Psychologismus?!

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
Tosa Inu
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So 3. Dez 2017, 12:09

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 11:41
Als Aristoteles sich daran machte, die Grundform der Aussage zu untersuchen und die Regeln auszubuchstabieren, die bei der Verknüpfung von Aussagen zu beachten sind, hat er nicht einfach empirische Häufungen von Fällen gesammelt und verallgemeinert - so wie das z.B. ein Ethologe tut, wenn er die Regelmäßigkeiten im Verhalten einer Tierpopulation beobachtet. Er hat keine Statistiken von Fällen aufgestellt, die als solche noch normativ neutral gewesen wären, und dann erst in einem zweiten Schritt gesagt: "Da die Menschen in 78% aller Fälle wie xy reden, erkläre ich jetzt diese bloß quantitative Mehrheit zur Norm. Ich, Aristoteles aus Stageira, erlasse hiermit die für alle Menschen verbindliche Regel, dass xy fortan richtig ist und alles andere falsch."

... Er hat sie vielmehr nur explizit gemacht, d.h. er hat eine für ihn wie für die anderen Sprecher bereits verbindlich geltende Norm nur in die sprachliche Form einer allgemeinen Vorschrift überführt.
Danke.

Man kann das auch als Rede gegen die Konsenstheorie der Wahrheit verstehen, pro Korrespondenztheorie.
Die Regeln des Richtigen korrespondieren mit "bereits verbindlich geltenden Normen". Würdest Du das auch so sehen?
Nun ist das Problem m.E: zu klären, wo diese Normen herkommen.
Sind sie Stück für Stück entstanden und für gut befunden worden, wäre das doch wieder Empirismus.
Liegen sie ganz woanders verborgen, wäre das Dualismus.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Hermeneuticus
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So 3. Dez 2017, 12:37

Tosa Inu hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 12:09
Man kann das auch als Rede gegen die Konsenstheorie der Wahrheit verstehen, pro Korrespondenztheorie.
Die Regeln des Richtigen korrespondieren mit "bereits verbindlich geltenden Normen". Würdest Du das auch so sehen?
Nein, weil ja die Korrespondenztheorie der Wahrheit von der grundlegenden Verschiedenheit von Wahrheitsträger und Wahrmacher ausgeht. Ja, gerade deshalb, weil das Objekt NICHT vom erkennenden Subjekt abhängt oder gar mit ihm zusammenfällt, wird ihm doch die Autorität als unabhängigem Wahrmacher eingeräumt. Aber genau das ist ja nicht der Fall, wenn Beschreibung und Gegenstand gewissermaßen nur verschiedene Aggregatzustände desselben sind. Kann man die Regeln der Logik nur als Gegenstand betrachten, indem man sie praktisch anwendet, kann auch der Gegenstand kein Wahrmacher sein, der unabhängig von der Beschreibung "vorliegt".

Nun ist das Problem m.E: zu klären, wo diese Normen herkommen.
Sind sie Stück für Stück entstanden und für gut befunden worden, wäre das doch wieder Empirismus.
Liegen sie ganz woanders verborgen, wäre das Dualismus.
Was man jedenfalls nicht kann - und darum auch gar nicht erst versuchen sollte: sich aus dem Begrifflichen quasi herausreflektieren und sich in einen Zustand unvoreingenommen zurückversetzen, da es noch keine Begriffe gab, um dann gewissermaßen der Urzeugung des Wortes beizuwohnen. (So wie man in "2001 Odyssee im Weltraum" der Urszene des Werkzeuggebrauchs scheinbar beiwohnt.) :-) Das geht nicht, so lange man spricht, reflektiert, Thesen aufstellt und begründet.

Man braucht dafür andere, holistische Erklärungsansätze, die so etwas zulassen wie "qualitative Sprünge" (Hegel).




Tosa Inu
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So 3. Dez 2017, 13:02

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 12:37
Nein, weil ja die Korrespondenztheorie der Wahrheit von der grundlegenden Verschiedenheit von Wahrheitsträger und Wahrmacher ausgeht.
Stimmt, gegen das steht u.a. Brandom ja auf.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 12:37
Ja, gerade deshalb, weil das Objekt NICHT vom erkennenden Subjekt abhängt oder gar mit ihm zusammenfällt, wird ihm doch die Autorität als unabhängigem Wahrmacher eingeräumt.
Ja, so ist wohl die Sicht, ich glaube, dass sie nicht umfassend gilt, das ist mir gerade noch einmal klar geworden. Nicht umfassend, heißt aber auch, in einigen Bereichen sehr wohl. Was bspw. die beste Methode ist, um nach Rom zu kommen, hängt von vielerlei individuellen Faktoren ab, die man rational (Empathie ist ja wesentlich ein rationales Spiel) nachvollziehen kann, als eine rationale Möglichkeit, die auch für mich gelten könnte, wären meine Prämissen die des anderen, auch das ein Gedanke Brandoms.

Der Ausweg bei Brandom in diesem Punkt ist, dass die Gesellschaft in verstärkter Weise zu Nachfragen berechtigt wäre und im schlimmsten Fall der deontische Kontostand des Abweichlers sinken würde, aber es ist ja die Möglichkeit einer guten Erklärung möglich.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 12:37
Aber genau das ist ja nicht der Fall, wenn Beschreibung und Gegenstand gewissermaßen nur verschiedene Aggregatzustände desselben sind. Kann man die Regeln der Logik nur als Gegenstand betrachten, indem man sie praktisch anwendet, kann auch der Gegenstand kein Wahrmacher sein, der unabhängig von der Beschreibung "vorliegt".
Es bleibt dennoch die Frage - das wäre aber eine gesonderte - wo die Fähigkeit zur Logik denn herkommt.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 12:37
Was man jedenfalls nicht kann - und darum auch gar nicht erst versuchen sollte: sich aus dem Begrifflichen quasi herausreflektieren und sich in einen Zustand unvoreingenommen zurückversetzen, da es noch keine Begriffe gab, um dann gewissermaßen der Urzeugung des Wortes beizuwohnen. (So wie man in "2001 Odyssee im Weltraum" der Urszene des Werkzeuggebrauchs scheinbar beiwohnt.) :-) Das geht nicht, so lange man spricht, reflektiert, Thesen aufstellt und begründet.

Ich finde diese Urszene sehr treffend, was ist Deine Kritik daran?
Eine Urzeugeugung des Wortes sehe ich darin nicht, wohl aber eine des Ichs, das ja nicht notgedrungen ein sprachliches sein muss.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 12:37
Man braucht dafür andere, holistische Erklärungsansätze, die so etwas zulassen wie "qualitative Sprünge" (Hegel).
Das sehe ich auch so. Entwicklung muss m.E. nicht als eine lückenlose Kontinuität dargestellt werden.



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Hermeneuticus
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So 3. Dez 2017, 13:29

Tosa Inu hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 13:02
Es bleibt dennoch die Frage - das wäre aber eine gesonderte - wo die Fähigkeit zur Logik denn herkommt.
Man wird sich das Universum und seinen Anfang so vorstellen müssen, dass - wie immer dieser Anfang ausgehen haben mag - die Möglichkeit des Begrifflichen, des Geistigen, Logischen... darin bereits angelegt war. Eine Erklärung des Anfangs, die diese Möglichkeit ausschließt, kann nicht wahr sein.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 12:37
Was man jedenfalls nicht kann - und darum auch gar nicht erst versuchen sollte: sich aus dem Begrifflichen quasi herausreflektieren und sich in einen Zustand unvoreingenommen zurückversetzen, da es noch keine Begriffe gab, um dann gewissermaßen der Urzeugung des Wortes beizuwohnen. (So wie man in "2001 Odyssee im Weltraum" der Urszene des Werkzeuggebrauchs scheinbar beiwohnt.) :-) Das geht nicht, so lange man spricht, reflektiert, Thesen aufstellt und begründet.

Ich finde diese Urszene sehr treffend, was ist Deine Kritik daran?
Zu simpel. Zu mythisch. Denn es wird vorausgesetzt, dass es a) einen bestimmten Zeitpunkt und b) ein bestimmtes Individuum gab, womit alles anfing. So wie die Menschheit mit Adam und Eva, also mit einem Urvater und einer Urmutter angefangen haben müsse. Die genetische Anthropologie hat dagegen in jüngerer Zeit festgestellt, dass es einen solchen "Ur-Sprung" nie gegeben hat. "Der" moderne Mensch ist in vielen kleinen, zerstreuten Sprüngen entstanden; "er" war "ab ovo" über diverse Populationen verteilt, die sich miteinander kreuzten, herumwanderten usw. Und man darf vermuten, dass die kulturellen Errungenschaften "des" Menschen ebenso diffus entstanden sind, ja dass sogar eine Wechselwirkung zwischen Werkzeuggebrauch und organischer Entwicklung, wie Gehirngröße usw. stattfand. Also bitte keine "Urszenen"! :-)




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Alethos
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So 3. Dez 2017, 14:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 10:47
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:55
Das heisst, der Psychologismus muss sich in der intersubjektiven Praxis behaupten, die Individuen miteinander aufspannen, indem sie jenseits ihrer eigenen Vollzüge die Vollzüge der anderen anerkennen.
Das Problem mit "der intersubjektiven Praxis" ist: Warum sollte das nicht bloß eine Verschiebung des Problem sein? Eine Verschiebung von Psycholoismus zu "Soziologismus"? Beides wird dem Umstand nicht gerecht, dass wir es bei der Logik (u.ä.) mit einem Bereich eigenen Rechts zu tun haben, der Wahrheiten bereit hält, die vorliegen, egal was einer oder viele glauben.
Treffender Einwand. Und darum zähle ich mich nicht zu den Konstruktivisten. Aber der Konstruktivismus bedeutet in Bezug auf den Psychologismus bereits eine Transzendierung des Erkenntnisvermögens, insofern nicht die individuelle Psyche als konstitutiv z.B. für das Haben von mathematischen Gesetzen angesehen wird, sondern die Übereinkunft von Individuen. Dass dies eine Verschiebung bedeutet, ist einleuchtend, denn der Bereich der Wirklichkeit bleibt anthropozentrisch verfasst, wenn auch nicht mehr psychozentrisch.

Nun müssen wir als Realisten aber zeigen, was bereits Gegenstand von Fragen war, wie die Wirklichkeit logischer Gesetze ohne denkende Masse (Psychologie oder Soziologie) zustande kommt. Hermeneuticus meint, dass sich die begrifflich-logische Verfasstheit nicht über den Punkt ihrer Entstehung hinaus begrifflich zurückverfolgen lasse. Es sei nicht möglich, schliesse ich daraus, die rein objektiven Bedingungen von Logik und der Ausbildung von logischem Denken zu erfassen. Das Konzept von ‚qualitativen Sprüngen‘ aber halte ich als Alternative für unbefriedigend, weil es das Fehlen von Antworten in schöne Worte packt :), ohne tatsächlich einen informativen Mehrwert zu liefern.

Wie müssen also zeigen, wie die logische Welt ins Denken gelangen konnte, ohne zuvor schon Gedachtes zu sein. Oder anders ausgedrückt: wir müssen eine Welt denken und sie beschreiben können, die nicht psychisch oder die vorpsychisch bestanden hat, um dann in einem nächsten Schritt zu beschreiben, wie die objektiven logischen Gehalte der Welt in den Geist haben Einlass finden können. Dass dies aber ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, nimmt der Psychologismus zum Anlass, alles unter Psyche zu fassen, was überhaupt gedacht ist, so auch logische Gesetze. Der Psychologismus besetzt diese Wirklichkeiten eigenen Rechts und behauptet als Besatzungsmacht den originären Anspruch über alles Logische.

Auch wenn eine praktische Schwierigkeit darin besteht, dass logische Sein ohne Denken zu denken, so muss es der Realismus dennoch leisten, will er die Behauptungen des Psychologismus entkräften. Und ich denke, der Realismus hat die Empirie zum Verbündeten.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

Tosa Inu
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So 3. Dez 2017, 15:45

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 13:29
Man wird sich das Universum und seinen Anfang so vorstellen müssen, dass - wie immer dieser Anfang ausgehen haben mag - die Möglichkeit des Begrifflichen, des Geistigen, Logischen... darin bereits angelegt war. Eine Erklärung des Anfangs, die diese Möglichkeit ausschließt, kann nicht wahr sein.
Das ist wohl wahr, aber nun auch aus der simplen Tatsache abzuleiten, dass wir es ja tun und können, sprechen und logisch denken.
Die Möglichkeit dazu bietet der Naturalismus an.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 13:29
Zu simpel. Zu mythisch. Denn es wird vorausgesetzt, dass es a) einen bestimmten Zeitpunkt und b) ein bestimmtes Individuum gab, womit alles anfing. So wie die Menschheit mit Adam und Eva, also mit einem Urvater und einer Urmutter angefangen haben müsse.
Kann ich gut verstehen, wäre auch meine Kritik.
Das meinte ich, als ich fragte, was für einen Vorteil denn ein plötzlich und zufällig irgendwo entstandenes Ich (in einer gänzlich ichlosen Gesamtpopulation) darstellen soll.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 13:29
Die genetische Anthropologie hat dagegen in jüngerer Zeit festgestellt, dass es einen solchen "Ur-Sprung" nie gegeben hat. "Der" moderne Mensch ist in vielen kleinen, zerstreuten Sprüngen entstanden; "er" war "ab ovo" über diverse Populationen verteilt, die sich miteinander kreuzten, herumwanderten usw.
Das kann ich mir gut vorstellen, das einzige was mich an diesem Bild stört, ist, dass es das Problem abermals verlagert, denn versprengte Iche können auch nicht einfach so etwas können, was alle anderen bislang nicht konnten.

Wobei mir einfällt, dass Tomasello da eine profunde Adresse ist (gerade auch philosophisch) und sein Buch über Moral nur die Fortsetzung des Buches über kognitive Fähigkeiten ist, vielleicht sollte das mal einer lesen, das Moralbuch ist spitze.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 13:29
Und man darf vermuten, dass die kulturellen Errungenschaften "des" Menschen ebenso diffus entstanden sind, ja dass sogar eine Wechselwirkung zwischen Werkzeuggebrauch und organischer Entwicklung, wie Gehirngröße usw. stattfand. Also bitte keine "Urszenen"! :-)
Absolut.
Über Tomasello habe ich noch was gefunden: www.deutsches-museum.de/fileadmin/Conte ... 34-2-4.pdf
Darin auch die Rolle der Gesten, die Tomasello und Brandom anders bewerten, die stimmen allerdings darin überein, dass das, was den Menschen vor allen Tieren auszeichnet die Fähigkeit ist, ein kooperatives Wir zu konstruieren.



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Jörn Budesheim
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So 3. Dez 2017, 17:19

[Einschub] Psychologismus gibt es in vielen Bereichen, zum Beispiel auch bei der Frage, was Gründe sind: "Wir könnten einen Grund als die Ursache für eine Überzeugung oder Handlung definieren, die von der Person gutgeheißen wird, die die Überzeugung hat oder handelt." (Korsgaard) Das ist dann ein Psychologismus der Gründe, weil Gründe in dieser Sichtweise nichts substanziell normatives sind. Bei einer normativen Sicht, hat jemand Gründe, etwas zu glauben oder tun, weil bestimmte Tatsachen dafür sprechen, ob die Person es gutheißt oder nicht. Das ist das selbe Muster, wie in den anderen Zusammenhängen.[/Einschub]




Hermeneuticus
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Tosa Inu hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 11:29
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 11:15
Nun besagt aber das Regelregress-Argument, dass explizite, allgemeine Regeln nicht selbständig existieren können, dass die primäre und grundlegende Form von Regeln in ihrer praktischen Anwendung liegen muss.
Fast. Brandom bezieht sich auf Sellars, wenn er sagt „dass ein wohlbekannter Regress entsteht, wenn man „richtig“ als „richtig gemäß einer Regel“ versteht“ und zitiert aus Sellars‘ „Some Reflections on Language Games“:
„Die Widerlegung verläuft folgendermaßen: These. Das Erlernen einer Sprache (S) ist das Erlernen der Befolgung der Regeln von S. Doch eine Regel, die die Ausführung einer Handlung (H) vorschreibt, ist ein Satz in einer Sprache, die einen Ausdruck für H enthält. Demnach ist eine Regel, die den Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks (A) vorschreibt, ein Satz in einer Sprache, die einen Ausdruck für A enthält – also ein Satz in einer Metasprache. Also setzt das Erlernen der Regeln für S die Fähigkeit zum Gebrauch der Metasprache (MS) voraus, in der die Regeln für S formuliert sind. Das Erlernen einer Sprache (S) setzt also voraus, dass man eine Metasprache (MS) gelernt hat. Und dies setzt aus dem gleichen Grund voraus, dass man eine Metametasprache (MMS) gelernt hat, und so weiter. Das ist aber unmöglich (ein Teufelsregress). Somit ist die These absurd und muss abgelehnt werden.“
(aus: Robert Brandom, Expressive Vernunft, 1994, dt. 2000, Suhrkamp, S.64f)
Das Regelregress-Argument hat im Kern bereits Kant formuliert. Siehe dazu Beitrag 6767 im Thread "Der Rechtsbegriff 'Menschenwürde'..."
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 31. Okt 2017, 14:07
Kant hat geschrieben : Der natürliche Verstand kann nun noch durch Belehrung mit vielen Begriffen bereichert und mit Regeln ausgestattet werden; aber das zweite intellektuelle Vermögen, nämlich das der Unterscheidung, ob etwas ein Fall der Regel sei oder nicht, die Urteilskraft (iudicium), kann nicht belehrt, sondern nur geübt werden; [...]. Es ist auch leicht einzusehen, dass dies nicht anders sein könne; denn die Belehrung geschieht durch Mitteilung von Regeln. Sollte es also Lehren für die Urteilskraft geben, so müsste es allgemeine Regeln geben, nach welchen man unterscheiden könnte, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht: welches eine Rückfrage ins Unendliche abgibt.

Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 119f.
Dieses Argument, von Kant hier kurz und knackig präsentiert, nennt man auch "Regelregress-Argument". Die Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten Regeln ist eine Konsequenz aus diesem Argument.




Tosa Inu
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So 3. Dez 2017, 18:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 17:19
Bei einer normativen Sicht, hat jemand Gründe, etwas zu glauben oder tun, weil bestimmte Tatsachen dafür sprechen, ob die Person es gutheißt oder nicht.
Nein, eigentlich nicht.
Die Pointe von Brandoms Normativismus, hier in der Nachfolge vor allem Kants, ist, dass Regeln zu befolgen kein passives Abgleichen von passt oder passt nicht ist, sondern stets eine Interpretation ist, ein Akt mit Spielraum, gerade für das Ich. Da bin ich mehr beim Subjekt als Hermeneuticus (nehme ich an), allerdings hat die soziale Gemeinschaft die Möglichkeit und das Recht die individuelle Interpretation (des Subjekts) intersubjektiv zu bewerten.

PS: Ich merke gerade, dass man das Gründe haben auch als einen Akt des Gewichtens der Gründe deuten kann, falls das gemeint war, wären wir bei einander.



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So 3. Dez 2017, 18:09

Das war ein Einschub :-) und bezog sich nicht auf Brandom! Es sollte nur zeigen, dass dieser "Zwist" "allgegenwärtig ist.Und manche, die den Psychologismus hier ablehnen, vertreten ihn an anderer Stelle selbst.




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So 3. Dez 2017, 18:25

Was wiegt denn nun stärker: Dass der Empirismus, die Regeln denen er selbst folgt, aus sich selbst nicht erklären und/oder konstituieren kann?
Oder, dass man, wird man nur kleinteilig genug, immer Erklärungen finden wird?

Mich überzeugt die naturalistische Gesamtgeschichte nicht mehr, zu viele kleine Ungereimtheiten einer im Kern immer noch starken Erzählung.



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Do 21. Dez 2017, 13:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 08:29
Gelegentlich taucht in diesem und in anderen Foren der Begriff "Psychologismus" auf. Nach meinem Gefühl ist er immer wieder (auch in anderen Zusammenhängen) Anlass für Missverständnisse.
Ich kann dazu im Grunde nur einen allgemeinen Draufblick wagen. Das Problem welches Du hier diagnostizierst gilt mE auch für alle anderen [..]ismen. Dass ich kein Freund von solchen bin, habe ich ja schon des öfteren erwähnt. Und ich will hier kurz auch erläutern, warum ich solche Ismen für eher unbrauchbar ja teilweise sogar schädlich halte. Denn damit wird (eigentlich ist das trivial) ja immer ein Begriff mit seiner eigentlichen Bedeutung einer Richtung von speziellen Meinungen/Auffassungen unterworfen. Der Begriff - hier also Psychologie - wird mir im wahrsten Sinne des Wortes geraubt. Etwas tolerabler scheinen mir da schon solche Ismen wie "Darwinismus" oder "Platonismus" - hier wird eine Denkrichtung klar einer Person zugeordnet, ohne dabei andere Begriffe (oftmals bedeutungsfremd) für sich zu reklamieren. Und genau durch diese Bedeutungsverschiebungen / Bedeutungsabwandlungen / Bedeutungsentfremdungen entstehen auch die Missverständnisse. Als Mensch wollen wir uns eben auf unsere Begriffe verlassen, wir argumentieren nach ihren Bedeutungsgehalten - wohin also solche Ismen führen können liegt eigentlich auf der Hand.




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Mo 25. Dez 2017, 07:16

Markus Gabriel, in Sinn und Existenz hat geschrieben : Nennen wir Psychologismus die Behauptung, dass gewisse scheinbar nicht-psychologische Entitäten sich unter dem Seziermesser begrifflicher Analyse als psychologische Entitäten entpuppen. »Psychologisch« meint dabei »mental« bzw. »subjektiv«, wobei Letzteres so viel wie »bloß subjektiv« bedeutet. Die Voraussetzung lautet, dass mentale Inhalte privat oder »im Geist« vorliegen und dass die Psychologie dasjenige untersucht, »was privat im Geist vorgeht«. Natürlich deckt sich dies nicht notwendig mit dem, was in der wissenschaftlichen Disziplin der Psychologie vor sich geht. Die Psychologie kann sich mit demjenigen, »was privat im Geist vorgeht«, auch deswegen nicht beschäftigen, weil es sich bei der Annahme, wir hätten fregesche Vorstellungen, um eine inkohärente Konstruktion handelt, die Wittgenstein ausgehebelt hat. Sollte die Psychologie intendieren, den Geist in einem solchen »homunkularistischen« Sinn zu studieren, wie Mark Johnston diese Auffassung von Vorstellungen nennt, sollte man sie abschaffen, da es sich um eine Pseudowissenschaft handelte.

[...]

Das Denken gehört zu dem, was es gibt, und beschäftigt sich nicht »von außen« mit dem, was es gibt. Diese Konzeption des Denkens ist ein Bestandteil der Antwort auf die Form des Skeptizismus, die sich auf einen Denkpsychologismus berufen könnte. Das Denken und seine Grundstrukturen befinden sich ebenso »da draußen« wie jeder andere Gegenstand, auf den wir uns so beziehen können, dass wir ihn erfassen oder verfehlen können. Gerade der Umstand, dass wir Theorien des Denkens entwickeln und sich dabei weitgehender Dissens hinsichtlich seiner Natur zeigt, spricht dagegen, das Denken aus dem Bereich dessen, was es gibt, auszugrenzen.




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So 4. Feb 2018, 07:21

Bewusstsein formt die Materie?
Zumindest soll es jetzt einen mathematischen Beweis dafür geben, dass Makrosysteme Mikrosysteme beeinflussen, das zufällige Rauschen beeinflussen.
Spektrum.de hat geschrieben : Ist die Realität mehr als die Summe ihrer Teile?

Einer neuen mathematischen Theorie zufolge könnten Lebewesen mit Bewusstsein und viele andere makroskopische Systeme die Zukunft stärker beeinflussen als all ihre mikroskopischen Bausteine zusammen.

Quelle und weiterlesen © Olena Shmahalo/Quanta Magazine (Ausschnitt)



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So 4. Feb 2018, 13:28

Interessanter Artikel, der mich an vieles von Harman und Gabriel erinnert. Aber wieso hast du den Thread "Psychologismus" dafür gewählt?




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So 4. Feb 2018, 14:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 4. Feb 2018, 13:28
Interessanter Artikel, der mich an vieles von Harman und Gabriel erinnert. Aber wieso hast du den Thread "Psychologismus" dafür gewählt?
Ich hatte keinen besseren Ort gefunden, ich habe aber nichts dagegen, wenn Du den Beitrag verschiebst, ist mir nicht wichtig, dass er hier steht, den Beitrag hier kannst Du dann auch gerne löschen.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Mi 7. Feb 2018, 06:16

Ich habe das mal hierhin in einen neuen Thread verschoben, weil ich das Thema sehr interessant finde https://www.dialogos-philosophie.de/viewtopic.php?t=327




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Jörn Budesheim
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Fr 12. Jan 2024, 18:32



Interessanter Gedanke: der Platonismus bzw. der Realismus in der Mathematik ist wahr, weil die Alternativen zu offensichtlich falsch sind, also Psychologismus, Physikalismus sowie Antirealismus.




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