie kann vorgeben, sie gesehen zu haben, ohne sie tatsächlich gesehen zu haben. Bei der Photographie ist die Realität oder die Sache, auf die referiert wird, die notwendige Bedingung dafür, daß das Objektiv des Apparates von ihr überhaupt ein Bild machen kann. Ohne sie gäbe es nicht dieses -photographische- Bild. Und Texte haben zwar ebenfalls Referenten, von denen aber keineswegs beglaubigt ist, daß sie keine Fiktionen sind.

1980 schrieb Barthes "Die helle Kammer". Seither hat sich viel verändert (nicht nur die Schreibweise von der Photographie zur Fotografie). Die Wahrheit der Photographie scheint derart evident, daß es nahezu unmöglich ist, die Realität als ihren bloßen Anschein zu sehen. Obwohl wir wissen, was an technischen Finessen ersonnen worden ist, die das fotografische Bild der Fiktionalität eines Textes oder eines gemalten Bildes in nichts nachstehen läßt.




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iselilja
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Fr 18. Aug 2017, 14:08

Friederike hat geschrieben :
Fr 18. Aug 2017, 10:25
Den Aspekt des "so ist es gewesen" möchte ich nur noch einmal besonders hervorheben, weil er mir für die Unterscheidung der Photographie von der Malerei oder auch von einem Text wichtig scheint. Die Photographie ist (wie) die Beglaubigung der Realität. Ein gemaltes Bild kann eine Realität fingieren, d.h. sie kann vorgeben, sie gesehen zu haben, ohne sie tatsächlich gesehen zu haben. Bei der Photographie ist die Realität oder die Sache, auf die referiert wird, die notwendige Bedingung dafür, daß das Objektiv des Apparates von ihr überhaupt ein Bild machen kann. Ohne sie gäbe es nicht dieses -photographische- Bild. Und Texte haben zwar ebenfalls Referenten, von denen aber keineswegs beglaubigt ist, daß sie keine Fiktionen sind.

1980 schrieb Barthes "Die helle Kammer". Seither hat sich viel verändert (nicht nur die Schreibweise von der Photographie zur Fotografie). Die Wahrheit der Photographie scheint derart evident, daß es nahezu unmöglich ist, die Realität als ihren bloßen Anschein zu sehen. Obwohl wir wissen, was an technischen Finessen ersonnen worden ist, die das fotografische Bild der Fiktionalität eines Textes oder eines gemalten Bildes in nichts nachstehen läßt.
Ich glaube, dazu kann ich etwas Sinnvolles sagen. Der primäre Unterschied, den Barthes mit "in nichts nachstehen" zu verwischen scheint, ist doch etwas komplizierter. Denn zwischen Photographie und Realität ist kein intentionales Wesen mehr, was den "Abdruck der Realität" auf dem Papier fingieren könnte. Sicherlich gibt es Methoden, die die Photographie als Handlung und als technischen Prozess bestimmen, doch sind sie einmal bestimmt, wird mit dem Auswechseln des Photographen die Photographie nicht ihrer Funktionalität nach verändert. Heißt: zwei Photographen können mit der selben Kamera die Realität (bspw. ein bestimmtes Objekt) nicht fundamental unterschiedlich aufnehmen. Da Dichter und Maler noch immer im Dazwischen verweilen, ist es bei ihnen wesentlich bestimmend, dass sie Künstler sind.

ps: Oder etwas einfacher formuliert.. der Photograph bleibt immer hinter dem Objektiv zurück, er kann auf das Dazwischen keinen wesentlichen Einfluß nehmen.




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novon
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Fr 18. Aug 2017, 23:12





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iselilja
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Sa 19. Aug 2017, 03:28

novon hat geschrieben :
Fr 18. Aug 2017, 23:12
https://www.youtube.com/watch?v=AP9HsfxBRsA
Cool. Hinterm Objektiv kann der Mensch dann wohl doch wieder zum Künstler werden. Man lernt nie aus. :-)




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Jörn Budesheim
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Sa 19. Aug 2017, 06:15

Man kann die YouTube Videos hier auch wunderbar einbinden, dazu gibt es oben rechts einen Button :)




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iselilja
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Sa 19. Aug 2017, 12:51

Bei mir klappt das irgendwie nicht.

Eibettungscode kopieren:
[youtube]<iframe width="640" height="360" src="https://www.youtube.com/embed/5HSIKM4JBy4" frameborder="0" allowfullscreen></iframe>[/youtube]
Video-URL kopieren:
[youtube]https://youtu.be/5HSIKM4JBy4[/youtube]
Video-URL an dieser Stelle kopieren:
[youtube]https://youtu.be/5HSIKM4JBy4?t=13[/youtube]

Mehr Optionen gibts bei YouTube nicht.

Was mache ich falsch?




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Sa 19. Aug 2017, 13:54

Zwischen den Youtube klammern nur die Video Nummer, nicht der gesamt Link.

Also nur 5HSIKM4JBy4 in deinem Fall




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iselilja
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Sa 19. Aug 2017, 14:38

Ottington hat geschrieben :
Sa 19. Aug 2017, 13:54
Zwischen den Youtube klammern nur die Video Nummer, nicht der gesamt Link.

Also nur 5HSIKM4JBy4 in deinem Fall
Ah. Besten Dank. Und sorry an Naupilos, dass wir die Nuancen hier gerade etwas zu sehr nuanciert haben. :-)




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novon
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Sa 19. Aug 2017, 23:20

Den Button hatte ich bereits gefunden, dass es da nur der uid bedarf war mir nicht bekannt. Gut zu wissen. Thanks. :)




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