nuances - nuages / ein Vibrationsalarm (2)

Theoretische und poetologische Aspekte der Literatur
Nauplios

So 20. Aug 2017, 16:22

Als ob nichts gewesen wäre
Die Krähe
Die Weide

(Issa, Munier)

Ein Komponist der kleinen Form ist Anton Webern. "Ein ganzer Roman in einer Viertelpause" (Arnold Schönberg). Pausen, Intervalle, das Dazwischen, ma ... Valery schreibt einmal an die Übersetzerin Kikou Yamata: "Die kleinen Stücke, die Sie uns bieten, sind von der Größenordnung eines Gedankens." (zit. n. Barthes; Die Vorbereitung des Romans; S. 161). Das Haiku und mit ihm jene kleine Formen sind resistent gegen ein fabula docet; zusammenfassen kann man das schon gar nicht. Es gibt kein Résumé. Das Wenige - wenn auch in der "Größenordnung eines Gedankens" - fällt beinahe in das Zwischen des Dazwischens. "Als ob nichts gewesen wäre".




Nauplios

So 20. Aug 2017, 17:11

Das Haiku ist resistent gegen jede Hermeneutik. Barthes spricht von einer "Priesterzivilisation" von Deutungen, Deutern. Das Haiku ist für uns unzugänglich. Das Kurze hat für uns den Geschmack des Unzulänglichen.




Nauplios

So 20. Aug 2017, 17:31

Der Augenblick der Wahrheit - er kommt dem Lesenden zu, weniger dem Schreibenden. Diese Barthes´sche Theorie der kleinen Form, der Plötzlichkeit des Erscheinens und des Umschlags von Literatur in Leben und zurück, findet sich klassicherweise bei Dante, im 6. Gesang des Inferno:

Wir lasen einst, auf Kurzweil nur bedacht,
Wie Lanzelot sich wand in Liebesbanden:
Allein war ich mit ihm , ohn Arg und Acht.
Beim Lesen kam´s, daß sich die Blicke fanden,
Und mehr als einmal blich die Wang´ uns beiden,
Doch eines machte Will und Wehr zuschanden:
Vom Lächeln lasen wir, wie dran sich weiden
Die Blicke, wie er´s küßt, der Buhle hehr, -
Da küßt auch mich, den nichts von mir kann scheiden,
Erzitternd küßte meinen Mund auch er ...
Galeotto war das Buch und der´s erdachte!
An jenem Tage lasen wir nicht mehr ...

(Dante; Inferno; 6, 127ff)

Ein Zeichen, welches das Dazwischen vielleicht noch am ehesten markiert, ist der Gedankenstrich (V. 134)




Nauplios

So 20. Aug 2017, 17:54

Er nimmt ihre Hand. Ein Moment. Eine Berührung. Ein Ausdruck. Ein Zeichen. Es zeigt sich etwas. Es muß nichts mehr gesagt werden. Die Sprache ist angekommen. - Ähnlich der Tod der Großmutter in Prousts Recherche. Liebe und Tod, Augenblicke der Wahrheit. Diderots instant prégnant in seiner Theorie der Malerei: Im Bild verdichten sich Ereignisse. Wir sagen auch: etwas wird auf den Punkt gebracht.




Nauplios

Di 22. Aug 2017, 17:06

Nur wenige Literaturtheoretiker sind dem Zusammenhang von Text und Lust so weit nachgegangen wie Roland Barthes. Dazu ist die Öffnung des fast Intimen für die Avancen, die der Text macht, erforderlich. Barthes hat das an vielen Stellen in seinen Aufsätzen und Vorlesungen getan, insbesondere in seiner letzten Vorlesung Die Vorbereitung des Romans. Der Text der Erinnerungen von Chateaubriand "streichelt mich" ... vom "Liebesbegehren", von "Zärtlichkeiten" ist die Rede ... von "Ek-stase" ... Barthes ist der verführte Leser, dessen theoria das begehrende Anschauen eines "Gegenstandes" der Lust ist. Die "Glut" dieser Lust verlöscht nie und läßt das Begehren, selbst zu schreiben erwachen. Man mag an Obsessionen à la Bunuel denken, an das "obskure Objekt" und eher noch an jene Gradisca aus Fellinis Amarcord, welche die unerfüllte Leidenschaft des jungen Titta weckt.





Nauplios

Di 22. Aug 2017, 17:45

Die Inszenierung des Lebens als seine Verweigerung durch Schreiben: "Das Leben ist nur unter der Bedingung zu ertragen, daß man nicht daran teilnimmt." (Flaubert an Louise Colet; Briefe; S. 588) -




Nauplios

Mi 23. Aug 2017, 00:13

"Ich möchte, obwohl ich sehr krank bin, eine Studie über Sainte Beuve [...] schreiben. Die Sache stellt sich mir im Geiste auf zwei verschiedene Arten dar, unter denen ich wählen muß. Aber ich bin noch unentschlossen und sehe noch nicht klar."
(Proust im Dezember 1908 an Madame de Noailles)

Prousts Unentschlossenheit {zwei Wege / Essay-Roman / auch biographisch: die Zäsur, welche der Tod der Mutter mit sich bringt} Barthes spricht von der "strukturalen Alternanz" und verweist auf Jakobsons berühmte Opposition von Metapher und Metonymie. "Die `Metapher´ steht hinter jedem Diskurs, der die Frage stellt: Was ist das? Was bedeutet das?" {Essay} / "Die `Metonymie´ stellt hingegen eine andere Frage: Was kann auf das, was ich äußere, folgen? Was kann aus der Episode, die ich erzähle, hervorgehen?" (Barthes; Das Rauschen der Sprache; S. 308) - Prousts "Unentschlossenheit" betrifft also die Form. Am Ende entscheidet sich Proust für ein Drittes, die Form der Rhapsodie. Etymologie: ein Zusammengenähtes. Vgl. das Zusammenkleben der Manuskriptseiten.




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Stefanie
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Mi 23. Aug 2017, 11:31

Auch wenn ich mangels Kenntnisse inhaltlich nichts beitragen kann, muss ich aber loswerden, dass ich das alles mehr als nur interessant finde und auf den nächsten Beitrag warte.

Das war z.B. ein Aha Effekt:
Die `Metapher´ steht hinter jedem Diskurs, der die Frage stellt: Was ist das? Was bedeutet das?" {Essay} / "Die `Metonymie´ stellt hingegen eine andere Frage: Was kann auf das, was ich äußere, folgen? Was kann aus der Episode, die ich erzähle, hervorgehen?"



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Nauplios

Mi 23. Aug 2017, 18:11

Das Spannende an der Vorgehensweise von Roland Barthes (Julia Kristeva, Gérard Genette, Harold Bloom u.a.) ist für mich, daß sie quasi die Biographie immer als Zusammenfluss und Zusammenhang von bios/Leben und grapho/ritzen, malen, schreiben sehen. Liebespaare ritzen ihre Liebe zueinander symbolisch in einen Baum, in eine Bank, oft auch an entlegener Stelle, im Wald, auf der Plattform eines Aussichtsturms usw. Obwohl Barthes den "Tod des Autors" verkündet, denkt er die Literatur vom Schreibenden aus; dabei fließt das Geschriebene ein in den großen Strom des bisher Geschriebenen. Genette spricht von den Palimpsesten (antike/mittelalterliche Manuskriptseiten oder -rollen, bei denen die Schrift abgeschabt wurde, um sie danach wieder neu verwenden zu können): hinter dem Geschriebenen sind ältere Zeichen zu erkennen. Der Schreibende schreibt (ritzt) sich gleichsam ein. Er schreibt nicht nur eine mehr oder weniger unterhaltsame Begebenheit aus seinem Leben, womit sich die Leser die Zeit vertreiben, sondern das Verhältnis von Schreiben, Lesen und Leben wird neu konfiguriert. Das Gelesene weckt das Begehren, selbst zu schreiben. Schreiben und Lesen "berühren" sich (auch im Sinne: von etwas berührt sein). Die "Subjektivität" des "Autors" verflüchtigt sich. Am Ende bleibt das Gewebe, der Text. Und ganz "nebenbei" wird damit der Unterschied zwischen Literatur und Philosophie eingeebnet. Die literarischen Formen verlaufen ineinander: alles ist Text. Am Ende steht die "Lesbarbeit der Welt". :-)





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Friederike
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Mi 23. Aug 2017, 19:09

Nauplios hat geschrieben :
Mi 23. Aug 2017, 18:31
www.kristeva.fr/barthes.html
@Nauplios, schaust Du bitte noch einmal wegen des links. Bei mir erscheint nur ein Quer-Verweis aufs Forum.




Nauplios

Mi 23. Aug 2017, 19:51

(Der Link ist offensichtlich auch einem Palimpsest zum Opfer gefallen; eine anderer Verweis hat den ursprünglichen abgeschabt. Dank' an Jörn für den Hinweis.)

Seltsam - gerade lese ich in Barthes' Vorbereitung des Romans dies:

"Eine Überschreitung des ROMANS zeichnet sich ab, die dessen kanonische Form wie eine Figur auf einem Palimpsest überschreibt; und hervor tritt die Kategorie des ROMANHAFTEN, dessen Faszination im selben Maße wächst, wie der Roman als Kanon an Interesse verliert. [...] All das arbeitet auf ein neues Wort hin, daß gewiß keine Gattungsbezeichnung ist, sondern ein Werk bezeichnet, dessen Gattung nicht zu bestimmen ist: TEXT." (S. 229f.)




Nauplios

Mi 23. Aug 2017, 20:25

Nietzsche in der "Geburt der Tragödie": "Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem exzentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung der vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt ..." (Nietzsche; Werke; Bd. I; S. 79f) -

TEXT - das ist die Notiz, die Abhandlung, der Traktat, der Aphorismus, der Dialog, das Gedicht, die Tragödie, der Roman ... das Evangelium (?) ... der Koran (?) ... den Koran als TEXT behandeln (s. Levinas, der den Talmud behandelt) - Koran als altarabische Dichtung lesen, das ist etwas, was im alten Forum nicht verstanden wurde; man hat geglaubt, dahinter verberge sich eine Anleitung zum Bombenbau. :-)




Nauplios

Do 24. Aug 2017, 17:11

Zwei genera verbi, Aktiv und Passiv, lassen die Frage aufkommen, die sich Barthes in dem gleichnamigen kleinen Aufsatz gestellt hat: Schreiben, ein intransitives Verb?. - Schreiben + Akkusativobjekt / Schreiben ohne Satzergänzung.

"Was machen Sie beruflich?" - "Ich schreibe."

Eine Satzergänzung wird sozusagen schwebend mitgedacht. Im Altgriechischen gibt es ein drittes genus verbi, das Medium. nómous tithenai = Gesetze aufstellen (Aktiv) / nómous tithésthai = Gesetze aufstellen und sich darin mit einschließen (sich Gesetze geben) (Medium). Barthes' Mutmaßung: Unsere (alteuropäische) Philosophie bezieht alles auf ein Subjekt, ist subjektiv, weil die Sprache, weil unsere Sprache der Sache nach kein Medium kennt. Im Fundament unserer Sprache ist die Diathese Aktiv/Passiv eingeschrieben.




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iselilja
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Do 24. Aug 2017, 17:43

Nauplios hat geschrieben :
Do 24. Aug 2017, 17:11
Barthes' Mutmaßung: Unsere (alteuropäische) Philosophie bezieht alles auf ein Subjekt, ist subjektiv, weil die Sprache, weil unsere Sprache der Sache nach kein Medium kennt. Im Fundament unserer Sprache ist die Diathese Aktiv/Passiv eingeschrieben.
Diese Vermutung teile ich schon des längeren. Weniger der Inhalt als vielmehr die Struktur unserer Sprache bestimmt (vielleicht nicht unbedingt wesentlich aber doch zumindest ausreichend) den Bedeutungsgehalt mancher Aussage. Deleuze und Guattari haben dazu einiges erarbeitet, wie sich Sprache mit der Zeit "selbst" generiert und verändert. Möglich wäre also, dass der sich verändernde Inhalt (bspw. neue Paradigmata) langfristig Einfluß auf die Selbstgestaltung von Sprache nimmt.




Nauplios

Do 24. Aug 2017, 17:49

Schreiben als Begehren, als Drang / Rimbaud hört mit dem Schreiben auf ("Ich kümmere mich nicht mehr darum." (s. Barthes; Vorbereitung des Romans; S. 241). An die Stelle des Schreibens tritt das Reisen (Rimbaud) oder auch die Verlegung des Lebensmittelpunkts, etwa auf eine Insel (Rousseau). Vgl. das östliche wu-wei, (Nicht-Tun). Irgendwo wartet Heideggers Bienenvolk: "Das Bienenvolk wohnt in seinem Möglichen." (Aufsätze und Vorträge; S. 98) -




Nauplios

Do 24. Aug 2017, 17:55

"Selbstgestaltung der Sprache" (iselilja) -

"Die Sprache spricht." (Heidegger; Unterwegs zur Sprache)




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iselilja
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Do 24. Aug 2017, 18:03

Im alten Rom gab es den schönen Begriff vita contemplativa. Ab einem gewissen Alter oder einer gewissen Erfahrungsmenge (vermute ich) gewinnt das Reisen und einfach alles betrachtend in der Welt sein wollen an Wert.




Nauplios

Do 24. Aug 2017, 19:18

Wissenschaft und Literatur - für Barthes unterscheiden sich beide nicht darin, daß sie unterschiedliche Stoffe behandeln würden, sondern darin, daß sie ein unterschiedliches Verhältnis zur Sprache haben. Für die Wissenschaft ist die Sprache ein Instrument; die wissenschaftliche "Materie" gilt es mit Hilfe der Sprache zu erfassen, ihr mit Hypothesen beizukommen u.ä. Sprache erscheint dann allenfalls noch Dekor zu sein. Die Literatur ist hingegen in der Sprache. "Die Wissenschaft wird gesprochen, die Literatur wird geschrieben; die eine wird von der Stimme geleitet, die andere folgt der Hand; hinter beiden steckt weder der gleiche Körper noch das gleiche Begehren." (Das Rauschen der Sprache; S. 11) - Man könnte das mit dem Verschwinden der Rhetorik in Zusammenhang bringen.




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