AufDerSonne hat geschrieben : ↑ Sa 16. Mär 2024, 10:56
Es ist auch nicht weither mit dem, was uns bewusst ist. Meistens sind das die alltäglichen Gegenstände, die in unserer Umgebung sind. Wenn ich meinen Tisch sehe, dann ist mir mein Tisch bewusst. Wenn ich meinen PC sehe, dann ist mir dieser bewusst. Ist ja klar. Was Bewusstsein darüber hinaus sein soll, ist mir nicht ganz klar.
Die je aktuelle Wahrnehmung, die ja oft nur kurze Augenblicke dauert -
jetzt den Tisch,
jetzt der Blick durch's Fenster in den Garten,
jetzt das grüßende Nicken der Nachbarin,
jetzt das Buch auf dem Tisch, seine Seiten, die einzelnen Wörter - all diese Einzelwahrnehmungen setzen ja eines voraus: Erinnerung. Hätte ich die Nachbarin noch nie zuvor gesehen, wüßte ich gar nicht, daß es meine Nachbarin ist. Ich könnte es vielleicht daraus schließen, daß sie im angrenzenden Garten steht, aber auf diese umständliche Prozedur ist mein Bewußtsein gar nicht angewiesen. Ohne die Leistung der Erinnerung wäre auch das Lesen in dem Buch gar nicht möglich. Ich würde immer nur das einzelne Wort wahrnehmen, vielleicht gar nur die einzelnen Buchstaben oder nur Formmerkmale einzelner Buchstaben. Ohne die Erinnerungsleistung des Gedächtnisses gäbe es weder die Nachbarin noch den Text und schließlich nicht mal den Tisch, den ich ja als Tisch wahrnehme, ohne ihn zur Gänze sehen zu können, weil meine Wahrnehmung perspektivisch angelegt ist. Auch wenn der Tisch vollständig mit Büchern bedeckt ist, von ihm also fast nichts mehr zu sehen ist, sehe ich den Tisch.
Ohne Gedächtnis könnte es kein Bewußtsein geben. Während ich gedankenverloren am Schreibtisch sitze, kann der
jetzt aktuelle Bewußtseinsinhalt der erste Kuß sein, der sich
vor 50 Jahren ereignet hat. Ohne Erinnerungsleistung wäre das Lesen eines Buches undenkbar; ich wüßte um 12.00 Uhr nicht mehr, was ich um 11.00 Uhr gelesen hab'.
Ohne Vergessen allerdings wäre auch kein Bewußtsein denkbar. Es würde unter der schier unendlichen Fülle von Einzelwahrnehmungen kollabieren. Würde ich mich an jeden einzelnen Buchstaben erinnern, wäre das Fassungsvermögen meines Bewußtseins gesprengt. Für's Lesen reicht es ja vollkommen aus, sich an einzelne Passagen und Sätze zu erinnern; entscheidend ist, daß ein Zusammenhang entstehen kann, eine Kohärenz und Kontinuität. Es gilt hier die erste der Grice' schen Gesprächsmaximen, die der Quantität.
In der Phänomenologie spricht man deshalb oft von einem Bewußtseins
strom, um dieses Phänomen der Beteiligung des Gedächtnisses mit dieser Metapher zu veranschaulichen.
"Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewusstseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die blinde Macht des Gedächtnisses unser Bewusstsein in so viele Splitter als es Augenblicke zählt." (Ewald Herig - 1870)
Von dieser Überlegung aus läßt sich übrigens auch eine Linie zur Rezeptionsästhetik ziehen. Auch das Sehen selbst unterliegt geschichtlichen Veränderungen. Das hat der Kunsthistoriker Johannes Grave in seiner Studie
Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens herausgearbeitet. (Ich hab' darauf gestern in meiner Sprachnachricht am Schluß noch hingewiesen, aber da war das Diktiergerät meine Ausführungen bereits leid.)
Für das Thema des "Weltknotens" zwischen Materie und Bewußtsein ist vielleicht auch Henri Bergsons
Materie und Gedächtnis interessant.
Vom Standpunkt der Erinnerung aus gesehen ist es also mit dem Bewußtsein durchaus "weither".