Fr 1. Mär 2024, 15:22
Interview: Der »fähigkeitsbasierte Libertarismus«. Fragen an Geert Keil
In der seit einigen Jahren andauernden Diskussion um die Willensfreiheit sind die meisten deutschsprachigen Philosophen dem »Klub der Kompatibilisten« (Ansgar Beckermann) beigetreten. Sie selbst vertreten dagegen einen »fähigkeitsbasierten Libertarismus«, Was ist darunter zu verstehen?
»Libertarisch« nennt man Freiheitsauffassungen, denen zufolge Willensfreiheit existiert und mit dem Determinismus unvereinbar ist. Ich verstehe die Annahme, dass der Mensch einen freien Willen habe, als eine nicht besonders glücklich formulierte anthropologische Aussage über menschliche Fähigkeiten der Willensbildung. Libertarisch ist eine solche fähigkeitsbasierte Freiheitsauffassung, wenn sie annimmt, dass die freiheitskonstitutiven Fähigkeiten »Zwei-Wege-Fähigkeiten« sind, also solche, die in derselben Situation auf mehr als eine Weise ausgeübt werden können. Ein Beispiel dafür ist das Entscheidungsvermögen: Die Fähigkeit, sich zu entscheiden, ist keine andere als die, sich in einer gegebenen Situation so oder anders zu entscheiden.
Was hat dieser Ansatz für Vorteile gegenüber kompatibilistischen Positionen?
Kompatibilisten leugnen, dass Menschen überhaupt Zwei-Wege-Vermögen besitzen. Die entsprechenden Redeweisen müssen sie zu bloßen Facons de parler erklären und weganalysieren, denn aus dem Determinismus folgt, dass zu keinem Zeitpunkt etwas anderes als das geschehen kann, was tatsächlich geschieht. Wenn ich also anders entschieden hätte, als ich tatsächlich entschieden habe, hätten unter Annahme des Determinismus entweder die Vorgeschichte oder die Naturgesetze anders sein müssen. Auch unsere normative Praxis des Tadelns und Strafens scheint libertarisch imprägniert zu sein: Wenn wir zu anderen oder zu uns selbst sagen: »Das hättest du nicht tun sollen«, dann unterstellen wir, dass eine andere Entscheidung unter den gegebenen Bedingungen möglich gewesen sei. Wenn die Person nicht anders handeln konnte, scheint jeder Vorwurf gegenstandslos zu sein. Libertarier können diese Redeweisen und Praxen für bare Münze nehmen, Kompatibilisten müssen sie in determinismusverträglicher Weise uminterpretieren. ...
(aus Geert Keil, Willensfreiheit und Determinismus)