subjektiv, objektiv

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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NaWennDuMeinst
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Mo 10. Aug 2020, 08:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Aug 2020, 06:10
Was z.b. Welsch zeigen wollte ist, dass es einige Dinge gibt, die über alle Zeiten und Kulturen hinweg als schön empfunden werden.
Und wie will er das deiner Meinung nach gezeigt haben?
Durch empirische Umfragen an einer Handvolll Menschen?
Ich kann mir kaum vorstellen, dass es möglich ist alle Menschen über alle Zeiten hinweg und vor allem in allen Kulturen zu befragen was sie schön finden.

Der Witz ist ja, dass Welsch hier meint etwas gezeigt zu haben, was man gar nicht zeigen kann: Nämlich dass alle Schwäne weiß sind.
Man kann das erstens nicht, weil man nicht alle Schwäne kennt und man kann es deshalb nicht, weil es auch schwarze Schwäne gibt.
Wenn Du verstehst was ich meine.
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Mo 10. Aug 2020, 08:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Aug 2020, 07:36
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 23:27
Du musst halt als Künstler einfach den Geschmack Deines Publikums treffen
Ich hatte ja bereits zuvor angedeutet, dass ich die Kriterien des schlechten womöglich leichter bestimmen lassen, als die Kriterien des ästhetisch wertvollen. Die Arbeit eines Künstlers, der sich an den Geschmack des Publikums anbiedert, würde man vermutlich als geschmäcklerisch und damit ästhetisch minderwertig einstufen.
Ich habe nicht gesagt, dass der Künstler sich nach dem Publikum ausrichten soll, sondern dass er den Geschmack des Publikums treffen muss. Das ist nicht das Selbe.
Was ich hingegen gesagt habe ist, dass es kein Zufall ist wenn Künstler den Geschmack des Publikums treffen, weil sie und ihr Publikum beides Menschen sind.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Mo 10. Aug 2020, 08:27, insgesamt 1-mal geändert.



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Mo 10. Aug 2020, 08:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Aug 2020, 06:54
Schönheit hat seinen "Ursprung" im Bereich der "Blicke" (Wahrnehmungen). Das heißt im qualitativen Bereich der belebten Natur. Schönheit und Leben hängen eng zusammen. Schönheit gab es aber bevor es uns gab. Der Mensch ist jedoch vermutlich das einzige Tier, das diesen Bereich so exzessiv erforscht hat.
Ob andere Lebewesen ein Schönheitsempfinden haben wissen wir nicht. Aber selbst wenn: Das wäre kein Beweis, dass Schönheit als eigene Entität vorkommt, dass sie unabhängig vorkommt. Sie könnte auch dann einfach ein Empfinden sein, das bestimmten Lebewesen zu eigen ist.



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Mo 10. Aug 2020, 09:12

Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 22:45
Aber auch da, da finden wir keine Garantie dafür, dass es für schön befunden wird, weil es schlicht sein kann, dass Menschen dieses Bild gerade wegen der Symmetrie oder der Asymmetrie nicht mögen, wo es andere deshalb schätzen.
Nochmal die Formulierung von McDowell: "John McDowell schlägt vor, Farben und Schönheit als Teil der objektiv erkennbaren Wirklichkeit zu betrachten. Ein Gegenstand der Erfahrung ist nach seinem Vorschlag dann “objektiv” wenn er dieser Erfahrung offensteht, ..." (Lauer)

Der Begriff des "Offenen" passt für die Kunst besonders gut. Der Raum ist offen. Man ist eingeladen, einzutreten. Man kann hier Erfahrungen machen. Wenn jemand das Angebot nicht annimmt, heißt das nicht, dass die Möglichkeit nicht bestand. Offen heißt auch, dass die Kunst ein Raum der Freiheit ist. Dass die Betrachter eine Arbeit ganz unterschiedlich sehen, ist ein Teil des Spiels und zugleich ein Teil dessen, was das Spiel der Kräfte und Widerstände wertvoll machen kann. Wenn jemand über den eigenen Geschmack nicht hinaus kann, dann ist das halt so, aber das sagt nicht, dass die Tür für die andere Erfahrung nicht offen war und die Erfahrung nicht hätte gemacht werden können. Möglichkeiten bestehen auch dann, wenn sie nicht ergriffen werden.




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Mo 10. Aug 2020, 09:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Aug 2020, 09:12
Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 22:45
Aber auch da, da finden wir keine Garantie dafür, dass es für schön befunden wird, weil es schlicht sein kann, dass Menschen dieses Bild gerade wegen der Symmetrie oder der Asymmetrie nicht mögen, wo es andere deshalb schätzen.
Nochmal die Formulierung von McDowell: "John McDowell schlägt vor, Farben und Schönheit als Teil der objektiv erkennbaren Wirklichkeit zu betrachten. Ein Gegenstand der Erfahrung ist nach seinem Vorschlag dann “objektiv” wenn er dieser Erfahrung offensteht, ..." (Lauer)
Was genau soll das bedeuten? Etwa so: Wenn man mit einem Gegenstand irgendeine Erfahrung macht, dann ist diese Erfahrung objektives Merkmal des Gegenstands?
Oder gilt das nur für bestimmte Erfahrungen (nicht alle), also zum Beispiel Farben und Schönheit? Wenn ja, wieso diese?

Und wenn das für alle Erfahrungen gelten soll, ist dann Missbrauch ein objektives Merkmal eines Menschen, weil man mit ihm die Erfahrung machen kann, dass man ihn missbrauchen kann?

Diese Definition von "objektiv" erscheint mir in vielerlei Hinsicht merkwürdig.



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Mo 10. Aug 2020, 14:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Aug 2020, 06:54
Sie haben demnach den Begriff des Schönen am Schönen gebildet.
Das ist ja eine ganz verständliche Ansicht mit dem einzigen Makel, dass sie zirkulär ist. Um sagen zu können, dass der Begriff des Schönen am Schönen gebildet worden ist, müsste man zeigen können, dass man das Schöne überhaupt erfassen konnte als Schönes. Das Schöne zu erkennen setzt einen Begriff des Schönen voraus.



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Mo 10. Aug 2020, 14:38

Das heißt, der Begriff des Gelben ist ebenso zirkulär? (der Begriff des Baumes, des Hundes, des Balls, ....) Der gesamte Externalismus wäre dann zirkulär?




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Mo 10. Aug 2020, 17:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Aug 2020, 09:12
Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 22:45
Aber auch da, da finden wir keine Garantie dafür, dass es für schön befunden wird, weil es schlicht sein kann, dass Menschen dieses Bild gerade wegen der Symmetrie oder der Asymmetrie nicht mögen, wo es andere deshalb schätzen.
Nochmal die Formulierung von McDowell: "John McDowell schlägt vor, Farben und Schönheit als Teil der objektiv erkennbaren Wirklichkeit zu betrachten. Ein Gegenstand der Erfahrung ist nach seinem Vorschlag dann “objektiv” wenn er dieser Erfahrung offensteht, ..." (Lauer)

Der Begriff des "Offenen" passt für die Kunst besonders gut. Der Raum ist offen. Man ist eingeladen, einzutreten. Man kann hier Erfahrungen machen. Wenn jemand das Angebot nicht annimmt, heißt das nicht, dass die Möglichkeit nicht bestand... Möglichkeiten bestehen auch dann, wenn sie nicht ergriffen werden.
Mit dieser Idee der Offenheit operiert auch mein relationales "Konzept", wonach es dem Subjekt offen steht, die Schönheit eines Gegenstandes zu erkennen, wo sie denn an ihm vorkommt. Die Möglichkeit der Schönheitserfahrung am Objekt steht offen. Wer sie ergreifen kann, der macht eine Schönheitserfahrung, wer sie nicht ergreift, mach diese Erfahrung nicht.

Aber wir ziehen beide andere Schlüsse aus diesem Befund:
Für dich gibt es da eine bereit liegende, für eine Erfahrung offen stehende Schönheit. Entweder sei es nun so, dass derjenige irrt, der sie sieht, obwohl sie nicht am Objekt vorkommt oder der irrt, der sie nicht sieht, obwohl sie am Objekt vorkommt. Auf keinen Fall können beide recht haben mit Bezug auf die Schönheit des Gegenstandes (dass sie vorkommt und nicht vorkommt).
Für mich gibt es da auch eine bereit liegende Schönheit, die entdeckt werden kann. Hingegen denke ich, dass niemand irrt, wenn er sie nicht entdeckt. Sie bleibt dem einen schlicht verborgen, wo sie dem anderen offenbar wird. Jemandes Urteil kann sich nur auf das beziehen, was dieser Jemand wahrnimmt und in dieser Wahrnehmung ist das Urteil "Das ist nicht schön" oder "Das ist schön" ja ein per se wahres Urteil über den Gegenstand der Wahrnehmung, die konstitutiv ist für das Phänomen der Schönheit. Denn zwei Dinge müssen erfüllt sein: Einerseits muss es da ein Objekt geben, das schön ist (es hat die und die Eigenschaften, die es zu einem schönen machen) und es muss eine Wahrnehmung geben dieses Gegenstands (ohne die die Schönheit gar nicht erstrahlen könnte). Nur in der Wahrnehmung ist die Schönheit des Objekts real, weil die Existenz der Schönheit an die Tatsache des Wahrgenommenseins gekoppelt ist (anders als die Existenz des blossen Gegenstands).



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Mo 10. Aug 2020, 19:22

Ich für meinen Teil finde es nicht schlimm, unsicher zu sein, irritiert zu sein, die Wahrheit (nicht) zu kennen, mich im Urteil enthalten zu müssen, weil ich keine Ahnung habe, vorsichtig zu urteilen mit dem Wissen, dass ich Irrtums anfällig bin, total begeistert zu sein, und ganz sicher im Urteil, um bei nächster Gelegenheit zu merken, dass die Dinge doch anders liegen... und so weiter und so fort. Irren ist menschlich, wie es so schön heißt.

Schrecklich fände ich es, wenn der Subjektivismus wahr wäre und alles was ich sage, wäre ohne Belang, weil es immer stimmt, nur weil ich es sage. Denn dann wäre sicher nichts, was ich sage, denke oder fühle irgendwie in Kontakt mit der Wirklichkeit. Es wäre in einer berühmten Formulierung von John McDowell ein berührungsloses Kreiseln in mir selbst. Dann könnte man nicht mal, fünf gerade sein lassen.

Erst wenn wir uns an der Realität reiben, ihren Widerstand spüren, daneben langen können, richtig zu fassen können, noch mal nachhaken müssen, immer noch nicht genau verstehen, beim nächsten Mal vielleicht besser dran kommen ... dann sind wir in Kontakt mit der Realität.




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Alethos
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Mo 10. Aug 2020, 21:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Aug 2020, 19:22
Schrecklich fände ich es, wenn der Subjektivismus wahr wäre und alles was ich sage, wäre ohne Belang, weil es immer stimmt, nur weil ich es sage. Denn dann wäre sicher nichts, was ich sage, denke oder fühle irgendwie in Kontakt mit der Wirklichkeit. Es wäre in einer berühmten Formulierung von John McDowell ein berührungsloses Kreiseln in mir selbst.
Man muss aber den Subjektivismus auch nicht in der Art eines George Berkeley und damit als subjektiven Idealismus deuten. Man kann das Subjektive auch in der Art eines Tomas Nagel auslegen und finden, dass das Subjekt über das Denken, über die Wahrnehmung, über vielfältigste Sinne mit
der Welt "in Kontakt steht". Die subjektiven Momente des In-der-Weltseins sind reale Bezüge des Selbst auf die Phänomene in der Welt und sind, wenigstens in gewissen Bereichen, prägend dafür, dass das in der Welt-Seiende so ist, wie es
ist. Ich nannte es Aspektierheit des Gegenstandes, man kann es auch anders zu erklären versuchen, aber wir können die subjektive Perspektive eines objektiven Selbst nicht einfach ausblenden.
Jedenfalls folgt aus einem
Ausgreifen des Subjekts in die Welt nicht automatisch ein "nur-in-mir-Kreisen" dieses Subjekts ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Das folgt nicht schlechthin aus der Subjektivität, dass nichts an sich wahr wäre über den Gegenstand, mit dem die Subjektivität in konstitutivem Verhältnis steht.
Das Blauempfinden ist mein Blauempfinden und erlangt Existenz als Blaumenpfinden durch mich. An ihm ist nichts weniger objektiv als an der Tatsache des Materieseins der raumzeitlichen Körper.
Und auch Schönheit kann nicht verzichten auf eine Subjektivität, damit sie überhaupt "wirken" kann, damit sie Wirkung entfalten kann und sie Wirklichkeit erlangen kann.

Auch ich finde die Vorstellung, dass es da keine Wahrheit gibt und alles irgendwo beliebig zu sein scheint, beängstigend. Aber wir dürfen doch auch nicht ein metaphysisches Wahrheitskonzept verfolgen, wenn wir gleichzeitig die Wirklichkeit als ontologisch plurale Struktur denken. Nicht automatisch ist nichts wahr über den Gegenstand, wenn er der subjektiv bewertete Gegenstand ist.
Wenn gilt, dass Existenz auf jeweilige Bereiche (Sinnfelder) beschränkte Erscheinung ist, dann ist auch denkbar, dass Wahrheit über gewisse Phänomene auch nur beschränkt auf den Bereich, in welchem
diese Phänomene vorkommen, restringiert ist. Ich meine, dass die Wahrheit über gewisse Aspekte des Phänomens der Schönheit auf gewisse Bereiche beschränkt ist. Wahrheit gibt es doch auch nicht in einem einzigen Sinn der Wörter "das" und "so und so".



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Nauplios
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Di 11. Aug 2020, 03:00

Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 18:24

Wir haben es also unter dem Aspekt des Wandels und wegen der Tatsache des geschichtlichen Hintergrunds unseres Verstehens bei Begriffen nicht mit "absolut feststehenden" Grössen zu tun, sondern mit den historischen Gezeiten mitlaufenden, den Zirkularitäten eines geschichtlichen Gangs mitschwingenden Potenzialen zu tun. Dieses ist kein geschichtlicher Gang des steten Vorwärts als vielmehr ein in- und auseinander Hervorgehen von Verstehen durch historiokinetische Kräfte.
Donnerlittchen! - "historische Gezeiten" ... "mitschwingende Potenziale" ... "ein in- und auseinander Hervorgehen von Verstehen" ... "historiokinetische Kräfte" ... Zwar hat sich die M.M. Warburg Bank kürzlich aus der Schweiz weitgehend zurückgezogen (das Privatkundengeschäft hat die St. Galler Kontonalbank übernommen), doch die "Wanderwege der Kultur", von denen Aby Warburg, Sohn des damaligen Bankchefs Moritz M. Warburg, spricht, haben den Kunsthistoriker nicht nur zu den Pueblo-Indianern geführt, sondern - krankheitsbedingt - auch in die Schweiz, nach Kreuzlingen, in Ludwig Binswangers Sanatorium Bellevue. Nun ist die Schweiz nur in der Höhe riesengroß; von Gunten nach Kreuzlingen sind´s gut zweihundert Kilometer. Könnte es sein, daß die Familiengenealogie ALETHOS Vorfahren in Kreuzlingen ausweist, die dort Kontakt zur Denkwelt Aby Warburgs hatten? ;) Ernst Cassirer und Fritz Saxl haben ihn dort besucht; es könnte also eine Art Schweizer Zelle in der Nähe des Bodensees gegeben haben. DENN: Die "historischen Gezeiten", von denen Du sprichst, Alethos, finden sich als "Gegenzeiten" bei Warburg wieder, die "mitschwingenden Potenziale" als "Pathosformeln", das "In- und auseinander Hervorgehen" als "Ein- und Ausströmen" und die "historiokinetischen Kräfte" gehen als "Ästhetik der Kräfte" ein ins Warburg´sche "Dynamogramm". - So werden wir mit dem oben zitierten Absatz Zeugen eines kunsttheoretischen Nachlebens, dessen "Wanderwege" vom Bodensee nach Gunten geführt haben. :)

Bleibt noch nachzutragen, daß Ludwig Binswangers Sanatorium Bellevue eine "Privatanstalt für heilfähige Kranke und Pfleglinge aus den besseren Ständen der Schweiz und des Auslandes", so die offizielle Bezeichnung, war. Die "besseren Stände" hatte auch das Bankhaus M.M. Warburg bei seinem Rückzug aus dem Schweizer Privatkundengeschäft im Blick, denn dieser sollte Anlaß sein, sich künftig besser "auf Leistungen für größere Familienvermögen" (Handelsblatt) konzentrieren zu können. - So verbanden die Häuser Binswanger und Warburg vergleichbare Interessen, die weder für ein Hamburger Bankhaus noch für eine Schweizerische Nervenheilanstalt als unschicklich gelten mögen. -

Was das alles mit Philosophie zu tun hat? - Binswanger war von Haus aus Psychiater und Psychoanalytiker, dessen Interessen jedoch über die Grenzen seines Fachs hinausgingen. In einer ersten Phase stand er dem Neukantianismus nahe, was sich mit Erscheinen von Sein und Zeit 1927 änderte, das ihn ins Lager Heideggers wechseln ließ. Zur Phänomenologie war er vorab bereits durch jenen Wilhelm Szilasi ("Es gibt kein Ding an sich, sondern nur Dinge-an-siche") gekommen, der eine zeitlang Poetik und Hermeneutik unsicher machte und in Freiburg die Husserl-Nachfolge angetreten hatte. Warburg wiederum hatte in Ernst Cassirer seinen Mentor gefunden und man ahnt schon, worauf es jetzt hinausläuft. Schauplatz ist wieder die Schweiz: Davos, da-wo´s nur noch "bessere Stände" mit "größeren Familienvermögen" gibt. März 1929. Gipfeltreffen in Davos: Heidegger gegen Cassirer. Warburg ist da schon wieder in Hamburg. Im Oktober 1929 stirbt er.

Binswanger hat eine auf Heideggers Sein und Zeit aufbauende "Daseinsanalyse" als wissenschaftliche Fundierung der Psychiatrie konzipiert, die wiederum von Medard Boss, ebenfalls ein Psychiater, weiterentwickelt wurde. Dieser Medard Boss hatte es nach dem Krieg verstanden, den Kontakt zu Martin Heidegger zu finden und war später mit ihm eng befreundet. Er konnte Heidegger für seine spezifisch tiefenpsychologische "Daseinsanalyse" gewinnen und lud ihn mehrfach zu Privatseminaren ein. Natürlich in die Schweiz - wo sonst - nach Zollikon am Zürichsee. So entstanden die Zollikoner Seminare (Gesamtausgabe, Bd. 89) .

So hängt am Ende doch alles mit allem zusammen. Und alle "Wanderwege der Kultur" führen immer - in die Schweiz.




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Jörn Budesheim
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Es ist kein metaphysisches Wahrheit als Konzept, wenn man den Satz vom Widerspruch akzeptiert. Was mich aber eigentlich interessiert ist die Frage, warum so viele Menschen ihre Gefühle so gering schätzen, dass sie nicht glauben können, dass man sich darin irren kann.




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Was ich auch nicht verstehe ist, dass man sich über so viele Seiten über Unbegrifflichkeit auslässt, aber wenn es drauf angeht kommt, dann verlangt man, dass das Andere und das Neue nach den Regeln des Gleichen und des Alten entsteht. Ja, das mechanische Denken wird sogar als zwingend und alternativlos dargestellt und eingefordert! Einem reinen Mechanismus könnte man jedoch auch nicht mit Aphorismen und Bildern Leben einhauchen.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 06:24
Es ist kein metaphysisches Wahrheit als Konzept, wenn man den Satz vom Widerspruch akzeptiert.
Wenn man aber meint, dass wahr etwas über etwas nur in einem einzigen Sinn dieses Etwas ist, dann behauptet man zugleich einen allumfassenden Bereich, in dem dieses etwas vorkommt. Wenn man sagt, dass etwas "schön überhaupt" ist, so sagt man über dieses Schönheit, dass sie in jedem Sinn des Gegenstands an ihm vorkommt.



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Alethos hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 07:10
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 06:24
Es ist kein metaphysisches Wahrheit als Konzept, wenn man den Satz vom Widerspruch akzeptiert.
Wenn man aber meint, dass wahr etwas über etwas nur in einem einzigen Sinn dieses Etwas ist, dann behauptet man zugleich einen allumfassenden Bereich, in dem dieses etwas vorkommt. Wenn man sagt, dass etwas "schön überhaupt" ist, so sagt man über dieses Schönheit, dass sie in jedem Sinn des Gegenstands an ihm vorkommt.
Aus dem was du sagst, folgt meines Erachtens, dass man über all unsere kanonischen Werke mit den selben Recht sagen könnte, dass sie Schund sind. Jemand behauptet, es sei Schund - und er hat Recht.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 07:39
Wenn man aber meint, dass wahr etwas über etwas nur in einem einzigen Sinn dieses Etwas ist, dann behauptet man zugleich einen allumfassenden Bereich, in dem dieses etwas vorkommt.
Wenn ich sage, dass es wahr ist, dass 5+7=12 ist, dann behaupte ich keinen allumfassenden Bereich. Stattdessen geht es um die jeweilige Ordnung des Bereiches, von dem die Rede ist. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Der Subjektivismus kommt in der Regel von der Vorstellung, es gäbe nur einen Bereich, nämlich den Naturgesetzlichen, in dem kein Platz für Werte ist, sodass es nur individuelle Wertschätzungen geben kann.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 09:10
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 07:39
Wenn man aber meint, dass wahr etwas über etwas nur in einem einzigen Sinn dieses Etwas ist, dann behauptet man zugleich einen allumfassenden Bereich, in dem dieses etwas vorkommt.
Wenn ich sage, dass es wahr ist, dass 5+7=12 ist, dann behaupte ich keinen allumfassenden Bereich. Stattdessen geht es um die jeweilige Ordnung des Bereiches, von dem die Rede ist.
Ich möchte nur nochmal betonen, dass wir den Subjektivismus nicht nur als ein "in sich selbst Kreisen" verstehen müssen, sondern uns Optionen offen stehen, das Subjekt als mit der Welt in Kontakt stehend zu betrachten. Auch unter subjektiven Prämissen kann vieles objektiv wahr über einen Gegenstand sein.

Und du sagst es richtig: In mathematischer Ordnung ist die Gleichung 5+7=12 wahr. Die Wahrheit gilt für diesen Bereich. Das mathematische Phänomen hat seine Wirklichkeit durch die Ordnung dieses mathematischen Bereichs. Aber das Schönheitsphänomen hat andere Ordnungen als nur die der Materie oder die der objektiven Formen, Farben und Anordnungen. Das ist meine Behauptung.



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Nein. Wenn wahr ist, was immer einer denkt oder fühlt, dann ist alles wahr und nichts. Jede Behauptung und jedes Gefühl sind dann vollkommen leer, weil es nichts gibt, was die Behauptung oder das Gefühl korrigieren kann.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 11. Aug 2020, 09:58
Nein. Wenn wahr ist, was immer einer denkt oder fühlt, dann ist alles wahr und nichts.
Es gilt eben nicht für jedes Phänomen, dass etwas nur wahr über ihn ist, weil es jemand denkt. Das folgt nicht aus dem von mir Gesagten, nur aus deiner radikalen Vorstellung von Subjektivismus.

Ich sagte explizit, dass es "verschiedenartige" Gegenstände gibt und ihre Wahrheit als diese Gegenstände verfügt nicht in jedem Fall das Denken oder das Empfinden oder das Meinen, in einigen aber schon. Und ich sagte auch, dass bei der Schönheit weder das Denken noch das Empfinden oder das Meinen eine Wahrheit setzt, sondern nur der Kontakt zum Objekt.
Vielleicht anerkennst du die Tatsache, dass ich das behaupte und nicht etwas anderes. :)



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Du behauptest an verschiedenen Stellen, dass zwei Betrachter über dasselbe (ein Kunstwerk) zu entgegengesetzten Überzeugungen kommen können und beide eine wahre Überzeugung haben. Ziehst du das ein?




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