Psychologismus?!

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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Alethos
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Sa 2. Dez 2017, 11:55

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:25
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 10:54
Man sollte auf der Suche nach dem Grund für alles nicht die Dignität alles anderen opfern, auch nicht die Würde des vernünftigen Arguments.
Das ist da der Grund, warum überhaupt etwas wie der Naturalismus, der sehr lange ein Selbstläufer war, in die Kritik geraten konnte. Der Zauber seiner allerklärenden Kraft schwindet.

Ja, nur vertritt ja die Vorstellung, Logik gründe nicht auf Psyche, nicht automatisch eine naturalistische Position, sondern z.B. eine realistische oder anti-realistische. Selbst der moderate Konstruktivismus verlegt den Seinsgrund der Phänomene in die intersubjektive Qualität ihrer Vermittelbarkeit. Der Psychologismus aber muss aufzeigen, dass er ein solcher Konstruktivismus ist, der sich auf die intersubjektive Vermittelbarkeit stützen kann, jenseits der reinen Empathie für die einzelnen isolierten Vorgänge des Innern. Sonst ist er sehr bald ein ‚Phantasmismus‘ :-)

Das heisst, der Psychologismus muss sich in der intersubjektiven Praxis behaupten, die Individuen miteinander aufspannen, indem sie jenseits ihrer eigenen Vollzüge die Vollzüge der anderen anerkennen. Dann weist er tatsächlich nach, dass er anerkennt, dass nicht alles Psyche ist, sondern Handlung, Praxis, Tatsächlichkeit etc. Aber hierfür muss er sich selbst transzendieren und aus der Welt des Inneren in die Welt des Miteinanders gelangen. Denn der Psychologismus, der behauptet, die Psyche habe immer nur sich selbst zum Gegenstand, leistet eine solche Transzendierung seiner selbst in die intersubjektive Praxis gerade nicht. Tut er es aber, widerlegt er sich selbst oder behauptet wiederum, die Menschen anerkannten sich und ihre Handlungen immer nur durch den Nebel der psychischen inneren Vorgänge und also gar nicht real.
Das ist sehr kontraintuitiv, aber nicht per se unmöglich. Behaupten liesse sich so aber keine Welt, sondern nur die Illusion von Welt aus der Optik der isolierten Psyche. Ob das eine wirkliche plausible Position ist, wage ich zu bezweifeln, halte ich als Realist die Beständigkeit von Wirklichkeit für ein überzeugendes Indiz für ihre verlässliche Tatsächlichkeit.



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Tosa Inu
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Sa 2. Dez 2017, 12:07

Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:55
Ja, nur vertritt ja die Vorstellung, Logik gründe nicht auf Psyche, nicht zwingend eine naturalistische Position, sondern z.B. eine realistische oder anti-realistische.
Klar, hier im Thread wird das als platonische Position gehandelt.
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:55
Selbst der moderate Konstruktivismus verlegt den Seinsgrund der Phänomene in die intersubjektive Qualität ihrer Vermittelbarkeit. Der Psychologismus aber muss aufzeigen, dass er ein solcher Konstruktivismus ist, der sich auf die intersubjektive Vermittelbarkeit stützen kann, jenseits der reinen Empathie für die einzelnen isolierten Vorgänge des Innern. Sonst ist er sehr bald ein Phantasismus :-)
Mit welcher Begründung meinst Du das?
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:55
Das heisst, der Psychologismus muss in der intersubjektiven Praxis behaupten, die Individuen miteinander aufspannen, indem sie jenseits ihrer eigenen Vollzüge die Vollzüge der anderen anerkennen, um nachweisen zu können, dass nicht alles Psyche ist, sondern Handlung, Praxis, Tatsächlichkeit etc. Und hierfür muss er dich selbst transzendieren und aus der Welt des Inneren in die Welt des Miteinanders gelangen. Denn der Psychologismus, der behauptet, die Psyche habe immer nur sich selbst zum Gegenstand, leistet eine solche Transzendierung seiner selbst in die intersubjektive Praxis gerade nicht.
Aber wo ist dabei das Problem? Alles anderen wäre Solipsismus, den ja hier niemand vertritt.

Meinen Psychologismus hat Jörn im Eröffnungsthread kurz angerissen, hier die längere Variante:
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 10:16
Mein Psychologismus oder Psychismus meint, dass wir immer und primär Psyche sind und auch nie die Perspektive einer Psyche verlassen können. Damit stehe ich dem Konstruktivismus nahe, mit dem Unterschied, dass ich nicht glaube, dass es a) keine Realität gibt (was aber auch nicht alle Konstruktivisten, nicht mal alle radikalen Konstruktivisten denken) oder b) wir zu dieser keinen Zugang hätten.
Ich glaube, dass es eine Realität gibt, zu der wir auch Zugang haben, dass diese aber stets überlagert und durchdrungen von allerlei psychischen Mechanismem, wie Projektionen, Verdrängungen usw. ist. Diese motivieren oder bremsen natürlich auch unsere Handlungen. Die Reduzierung der Psyche auf Hirnzustände mag naheliegend klingen, ich halte sie aber für unsinnig, weil die Übersetzung der Sprachen einfach nicht, oder nur in groben Ansätzen gelingt:
„Gedanken, die wir im mentalistischen Vokabular ausdrücken können, lassen sich nicht ohne semantischen Rest in ein empiristisches, auf Dinge und Ereignisse zugeschnittenes Vokabular übersetzen. Darin besteht die Crux jener Forschungstraditionen, die genau das leisten müssen, wenn sie ihr Ziel einer nach üblichen wissenschaftliche Standards verfahrenden Naturalisierung des Geistes sollen erreichen können. Gleichviel, ob es such um einen Materialismus handelt, der intentionale Zustände oder propositionale Gehalte und Einstellungen auf physischen Zustände reduzieren möchte, oder um einen Funktionalismus, wonach elektrische Schaltkreise im Computer oder natürliche physiologische Zustände in der Hirnrinde die kausalen Rollen „realisieren“ sollen, die mentalen Vorgängen oder semantischen Gehalten zugeordnet werden – auf der grundbegriffliche Ebene scheitern diese Versuche einer Naturalisierung des Geistes an der erforderlichen Übersetzung.“
(Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp 2005, S. 172)


Oder eben auch:
„Leider verlegt eine solche Theorie den Reiz immer an die Körperoberfläche oder ins Nervensystem. Möchte man die Frage, auf welche Gegenstände empirische Begriffe angewendet werden, anhand verlässlicher unterscheidender responsiver Dispositionen (VURDs) beantworten, dann ist eine solche Definition der Reize verheerend. Denn es sind keine Glocken und Tische und Kaninchen mehr, die durch Protobegriffe klassifiziert werden, denen sich wiederholbare Reaktionen annähern, sondern nur mehr Zustände des reagierenden Organismus. Nichts, was auch nur annähernd wie einer unserer gewöhnlichen Begriffe aussieht, wird durch eine solche Theorie eingefangen.“
(Robert Brandom, Expressive Vernunft, 1994, dt. 2000, Suhrkamp, S.599)
Soweit ich das sehe, hat der Psychismus oder Psychologismus diese Probleme, die der Neurologismus und der Biologismus ganz entschieden haben, nicht, weil er die Alltagssprache (+ Fachvokabular) nutzen und übernehmen kann, denn, da wir Psyche sind, erleben wir natürlich im Alltag den Alltag und seine Sprache, was aber nicht ausschließt, dass wir auch Formeln lösen, logisch denken, intensiv fühlen und genießen oder Künstler, Forscher und Mystiker sein können.

Es ist ja darüber hinaus auch eine durchaus ernstzunehmende philosophische Frage, ob wir in der Natur und in einem weiteren Sinne, außerhalb oder jenseits von uns nicht oft genau deshalb das entdecken, was zu gut zu unseren geistigen Erfindungen passt (Zahlen und Logik), weil wir es (unbewusst) hineingelegt haben, was ziemlich genau Kants Rede von den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis entspricht. Insofern wäre auch die Logik innerhalb des Psychischen zu verorten. Es ist zwar wahr, dass logische Richtigkeiten (d.h. korrekte Schlüsse, aus Systemen mit endlichen Schlussregeln) zwar auch dann richtig sind, wenn nieman mehr da ist, der sie formuliert und streng genommen auch dann, wenn sie noch niemand formuliert hat, aber das führt zu einer Inflation unendlicher logischer Sichtweisen, was so herzlich folgenlos ist, wie die vermeintliche oder tatsächliche Existenz paralleler Welten/Universen.

Relevant, gerade für unsere Handlungen ist allein, welche Weltbilder plus Prämissen, Regeln und Welten wir tatsächlich gelten lassen und welche welche darauf fußenden Behauptungen wir aufstellen, um diese ggf. durch Handlungen (oder Erklärungen) wahr zu machen oder einzulösen.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Hermeneuticus
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Sa 2. Dez 2017, 16:05

Die normative Struktur der Autorität und Verantwortung, die Beurteilungen und Zuweisungen der Verlässlichkeit beim Wahrnehmen und Handeln aufweisen, ist kausal bedingt.“
(Robert Brandom, Expressive Vernunft, 1994, dt. Suhrkamp 2000, S.474)
Da Tatsachen einfach wahre Behauptungen sind (im Sinne des Behaupteten, nicht des Behauptens), bedeutet dies, dass normenexplizitmachendes Vokabular am tatsachenfeststellenden Geschäft beteiligt ist. Der Unterscheidung zwischen normativen und nichtnormativen Ausdrücken entspricht also eine zwischen normativen und nichtnormativen Tatsachen. (...) Auf diese Weise ist das Normative als ein Teilgebiet des Faktischen ausgezeichnet.

Doch um auf den vorigen Gesichtspunkt zurückzukommen, es handelt sich um eine Unterscheidung innerhalb der umfassenden normativen Metasprache, in der die deontischen Kontoführungsrollen, die für normatives und nichtnormatives Vokabular charakteristisch sind, spezifiziert werden. Die Unterscheidung zwischen normativen und nichtnormativen Ausdrücken, Behauptungen und Tatsachen wird selbst in normativer Sprache getroffen. In diesem Sinne wird hier also eine Geschichte erzählt, in der es durch und durch, bis auf den Grund, um Normen geht - eine kantische Geschichte (auf der pragmatischen, nicht der semantischen Seite). Das Reich der Tatsachen und das der Normen sind keineswegs einander entgegengesetzt, sondern umfassen sich gegenseitig: Die Rede von Tatsachenfeststellungen wird in normativen Begriffen erklärt, und normative Tatsachen stellen sich als eine Art Tatsachen neben anderen heraus. Die gemeinsame deontische Kontoführungssprache, in der beide spezifiziert und erklärt werden, gewährleistet, dass die Unterscheidung zwischen normativen und nichtnormativen Tatsachen weder verblaßt noch sich zu einem letztlich nicht intelligiblen Dualismus auszuwachsen droht.

R. Brandom, a.a.O. S. 866
(Unterstreichungen von mir)
Bevor man aus dem zuerst zitierten Satz über die kausale Bedingtheit der normativen Praxis voreilige Schlüsse zieht, sollte man diese spätere Erläuterung mit ins Kalkül ziehen. - Sicher sind unsere normativen Praktiken auf vielfältige Weise mit der Welt vermittelt - wie könnte es auch anders sein? Und zu diesen Vermittlungen gehören selbstverständlich auch kausale Bedingungen und Wechselwirkungen. Nur sollte man nicht glauben, dass Brandom in irgendeiner Weise behauptet, es ließen sich normative, diskursive Praktiken auf Kausalgesetze reduzieren. Er ist - als Schüler von W. Sellars, Hegel, Kant und Frege - alles andere als ein erkenntnistheoretischer Empirist oder Psychologist in dem Sinne, dass er die Gegebenheit privater mentaler Episoden für die Grundlage unseres Wissens hielte. Und schon gar nicht vertritt er die Ansicht, dass diskursive und normative Praktiken aus Regelmäßigkeiten des Erlebens und Empfindens (d.h. deskriptiv erfassbaren psychologischen Gesetzmäßigkeiten) hervorgegangen seien.




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Dez 2017, 16:13

Hier > https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... 8807#p8807 ist ab "hypostasieren" ein "Zitatkästchen" zuviel. Ich würde es gerne entfernen, okay?




Tosa Inu
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 16:05
Bevor man aus dem zuerst zitierten Satz über die kausale Bedingtheit der normativen Praxis voreilige Schlüsse zieht, sollte man diese spätere Erläuterung mit ins Kalkül ziehen. - Sicher sind unsere normativen Praktiken auf vielfältige Weise mit der Welt vermittelt - wie könnte es auch anders sein?
Mit dem Zitat hast Du Dir die Antwort auf Deine eigene Frage, von gestern, selbst gegeben:
Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2017, 18:45
Wenn aber die Entscheidung selbst nur eine Wirkung von gegebenen Ursachen ist, ist es sinnlos, von einer Entscheidung des Subjekts zu sprechen.
Nun verstehst Du, wie das geht. Der Rekurs auf Tatsachen, die in die in ein Netz logischer und praktischer Festlegungen eingewoben sind.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 16:05
Und zu diesen Vermittlungen gehören selbstverständlich auch kausale Bedingungen und Wechselwirkungen. Nur sollte man nicht glauben, dass Brandom in irgendeiner Weise behauptet, es ließen sich normative, diskursive Praktiken auf Kausalgesetze reduzieren.
Ja, das sollte man nicht glauben. Nur hat das zum Glück ja auch niemand behauptet.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 16:05
Er ist - als Schüler von W. Sellars, Hegel, Kant und Frege - alles andere als ein erkenntnistheoretischer Empirist oder Psychologist in dem Sinne, dass er die Gegebenheit privater mentaler Episoden für die Grundlage unseres Wissens hielte.
Jaja, ich hab das Buch gelesen. Aber wer hat denn behauptet, dass Brandom Empirist sei?
Psychologist im hier diskutierten Sinne ist er hingegen ganz gewiss.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 16:05
Und schon gar nicht vertritt er die Ansicht, dass diskursive und normative Praktiken aus Regelmäßigkeiten des Erlebens und Empfindens (d.h. deskriptiv erfassbaren psychologischen Gesetzmäßigkeiten) hervorgegangen seien.
Natürlich nicht. Um 12:07 hatte ich mich ja selbst zitiert, war vom 25.9., darin ein Brandom Zitat das diesen Umstand belegt.
Unwahrscheinlich, dass ich danach das glatte Gegenteil behaupte, falls Du meinst, ich hätte es getan, einfach zitieren.



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Jörn Budesheim
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2017, 14:58
Eben als verschiedene Beschreibungen, die unterschiedlichen Erklärungszwecken dienen und die im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben und Möglichkeiten auch ganz vernünftig sind.
Wenn wir es mit verschiedenen Beschreibungen zu tun haben, wie können wir sichergehen, dass beide Beschreibung, die sich ja auszuschließen scheinen, wahr sind?




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Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 16:52
Psychologist im hier diskutierten Sinne ist er hingegen ganz gewiss.
Ich diskutiere hier die ganze Zeit Psychologismus primär im Sinne von Empirismus. Siehe zu diesem sachlichen Zusammenhang auch den Lexikonartikel, den Jörn im Eröffnungsbeitrag zitiert hat, und den von mir gescannten Lexikoneintrag. Wenn also Brandom kein Empirist ist, kann er auch kein Psychologist sein.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 07:16
Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2017, 14:58
Eben als verschiedene Beschreibungen, die unterschiedlichen Erklärungszwecken dienen und die im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben und Möglichkeiten auch ganz vernünftig sind.
Wenn wir es mit verschiedenen Beschreibungen zu tun haben, wie können wir sichergehen, dass beide Beschreibung, die sich ja auszuschließen scheinen, wahr sind?
Indem wir Prüfverfahren anwenden, die aufkommende Zweifel ausräumen. Aber diese Verfahren variieren halt mit den Gegenständen und deren Facetten.

Nehmen wir als Beispiel die Verhandlung eines Mordfalls vor Gericht. Da gilt es zunächst einmal, den Sachverhalt des Mordes festzustellen, den Tathergang zu rekonstruieren und zu belegen, dass der Beklagte die Tat begangen hat. Im Rahmen dieser Beschreibung werden immer wieder kausale Zusammenhänge hergestellt bzw. es wird das Geschehen anhand kausaler Gesetzmäßigkeiten rekonstruiert. Die Anklage hat nur Bestand, wenn es gelingt, den Beklagten zweifelsfrei als denjenigen zu identifizieren, der das Tatwerkzeug (etwa ein Messer) so benutzt hat, dass es den Tod des Opfers verursachte.
Aber mit dieser Rekonstruktion des strafbaren Sachverhalts und dem Nachweis der Täterschaft ist das Verfahren noch nicht erschöpft. Denn nun muss auch noch geklärt werden, ob und in welchem Maße der Täter schuldig im Sinne der Anklage ist. Das ist mit der kausalen Rekonstruktion des Tatgeschehens noch nicht beantwortet. Schuld/Unschuld sowie die Schuldfähigkeit des Beklagten stehen offenbar auf einem anderen Blatt. Da muss z.B. geklärt werden, ob der Beklagte die Tat geplant hatte, welche Absichten er damit verfolgte, ob er unter Drogen stand und ob ihm klar war, dass er eine schwere Straftat beging. Aber auch für eine solche Beurteilung gibt es Kriterien. So wird sich das Gericht ein Gesamtbild von der Person des Beklagten verschaffen müssen - von seinem Lebenslauf, seinem Erwerbsleben, seinen Beziehungen zu anderen Menschen, seiner Bildung, etwaigen Vorstrafen usw. Nicht zuletzt spielt natürlich das unmittelbare Auftreten des Beklagten in der Verhandlung eine große Rolle: Ist er kooperativ und geständig, bereut er die Tat, ist er uneinsichtig, berechnend, kaltblütig...?

Das Beispiel zeigt allerdings auch, wie sich die verschiedenen Arten der Beurteilung - die kausale Beschreibung der Tat und die Klärung der Schuldfrage - zueinander verhalten. Sie schließen einander nicht derart aus, dass sie gewissermaßen in zwei verschiedenen Welten stattfänden. Sie überlappen und ergänzen sich vielmehr - bleiben aber doch kategorial verschieden, da die eine Beurteilungsart nicht nahtlos in die andere übergeht oder durch sie ersetzt werden könnte.
Zuletzt geändert von Hermeneuticus am So 3. Dez 2017, 09:24, insgesamt 1-mal geändert.




Tosa Inu
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So 3. Dez 2017, 09:12

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 07:20
Ich diskutiere hier die ganze Zeit Psychologismus primär im Sinne von Empirismus.
Das ist mir nicht verborgen geblieben, aber wir waren schon an einer anderen Stelle. Wenn nun niemand hier einen reinen Empirismus vertritt, so bleibt die Frage, wie es um die Psyche und ihre Fähigkeiten, samt ihrer grundlegenden Kraft zur alles andere als selbsterständlichen Ichbildung, denn sonst bestellt ist.

Sprache zu sprechen, setzt bereits früh viel voraus, nicht nur, aber auch logische Fähigkeiten. Sagt man, diese seien halt da, oder schlimmer, kämen irgendwo aus dem Gehirn, verschiebt man das Problem nur, aber eine irgendwo residierende eigene Welt der Logik hat eine entschieden dualistische Komponente, mitsamt zugehörender Probleme. Schiebt man diese nun in die Sprachpraxis, ist ja auch nichts gelöst, weil man die irgendwie daseienden Fähigkeiten nur auf viele diskursive Wesen verteilt, erklärt ist damit ebenfalls noch nichts. Sie können das halt alle.

Im Extrem versagt der Empirismus, weil er als Fähigkeit voraussetzt, was nach seiner Lesart erst durch Erfahrung entstehen müsste.
Der Logizismus versagt, weil er nicht erklären kann, wie der Kontakt mit der empirischen Seite der Welt denn nun hergestellt werden soll.

Denkt man sich das als Weg in sehr vielen, sehr kleinen Schritten, die für die Praxis Sinnvolles behalten, ist man bei der klassischen Evolutionstheorie. Dass diese das Gesamtphänomen Bewusstsein nun zufriedenstellend erklärt, glaubt heute auch nicht mehr jeder. Das Hauptproblem ist und bleibt wohl, dass die Psyche, egal wie wir sie uns denken, schwer als Nicht-Ganzes gedacht werden kann, sondern sie erscheint uns vielmehr als etwas, was die Fähigkeit hat, die Gesamtheit verschiedenster Eindrücke zu einem recht konstanten (und daher meist unbeobachteten) Rahmen zusammenfließen zu lassen.
Diesen aufzuspannen ist ein rationaler Akt, wir fragen uns, woher er wohl kommt.

Was Brandom uns hier in jedem Fall geben kann, ist die Betonung des Akts des Verstehens, die bei ihm ziemlich zentral ist. Der Unterschied ist in der Weise relevant, dass die Fähigkeit zu zuverlässigen Richtigkeiten auch Robtoern und dressierten Tieren zukommen können, aber irgendwo kommt der Punkt an dem ein Wesen nicht einfach nur agiert, in dem Sinne, dass ein Programm in ihm abläuft (die Dennett'sche Unterscheidung in physikalische und intentionale Systeme ist nicht in der Lage, das zu erfassen und zu erklären), sondern - wie primitiv auch immer - irgendwann hat ein Wesen erstmalig die Möglichkeit zu verstehen, was es tut und damit geht die "Ich kann/könnte auch anders"-Sonne auf, zumindest dämmert der Morgen.

So weit, so gut, so zufällig ... aber warum sollte das in irgendeiner Art und Weise ein Vorteil sein, der weiter gegeben wird?
Sachdienliche Hinweise erbeten.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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So 3. Dez 2017, 09:41

Tosa Inu hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 09:12
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 07:20
Ich diskutiere hier die ganze Zeit Psychologismus primär im Sinne von Empirismus.
Das ist mir nicht verborgen geblieben, aber wir waren schon an einer anderen Stelle. Wenn nun niemand hier einen reinen Empirismus vertritt...
Herr K. vertritt einen solchen Empirismus. Für ihn sind logische Gesetze psychologische Gesetze, und die leiten sich aus (empirischen) Beobachtungen des menschlichen Verhaltens und der Generalisierung dieser Beobachtungen ab. Siehe dazu die Beiträge 8503, 8782 und 8799:
Herr K. hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2017, 15:25
Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2017, 13:28
Herr K. hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2017, 12:21
Psychologische Gesetze wären damnach solche, die aus dem Denken, den Handlungen und den sozialen Praktiken der Menschen ableitbar sind.
Was heißt "ableitbar"? Was ist die Grundlage der Ableitung? 1. Sind diese Gesetze Generalisierungen von statistischen, empirischen Beobachtungen und (introspektiven) Selbstbeobachtungen? 2. Aber wie ginge das mit der strengen Allgemeinheit logischer Regeln zusammen (die Du doch vermutlich als psychologische Gesetze verstehst)? 3. Und wie bekommen deskriptiv festgestellte psychische Regelmäßigkeiten eine normative Geltung? Durch willkürliche Beschlüsse?
1. ja
2. kommt darauf an, was Du unter "strenger Allgemeinheit" verstehst
3. Zweckrationalität, hypothetischer Imperativ




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So 3. Dez 2017, 10:24

Tosa Inu hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 09:12
Im Extrem versagt der Empirismus, weil er als Fähigkeit voraussetzt, was nach seiner Lesart erst durch Erfahrung entstehen müsste.
Der Logizismus versagt, weil er nicht erklären kann, wie der Kontakt mit der empirischen Seite der Welt denn nun hergestellt werden soll.
Nur deckt diese Opposition - Empirismus kontra Logizismus (im Sinne Freges und Husserls) - nicht alle Möglichkeiten des Spektrums ab. Für Pragmatisten wie Hegel und Brandom - um nur zwei Namen zu nennen - hat nämlich das Begriffliche/Logische seinen Sitz mitten im Leben, also in der Welt unseres Handelns und Erfahrens. Für sie ist bereits Erfahrung in sich begrifflich/logisch vermittelt, d.h. eine logische Praxis. Will sagen: Die Handhabung von Begriffen IST genau die Art und Weise, in der wir - als rationale Wesen - den Kontakt mit der Welt herstellen. Denn wir nehmen das "Gegebene" stets als etwas, das unter Begriffe fällt und somit eine Rolle (als Prämisse oder Konklusion) in logischen Ableitungen spielen kann.
Denkt man sich das als Weg in sehr vielen, sehr kleinen Schritten, die für die Praxis Sinnvolles behalten, ist man bei der klassischen Evolutionstheorie. Dass diese das Gesamtphänomen Bewusstsein nun zufriedenstellend erklärt, glaubt heute auch nicht mehr jeder. Das Hauptproblem ist und bleibt wohl, dass die Psyche, egal wie wir sie uns denken, schwer als Nicht-Ganzes gedacht werden kann, sondern sie erscheint uns vielmehr als etwas, was die Fähigkeit hat, die Gesamtheit verschiedenster Eindrücke zu einem recht konstanten (und daher meist unbeobachteten) Rahmen zusammenfließen zu lassen.
Diesen aufzuspannen ist ein rationaler Akt, wir fragen uns, woher er wohl kommt.
Eine berechtigte Frage, nur sollte man nicht glauben, sie reduktionistisch beantworten zu können, also nach der Devise: Wie können wir stohdumme Wasserstoffatome so zusammensetzen, dass rationale Ganze draus werden? :D




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So 3. Dez 2017, 10:36

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 09:41
Herr K. vertritt einen solchen Empirismus. Für ihn sind logische Gesetze psychologische Gesetze, und die leiten sich aus (empirischen) Beobachtungen des menschlichen Verhaltens und der Generalisierung dieser Beobachtungen ab.

Das sind sie ja für mich in der Weise auch.
Mein Psychologismus besagt, dass man die Psyche nie verlassen kann, d.h. wir sind immer Psyche.
Da Psychen aber logisch denken, fühlen, kommunizieren ... können, ist das kein trauriger Solipsismus aus dem dann alles abgeleitet werden muss.
Den Empirismus halte ich aus genannten Gründen für unüberzeugend.

Dennoch kann man sich Tiere als Wesen vorstellen, die nach den Regeln der klassischen Evolutiontheorie funktionieren, bis zu dem Punkt, dass in ihnen evolutionär erfogreiche Programmen ablaufen, von denen die Tiere nichts wissen und die sie auch nicht beeinflussen können. Selektion und Anpassung sind die Mechanismen, die das ohne Rückgriff auf eien höhere Intelligenz erklären. Kannst Du dem bis hierhin zustimmen?

Irgendwann verstanden die Tiere aber, ein Stück weit, was sie da taten. Eine neue Instanz war im Spiel: ein Ich, eine Psyche. Mit der Existenz dieser Psyche ist nun auf einmal sehr viel mehr verbunden, als einfach nur "Ich" zu fühlen, das ist eine dramatische Änderung so ziemlich aller Perspektiven und greift auf Fähigkeiten zurück, die man bisher niicht brauchte.

Ich habe nun nichts dagegen, dass Du den Gedanken einer schrittweisen Entstehung ablehnst, aber wo kommt Deiner Meinung nach, diese sehr schnell, sehr ausgefeilte Fähigkeit zur Logik denn her? Vielleicht exisitert ja tatsächlich eine eigene Welt der Logik, aber wie interagiert sie dann mit unserer Welt? Es geht ja nicht darum, dass alle einer Meinung sein müssen, sondern, wie man sich und anderen die Probleme, die sich aus den präferierten Prämissen ergeben, erklärt.
----
Anderer Aspekt:

Der Referenzpunkt für Deine Auffassung bei Brandom liegt m.E. eher in Kap. 2.2, wo er die von Kant eingeleitete Wende zum Urteil als Kern, als primären Baustein des Bewusstseins beschreibt, eine Idee, die dann von Frege und Wittgenstein aufgenommen und weitergeführt wird.
Und dann früher, in 1.3 und 1.4 wo er die Probleme des Regulismus, vorgeschalteter Regeln, denen wir folgen und Regularismus, Regeln als Konsequenz unserer Einsichten, diskutiert und beide zurückweist. Kant zufolge sind wir Regeln nicht nur unterworfen, sondern auch sensibel ihnen gegenüber (S.76) und später will er mit Wittgenstein zwischen dem Regulismus (der im Regel-Regress endet) und dem Regularismus (der im "Gerrymandering", einer Form der Beliebigkeit endet) hindurch. Nach Brandoms Auffassung von Wittgenstein lässt sich das durch Gepflogenheit, Institution und Rituale(?) umgehen, aber das ist gerade kein Logizismus, sondern eine Postion dazwischen, die er dann im Folgenden in seltener Virutosität ausbuchstabiert.
Grob gesagt, bietet man seine je eigene Interpretation von Regeln in ihrer konkreten Form an und stellt sie damit auch zur Diskussion, weil es nun eben zu den Berchtigungen nachzufragen, etc pp kommt.
Zuletzt geändert von Tosa Inu am So 3. Dez 2017, 11:06, insgesamt 3-mal geändert.



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Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 10:24
Nur deckt diese Opposition - Empirismus kontra Logizismus (im Sinne Freges und Husserls) - nicht alle Möglichkeiten des Spektrums ab.
Ja, siehe dazu den unteren Teil meiner obigen Antwort.
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 10:24
Eine berechtigte Frage, nur sollte man nicht glauben, sie reduktionistisch beantworten zu können, also nach der Devise: Wie können wir stohdumme Wasserstoffatome so zusammensetzen, dass rationale Ganze draus werden? :D
Ja, man sollte auch keine Dackel in kochendes Wasser werfen.
Allerdings hat niemand hier behauptet, das eine oder andere tun zu wollen ....



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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So 3. Dez 2017, 10:47

Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:55
Das heisst, der Psychologismus muss sich in der intersubjektiven Praxis behaupten, die Individuen miteinander aufspannen, indem sie jenseits ihrer eigenen Vollzüge die Vollzüge der anderen anerkennen.
Das Problem mit "der intersubjektiven Praxis" ist: Warum sollte das nicht bloß eine Verschiebung des Problem sein? Eine Verschiebung von Psycholoismus zu "Soziologismus"? Beides wird dem Umstand nicht gerecht, dass wir es bei der Logik (u.ä.) mit einem Bereich eigenen Rechts zu tun haben, der Wahrheiten bereit hält, die vorliegen, egal was einer oder viele glauben.




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So 3. Dez 2017, 11:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 10:47
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:55
Das heisst, der Psychologismus muss sich in der intersubjektiven Praxis behaupten, die Individuen miteinander aufspannen, indem sie jenseits ihrer eigenen Vollzüge die Vollzüge der anderen anerkennen.
Das Problem mit "der intersubjektiven Praxis" ist: Warum sollte das nicht bloß eine Verschiebung des Problem sein? Eine Verschiebung von Psycholoismus zu "Soziologismus"? Beides wird dem Umstand nicht gerecht, dass wir es bei der Logik (u.ä.) mit einem Bereich eigenen Rechts zu tun haben, der Wahrheiten bereit hält, die vorliegen, egal was einer oder viele glauben.
Zu einem Bereich "eigenen Rechts" ist aber doch "die Logik" erst dadurch geworden, dass ihre Regeln in einer metasprachlichen, systematischen Reflexion zusammengestellt wurden. Vor Aristoteles gab es "Logik" schlechterdings nur als soziale Praxis des Begriffsgebrauchs. (So wie es ja auch "die Sprache" nur als soziale Praxis gab, bevor sich Gelehrte daran gemacht haben, ihre Bestandteile und Regeln zusammenzustellen und zu systematisieren.) Nur wenn man diese Genese der "Logik" nicht bedenkt, kann es so scheinen, als sei sie ein freischwebendes Ganzes von ewigen Gesetzen mit ewigen Wahrheiten.




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Jörn Budesheim
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So 3. Dez 2017, 11:12

Welches Argument zeigt denn, dass wir es mit einer Genese der Logik zu tun haben und nicht mit einer Genese der Erkenntnis der Logik?




Hermeneuticus
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So 3. Dez 2017, 11:15

Das Regelregress-Argument. Denn die "Logik" - als systematische, wissenschaftliche Disziplin - besteht aus expliziten, allgemeinen Regeln. Nun besagt aber das Regelregress-Argument, dass explizite, allgemeine Regeln nicht selbständig existieren können, dass die primäre und grundlegende Form von Regeln in ihrer praktischen Anwendung liegen muss. Und diese praktische Anwendung war - bevor die "Logik" als ein System aus expliziten Regeln zusammengestellt wurde - die soziale Praxis des Begriffsgebrauchs.




Tosa Inu
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So 3. Dez 2017, 11:18

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 11:06
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 10:47
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Dez 2017, 11:55
Das heisst, der Psychologismus muss sich in der intersubjektiven Praxis behaupten, die Individuen miteinander aufspannen, indem sie jenseits ihrer eigenen Vollzüge die Vollzüge der anderen anerkennen.
Das Problem mit "der intersubjektiven Praxis" ist: Warum sollte das nicht bloß eine Verschiebung des Problem sein? Eine Verschiebung von Psycholoismus zu "Soziologismus"? Beides wird dem Umstand nicht gerecht, dass wir es bei der Logik (u.ä.) mit einem Bereich eigenen Rechts zu tun haben, der Wahrheiten bereit hält, die vorliegen, egal was einer oder viele glauben.
Zu einem Bereich "eigenen Rechts" ist aber doch "die Logik" erst dadurch geworden, dass ihre Regeln in einer metasprachlichen, systematischen Reflexion zusammengestellt wurden. Vor Aristoteles gab es "Logik" schlechterdings nur als soziale Praxis des Begriffsgebrauchs. (So wie es ja auch "die Sprache" nur als soziale Praxis gab, bevor sich Gelehrte daran gemacht haben, ihre Bestandteile und Regeln zusammenzustellen und zu systematisieren.) Nur wenn man diese Genese der "Logik" nicht bedenkt, kann es so scheinen, als sei sie ein freischwebendes Ganzes von ewigen Gesetzen mit ewigen Wahrheiten.
Auf die Genese und Entwicklung der Logik wollte ich auch gerade hinweisen.
Aber die Tatsache, dass sich Logik und Sprache (die ja auch Regeln unterliegt) überhaupt entwickelt können, ist doch merkwürdig.
Warum liegt "die Logik", ist der Kontakt zu einer eigenen, anderen Welt erst einmal hergestellt, dann nicht bereits fix und fertig in schönster Blüte vor, sondern warum gibt es viele Formen der Logik und wie kann es überhaupt eine Entwicklung der Logik geben, die es gab, Frege markiert ja selbst eine entscheidenden Wendepunnkt. Das wollte ich Jörn fragen.

Du Hermeneuticus betonst hier gerade den Gedanken der Bergung von Sprache und Logik aus der Alltagspraxis. Ich finde das völlig nachvollziehbar, allerdings ist es in bildschöner Weise genau die Position des Empirismus, die Du ablehnst. Kannst Du mir erklären, warum ich das nicht als Empirismus ansehen sollte?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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So 3. Dez 2017, 11:29

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 11:15
Nun besagt aber das Regelregress-Argument, dass explizite, allgemeine Regeln nicht selbständig existieren können, dass die primäre und grundlegende Form von Regeln in ihrer praktischen Anwendung liegen muss.
Fast. Brandom bezieht sich auf Sellars, wenn er sagt „dass ein wohlbekannter Regress entsteht, wenn man „richtig“ als „richtig gemäß einer Regel“ versteht“ und zitiert aus Sellars‘ „Some Reflections on Language Games“:
„Die Widerlegung verläuft folgendermaßen: These. Das Erlernen einer Sprache (S) ist das Erlernen der Befolgung der Regeln von S. Doch eine Regel, die die Ausführung einer Handlung (H) vorschreibt, ist ein Satz in einer Sprache, die einen Ausdruck für H enthält. Demnach ist eine Regel, die den Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks (A) vorschreibt, ein Satz in einer Sprache, die einen Ausdruck für A enthält – also ein Satz in einer Metasprache. Also setzt das Erlernen der Regeln für S die Fähigkeit zum Gebrauch der Metasprache (MS) voraus, in der die Regeln für S formuliert sind. Das Erlernen einer Sprache (S) setzt also voraus, dass man eine Metasprache (MS) gelernt hat. Und dies setzt aus dem gleichen Grund voraus, dass man eine Metametasprache (MMS) gelernt hat, und so weiter. Das ist aber unmöglich (ein Teufelsregress). Somit ist die These absurd und muss abgelehnt werden.“
(aus: Robert Brandom, Expressive Vernunft, 1994, dt. 2000, Suhrkamp, S.64f)



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Hermeneuticus
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So 3. Dez 2017, 11:41

Tosa Inu hat geschrieben :
So 3. Dez 2017, 11:18
Du Hermeneuticus betonst hier gerade den Gedanken der Bergung von Sprache und Logik aus der Alltagspraxis. Ich finde das völlig nachvollziehbar, allerdings ist es in bildschöner Weise genau die Position des Empirismus, die Du ablehnst. Kannst Du mir erklären, warum ich das nicht als Empirismus ansehen sollte?
Ja. :) Denn es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen der Generalisierung einzelner Beobachtungen zu empirischen Regelmäßigkeiten und der Rekonstruktion/Explizit-Machung von impliziten Normen.

Als Aristoteles sich daran machte, die Grundform der Aussage zu untersuchen und die Regeln auszubuchstabieren, die bei der Verknüpfung von Aussagen zu beachten sind, hat er nicht einfach empirische Häufungen von Fällen gesammelt und verallgemeinert - so wie das z.B. ein Ethologe tut, wenn er die Regelmäßigkeiten im Verhalten einer Tierpopulation beobachtet. Er hat keine Statistiken von Fällen aufgestellt, die als solche noch normativ neutral gewesen wären, und dann erst in einem zweiten Schritt gesagt: "Da die Menschen in 78% aller Fälle wie xy reden, erkläre ich jetzt diese bloß quantitative Mehrheit zur Norm. Ich, Aristoteles aus Stageira, erlasse hiermit die für alle Menschen verbindliche Regel, dass xy fortan richtig ist und alles andere falsch."

Und es ist auch leicht zu sehen, warum er so nicht vorgegangen sein konnte. Denn er selbst bediente sich ja derselben Sprache, die er als Gegenstand untersuchte. D.h .seine "Beschreibung" der sprachlichen und logischen Regeln war primär eine praktische Anwendung eben dieser Regeln. Darum hat er diese Regeln nicht so beschrieben, wie Ethologen oder Astronomen Regelmäßigkeiten im Verhalten von Tieren oder Himmelskörpern beschreiben. Er hat sie vielmehr nur explizit gemacht, d.h. er hat eine für ihn wie für die anderen Sprecher bereits verbindlich geltende Norm nur in die sprachliche Form einer allgemeinen Vorschrift überführt.

(Der erkenntnistheoretische Empirismus ist für diesen Unterschied zwischen Generalisierung und Rekonstruktion blind. Er geht aus von vor-logischen, nicht-normativen Gegebenheiten, die gewissermaßen als neutrale Faktenbasis fungieren sollen, und meint, dass erst in einem zweiten und dritten Schritt eine Verallgemeinerung bzw. eine Erhebung zur Norm vorgenommen werde.)




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