subjektiv, objektiv

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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Jörn Budesheim
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So 9. Aug 2020, 18:17

Friederike hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 17:31
Aus Deinem Beitrag @Jörn habe ich das obige Zitat entnommen, weil
Besser hättest du vielleicht das meinen Text genommen, was direkt auf die Frage antwortet. So wie du es ausgewählt hast, ist es nämlich verfälschend.




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Alethos
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So 9. Aug 2020, 18:24

Mit meinem Like bekunde ich Zustimmung, Friederike.

Wer Nauplios' Strang (Eine kurze Geschichte der unreinen Zeit / viewtopic.php?f=10&t=920&p=39535#p39535) verfolgt, dem wird sehr schön und an vielfältigen Beispielen aufgezeigt, dass wir Geschichte als etwas Lebendiges begreifen sollten und nicht als Aufeinanderschichtung sedimentierten Wissens - als Antiquariat vergangenen Denkens. Geschichte ist nichts Museales, insbesondere Geistesgeschichte ist es nicht. Ihr ist viemehr eine Zirkularität eigen, die sich einerseits darin zeigt, dass das "Alte" immer wieder durchbricht, latent verfügbar bleibt, andererseits aber auch darin erkennbar wird, dass sie in unsere Leben in kreis- oder spiralförmigen Bewegungen hineinwirkt.

Wir haben es also unter dem Aspekt des Wandels und wegen der Tatsache des geschichtlichen Hintergrunds unseres Verstehens bei Begriffen nicht mit "absolut feststehenden" Grössen zu tun, sondern mit den historischen Gezeiten mitlaufenden, den Zirkularitäten eines geschichtlichen Gangs mitschwingenden Potenzialen zu tun. Dieses ist kein geschichtlicher Gang des steten Vorwärts als vielmehr ein in- und auseinander Hervorgehen von Verstehen durch historiokinetische Kräfte.

Wir sind, meine ich, gut beraten, wenn wir die Geschichte uns lehren lassen, dass wir Wahrheit nie finden werden in der Form eines unvergänglichen Monoliths mitten im Meer der Irrtümer, sondern dass es vielmehr so ist, dass ihre Wogen uns mitreissen, mal unter Wasser drücken, mal an Küsten spült, wo sie sich mit wechselnden Konturen und in vielen Schattierungen zeigt. Das bedeutet ja nicht Beliebigkeit, oder dass es da keine Wahrheit gebe, sondern nur, dass der Begriff der Wahrheit selbst nicht zu greifen ist für alle Zeit - da sie nur in allen Zeiten greifbar wird durch die geistesgeschichtlichen Möglichkeiten eben dieser Zeiten.

Und darum ist es schwer vorstellbar, dass wir über die Schönheit, das Gute oder welchen Gegenstand auch immer etwas sagen können, wenn wir nicht diese historische Dimension vor Augen haben und uns damit des Wandels bewusst sind, der überall wirkt.
Zuletzt geändert von Alethos am So 9. Aug 2020, 18:32, insgesamt 1-mal geändert.



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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 17:52
Meine Antwort darauf ist eben, dass der Begriff keine Voraussetzungen hat, unter denen er zustande gekommen ist, es sei denn, man fragt nach evolutionären Bedingungen. Ansonsten ist da, wo der Mensch ist, auch immer schon der Begriff der Schönheit.
Das halte ich durchaus für plausibel, Jörn. Aber der Mensch entwickelt sich auch weiter und mit ihm seine Begriffe. Was er unter "schön" versteht, was er meint, wenn er sagt, dass dieses da "schön" ist, das ändert sich doch mit, meinst du nicht?



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 18:31
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Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 18:39
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 17:52
Meine Antwort darauf ist eben, dass der Begriff keine Voraussetzungen hat, unter denen er zustande gekommen ist, es sei denn, man fragt nach evolutionären Bedingungen. Ansonsten ist da, wo der Mensch ist, auch immer schon der Begriff der Schönheit.
Das halte ich durchaus für plausibel, Jörn. Aber der Mensch entwickelt sich auch weiter und mit ihm seine Begriffe. Was er unter "schön" versteht, was er meint, wenn er sagt, dass dieses da "schön" ist, das ändert sich doch mit, meinst du nicht?
Für mich ist die Kunstgeschichte nicht irgendein Gegenstand gelehrter Betrachtung, den man irgendwie auf Distanz halten muss. Vieles davon ist zeitlos schön und von ästhetischer Bedeutung, das ändert sich nicht einfach - das sind nämlich ebensosehr Zeugnisse des Menschseins.

Ich nehme mal einen Ausschnitt aus einem Interview das letzten Kunstforums mit einer sehr bekannten zeitgenössischen Künstlerin:

Katharina Grosse: Wenn ich ein Gemälde von Tizian sehe und eine Arbeit von Nam June Paik daneben, dann denke ich nie: Das eine ist alt und das andere zeitgenössisch. Tizian fand in seinem Spätwerk das auseinandergerissene Bild, in dem die Formen aus dem Bildgrund auftauchen, und Paik zersetzt die Bilder durch weißes Rauschen. Da entsteht für mich eine Resonanz, aus der heraus es funkt, und genau das ist für mich die Frage: Welche Werke funken sich zu? Wie funktioniert das Erzählen oder das Zeigen? Wir fügen dem Gesamtverständnis von Malerei seit tausenden von Jahren etwas Neues hinzu und verdichten es zu einem Zeitcluster. Dabei ist die kleinste Zelle das einzelne gemalte Bild, das in der Zeitstruktur weder sequenziell, noch chronologisch geschweige denn kausal ist. Und das Bild ist immer ein Cluster, Gleichzeitigkeit.

Es kann aber auch nicht darum gehen, sich unter dem Vorwand einer historischen Betrachtung die Zumutungen der Gegenwart vom Leib zu halten.




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So 9. Aug 2020, 21:25

Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 18:39
Alles gut!
Nein, finde ich nicht. Um deine Theorie zu stützen, hast du von einer "intimen Erfahrung" mit dem Kunstwerk gesprochen. Als ich nach van Gogh gefragt habe und den historischen Lernprozessen, wolltest du darüber nicht reden. Jetzt plötzlich soll ich nur noch die Geschichte sein? Aber natürlich eine die weit weg ist... denn in der "unreinen Zeit" kommen die Gegenwart und wir selbst natürlich nicht vor.




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So 9. Aug 2020, 21:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 15:49
Schönheit liegt entgegen der allgemeinen Annahme nicht im Auge des Betrachters. Vielmehr sind die Kriterien für Schönheit [...] kulturunabhängig. Der wichtigste Bewertungsfaktor ist dabei die Symmetrie. (Ilka Lehnen-Beyel, Bild der Wissenschaft)
Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen, auch wenn so etwas natürlich nie unumstritten ist.
Natürlich ist das nicht unumstritten. Es ist sogar hochgradig umstritten, weil andere Untersuchungen zu anderen Ergebnissen kommen.
Das geht schon damit los, dass man die angewandte empirische Methode kritisieren muss, wenn behauptet wird bestimmte Merkmale würden kulturunabhängig als schön empfunden.
Wie ist das "empirisch" ermittelt worden? Wer hat die alten Syrer befragt was sie schön fanden?
Und wie kommt jemand darauf sich anzumaßen zu wissen was alle Menschen schön finden? Lässt sich das ermitteln durch einen "goldenen Umfrageschnitt"?
Aber auch die Ergebnisse selbst sind hochzweifelhaft. Nehmen wir das Körperverhältnis von Frauen (hier ist die Rede von einem 7:10 Taille-Hüfte-Verhältnis, das angeblich als "universell" schön empfunden wird.).
Es gibt ja genug Studien die zeigen dass das einfach falsch ist. In anderen Kulturen, z.B. in Afrika werden im wahrsten Sinne des Wortes fette Frauen als schön empfunden.
Das ist so, weil Schönheit auch einen sozialen Aspekt hat: Fette Frauen gelten dort als "gesünder" und wohlhabender als solche die dem "Skinny"-Ideal unserer Kultur entsprechen.
Kate Moss will in Afrika niemand haben. Und auch bei uns haben wohl sehr viele Frauen nicht das "geforderte" Hüfte-Taille-Verhältnis. Und werden trotzdem als schön empfunden. Ganz zu schweigen davon, dass dieses Schönheitsideal noch relativ jung ist. Auch in unserem Kulturkreis sah das früher ganz anders aus.

Was ich als Gemeinsamkeit in den unterschiedlichen Studien habe feststellen können ist, dass wir Menschen eine Präferenz für Symmetrie haben. Allerdings eben auch nicht nach dem Motto: Je mehr Symmetrie, desto schöner, sondern es stellt sich heraus, dass je mehr Menschen man befragt, desto mehr weicht das Ideal einem Durchschnitt. Perfekt symmetrische Gesichter werden meistens sogar als weniger schön (weil künstlich) empfunden als durchschnittliche Gesichter.

Aber das wohl wichtigste Gegenargument gegen solche (wie ich finde lächerlichen Versuche) ist für mich, dass die Festlegung auf das was schön ist für die meisten Menschen bedeuten würde, dass sie nicht schön sind.
Will Jemand ernsthaft behaupten, dass alle Menschen, die diesen " empirisch ermittelten Idealen" nicht entsprechen von ihren Partnern und Partnerinnen nicht als schön empfunden werden? Ich denke das lässt sich wiederum ganz leicht empirisch widerlegen. Dazu muss man auch nicht alle Menschen befragen. Einer, der das anders sieht, reicht schon.

Die Frage ist ja auch, wo sollte so ein universelles Schönheitsempfinden herkommen?
Aus den Genen?
Dazu eine Zusammenfassung zu der Frage:

Veranlagung oder Prägung?
Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben bei erstaunlich vielen menschlichen Eigenschaften genetische Grundlagen aufgedeckt – von Begabungen über Vorlieben bis hin zu Interessen. Studien an eineiigen Zwillingen können entsprechende Hinweise liefern, denn sie besitzen gleiches Erbgut. Wenn es Unterschiede gibt, müssen sie demnach durch Erfahrungen oder Lebensumstände geprägt sein. Vor diesem Hintergrund führten Germine und ihre Kollegen ihre Tests gezielt mit Zwillingen durch: Sie präsentierten 200 Testgesichter einer Gruppe von 547 Paaren eineiiger Zwillinge und zur Kontrolle 214 Paaren von gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwillingen – also genetisch unterschiedlichen Menschen, die aber ein ähnliches Lebensumfeld besitzen.

Die Vergabe der Schönheitspunkte belegte: Der Geschmack bezüglich Gesichtern ist offenbar nicht genetisch geprägt – eineiige Zwillinge sind sich ebenso uneinig über die Schönheit wie zweieiige. Die Forscher schließen aus diesem Ergebnis, dass offenbar sehr individuelle Erfahrungen den bevorzugten Typ prägen oder Abneigungen hervorrufen. Das kann möglicherweise das Gesicht des ersten Partners sein, das Antlitz eines geliebten Filmschauspielers oder aber das ungeliebte Gesicht der hübschen, aber bösen Nachbarin.


Prägung hat aber nun überhaupt nichts mit "kulturunabhängig" oder "unabhängig von individuellen Erfahrungen und Neigungen" zu tun. Nicht im Geringsten.
Diese Befunde passen nicht gut zu Subjektivismus und Relativismus
Ich denke diese "Befunde" sollte man nicht allzu ernst nehmen.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am So 9. Aug 2020, 21:56, insgesamt 2-mal geändert.



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So 9. Aug 2020, 21:54

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 21:25
In anderen Kulturen, z.B. in Afrika werden im wahrsten Sinne des Wortes fette Frauen als schön empfunden.
Es geht aber nicht um dick oder dünn, sondern um das Verhältnis und das lässt sich mit vielen verschiedenen Gewichten realisieren.




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So 9. Aug 2020, 21:57

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 21:54
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 21:25
In anderen Kulturen, z.B. in Afrika werden im wahrsten Sinne des Wortes fette Frauen als schön empfunden.
Es geht aber nicht um dick oder dünn, sondern um das Verhältnis und das lässt sich mit vielen verschiedenen Gewichten realisieren.
Ja. Aber breit wie hoch ist nicht 7:10.
Du und deine Wissenschaftler können mir da erzählen was sie wollen. Ein Schnitt sagt auch nichts über eine universelle Schönheit aus. Es gibt sogar regelrechte Liebhaber von schwergewichtigen Frauen ohne das behauptete universelle 7:10 Verhältnis.
Die Empirie beweist keine "universelle Schönheit". Im Gegenteil: Sie widerlegt solche Annahmen noch eher.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am So 9. Aug 2020, 22:32, insgesamt 2-mal geändert.



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Stefanie
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So 9. Aug 2020, 21:58

Das Schönheitsempfindung alter Kulturen wie Syrer, Griechen, Römer, Maya, Atzteken, Ägypten, usw. findet man raus, in dem man ihren Nachlass untersucht. Davon gibt es genug. In diesem Nachlass findet man das, was in der jeweiligen Zeit "in" war.

...
Passend zur Diskussion war ich heute in einem Kunstmuseum. Die Gedanken dazu verkneife ich mir vorerst.



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So 9. Aug 2020, 22:08

Stefanie hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 21:58
Das Schönheitsempfindung alter Kulturen wie Syrer, Griechen, Römer, Maya, Atzteken, Ägypten, usw. findet man raus, in dem man ihren Nachlass untersucht.
Wie groß ist denn dieser Nachlass, dass er uns ein wirklich akkurates Bild liefern könnte? Wenn wir irgendwelche Tempelstatuen untersuchen sagt uns das überhaupt nichts über das Schonheitempfinden eines Steinmetzes oder Bauern aus. Deren Schönheitsempfinden kommt in dem Nachlass ja gar nicht vor, sondern das der Erbauer (zum Beispiel das der hohen, herrschenden Klasse).
Davon abgesehen ging es mir um einen methodischen Makel. Dass bestimmte Merkmale universell von allem Menschen als schön empfunden werden (und genau das wird ja behauptet) kann man nicht dadurch belegen, dass man eine begrenzte Anzahl Menschen weltweit zu ihren Vorstellungen befragt. Das ist einfach Quatsch.
Das was da bewiesen werden soll ist - aus praktischen Gründen - gar nicht beweisbar.



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Alethos
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So 9. Aug 2020, 22:21

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 21:25
Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 18:39
Alles gut!
Nein, finde ich nicht. Um deine Theorie zu stützen, hast du von einer "intimen Erfahrung" mit dem Kunstwerk gesprochen. Als ich nach van Gogh gefragt habe und den historischen Lernprozessen, wolltest du darüber nicht reden.
Zunächst einmal muss du festhalten, dass ich auf dein Beispiel mit van Gogh eingegangen bin, auch darauf, dass sich die Bedeutung von van Gogh im Laufe der Zeit verändert hat.
Den Schluss, dass es sich bei früheren Betrachtungen von van Gogh um einen Fehler / Irrtum gehandelt haben soll, wollte ich nicht mitmachen resp. ich wollte den Schluss nicht ziehen, dass Lernen heisst, Irrtümer zu beseitigen. Aus Irrtümer lernen wir, klar, aber nicht alles Lernen ist als Entwicklung des Wissens eine Auszeichnung des vormals Gewussten als falsch.

Der Vergleich ist aber aus einem anderen Grund "schief". Bei der hier erläuterten historischen Perspektive geht es gar nicht um die Gegenstände selbst, sondern um unsere Begriffe, mit denen wir sie heben. Was bedeuten Begriffe wie Schönheit, Wahrheit, das Gute etc. im Licht der Epochen, in denen sie verwendet werden? Welche Hintergrundannahmen scheinen bei den Begriffen durch und wie verändern sich Begriffe resp. verändert sich unsere Begriffsverwendung beim Übergang in eine neue Epoche? Das sind meta-ästhetische Fragen, bei denen das intime Verhältnis von Subjekt und Kunstgegenstand gar nicht in den Blick geraten kann. Das intime Verhältnis, von dem ich sprach, spielt sich auf einer individuell-phänomenologischen Ebene ab, weil sie den Einzelgegenstand und den mit ihm in Verbindung tretenden Betrachter betrifft.

Ich bin nach wie vor der Meinung (und das soll nicht als Einladung zu einem
Revival der Diskussion verstanden werden), dass die Schönheit objektiv vorkommt für den, der sie wahrnimmt und ganz objektiv nicht vorkommt für den, den sie nicht wahrnimmt. Sie ist ein Phänomen der Wahrnehmung schlechthin und kann nur dort Existenz erlangen, wo sie denn auch wahrgenommen wird. Wo sie aber wahrgenommen wird, da am Gegenstand aus objektiven, nicht subjektiven Gründen.



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So 9. Aug 2020, 22:24

https://www.pinterest.de/pin/694680311250883136/

Dieses Bild (Vorsicht, Nacktheit) habe ich nach 10 Sekunden Suche im Internet gefunden.
Das Model hat sicher kein Taille-Hüft-Verhältnis von 7:10. Und doch fand sie wohl Jemand schön genug sie zu fotografieren.
Es gibt für alles Liebhaber. Nahezu ALLES wird von irgendjemanden als schön empfunden.
Es ist sicher richtig, dass sich mehr Menschen finden lassen, die einem bestimmten vorherrschenden Schönheitsideal anhängen.
Aber diese Erkenntnis ist eine andere als die Behauptung einer "universellen Schönheit", also die Behauptung irgendwas würde von allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur usw als schön empfunden. Das ist in der Reichweite eine Aussage die sich mMn nicht halten und leicht widerlegen lässt.
Hinzu kommt, dass gar nicht erklärt werden kann, wo dieses "universelle Schönheitsempfinden" (wenn es sowas geben sollte) herkommen soll. Evolutionär entwickelt? Dann müsste es sich in den Genen nachweisen lassen, was daran scheitert, dass es da nicht nachweisbar ist (siehe Testreihen mit den Eineiigen Zwillingen).



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So 9. Aug 2020, 22:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 21:54
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 21:25
In anderen Kulturen, z.B. in Afrika werden im wahrsten Sinne des Wortes fette Frauen als schön empfunden.
Es geht aber nicht um dick oder dünn, sondern um das Verhältnis und das lässt sich mit vielen verschiedenen Gewichten realisieren.
Aber du selbst hast doch gesagt, dass auch andere Elemente eine Rolle spielen: das Undurchsichtige, das Gewagte, das Schockierende, das Erhabene - alles das kann als schön empfunden werden, ja sogar das Asymmetrische. Es gibt zig Beispiele von Bildern, die für schön befunden werden, weil sie gerade eine gewisse Konditionierung auf Symmetrien durchbrechen.
Aber auch da, da finden wir keine Garantie dafür, dass es für schön befunden wird, weil es schlicht sein kann, dass Menschen dieses Bild gerade wegen der Symmetrie oder der Asymmetrie nicht mögen, wo es andere deshalb schätzen.

Ich denke, das muss zur Konklusion führen, dass die Betrachtungen geprägt sind von den Befindlichkeiten des Betrachters. Wir können die indviduellen Geschichten, die Traumata, die unvergesslichen, die unbewussten, die nicht mehr bewussten etc. Erfahrungen, die jemand in die Betrachtung hineinnimmt, nicht abziehen vom Umstand des Betrachtetwerdens des Gegenstands. Das Subjekt steht ja nicht nackt da, leer, sondern es bringt sich ein in die Betrachtung und bewirkt dort, im Zusammenspiel mit dem Gegenstand, ein Erleben von Schönhheit. Aber sie muss natürlich auch die Schönheit des Bilds sein, weil sie ja unter massgeblicher Mitwirkung des Bilds überhaupt entsteht.
Ich meine, dass wir diese persönlichen Präferenzen und Einstellungen nicht einfach ignorieren dürfen.

Nichtsdestotrotz muss es so etwas geben
wie Schönheitsmerkmale, auch wenn sie uns verborgen bleiben, denn wäre ohne sie jedes Gelingen eines Kunstwerks purer Zufall. Und ich meine, dass es bei keiner Form der Kunst so ist, dass der Erfolg in der Form eines bewirkten Schönheitsempfindens nur zufällig ist.



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So 9. Aug 2020, 23:27

Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 22:45
Nichtsdestotrotz muss es so etwas geben
wie Schönheitsmerkmale, auch wenn sie uns verborgen bleiben, so doch wäre ohne sie jedes Gelingen eines Kunstwerks purer Zufall. Und ich meine, dass es bei keiner Form der Kunst so ist, dass der Erfolg in der Form eines bewirkten Schönheitsempfindens pur und nur zufällig
ist.
Daraus dass Schönheit subjektiv ist folgt nicht, dass das Gelingen eines Kunstwerkes "purer Zufall" ist.
Du musst halt als Künstler einfach den Geschmack Deines Publikums treffen. Es müssen nicht alle Menschen dein Werk schön finden. Das ist schlicht nicht nötig und kommt so glaube ich auch nicht vor. Also ich glaube zumindest nicht, dass es irgendein Kunstwerk auf der Welt gibt, dass alle Menschen gleichermaßen als schön empfinden.
Allerdings ist es schon so, dass Kunst kulturübergreifend Verbindungen herstellen kann. Sie hat da eine ganz erstaunliche Macht. Das wiederum finde ich schön. Dass Menschen, obwohl sie so unterschiedlich sind, ein und das selbe Kunstwerk gleichermaßen geniessen können.
Das kommt vor und ist toll. Daraus kann man aber mMn nicht ableiten, dass dem irgendein "universelles Schönheitsmerkmal" zugrunde liegt. Es liegt wohl einfach daran, dass wir Menschen, auch wenn wir unterschiedlich sind, in bestimmten Bereichen gleiche oder ähnliche Bedürfnisse und Empfindungen haben. Der Anblick eines traurigen Menschen rührt uns einfach, weil wohl nahezu alle Menschen wissen was es bedeutet und wie es sich anfühlt traurig zu sein. Es gibt da sicher eine ganze Reihe von Beispielen die wohl darauf zurückzuführen sind, dass wir Menschen neben aller Unterschiedlichkeit auch Gemeinsamkeiten haben.

Eine interessante Frage wäre doch, ob der allseits beliebte Ausserirdische einen van Gogh schön finden würde. Wenn er mit uns Menschen irgendwelche Eigenschaften teilt die dabei relevant sind... dann halte ich das für durchaus möglich.



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Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 22:45
Ich meine, dass wir diese persönlichen Präferenzen und Einstellungen nicht einfach ignorieren dürfen.
Jörn Budesheim hat geschrieben : Ich behaupte nichts, was so etwas wie "persönlichen Geschmack" infrage stellt. Jede:r hat seine individuellen Präferenzen, und daran rüttele ich nicht. Ob jemand Lisa schön findet oder Hans, damit hat das, was ich sage, gar nichts zu tun.

Mir geht es primär um ästhetische Werte. Und ich lehne die Ansicht ab, dass auch hier alles subjektiv ist. Ich vertrete aber nicht einfach die gegenteilige Ansicht, dass hier alles objektiv ist. Ich sage nur, es ist nicht alles subjektiv.
Jörn Budesheim hat geschrieben : Meine Position ist: Nicht alle wertenden ästhetischen Aussagen lassen sich in Aussagen über individuelle Präferenzen übersetzen. Das ist relativ "zahm". Damit ist zum Beispiel keineswegs gesagt, dass individuelle Präferenzen grundsätzlich ersatzlos gegen objektive Aussagen zu streichen sind.




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Wann ist die Theorie, dass alle Schwäne weiß sind, falsch?

(a) Wenn kein Schwan weiß ist?
(b) Wenn manche Schwäne nicht weiß sind, z.b. schwarz?

Wann ist diese Theorie falsch: Alle wertenden ästhetischen Aussagen lassen sich in Aussagen über individuelle Präferenzen übersetzen?

Hier verhält es sich genauso. Sie ist dann falsch, wenn sich manche wertende ästhetische Aussagen nicht in Aussagen über individuelle Präferenz übersetzen lassen. Der Subjektivismus ist also falsch, wenn nicht alles "subjektiv" ist und nicht erst dann, wenn gar nichts "subjektiv" ist. Was z.b. Welsch zeigen wollte ist, dass es einige Dinge gibt, die über alle Zeiten und Kulturen hinweg als schön empfunden werden.




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Alethos hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 22:21
Der Vergleich ist aber aus einem anderen Grund "schief". Bei der hier erläuterten historischen Perspektive geht es gar nicht um die Gegenstände selbst, sondern um unsere Begriffe, mit denen wir sie heben. Was bedeuten Begriffe wie Schönheit, Wahrheit, das Gute etc. im Licht der Epochen, in denen sie verwendet werden? Welche Hintergrundannahmen scheinen bei den Begriffen durch und wie verändern sich Begriffe resp. verändert sich unsere Begriffsverwendung beim Übergang in eine neue Epoche?
Das setzt jedoch ohne Begründung voraus, dass sich die Begriffe und nicht bloß ihre Deutungen (z.b. durch Philosophen) gewandelt haben. Außerdem sollte man den Dissens, der hier herrscht, nicht schon durch die Wahl der Methode zu entscheiden versuchen. Ich hatte einen Vortrag von dem Physiker David Deutsch gebracht, der dafür argumentiert hat, dass z.b. Blumen objektiv schön sind. Das Schöne gab es also nach dieser Theorie lange vor den Menschen. Und die Menschen haben nicht ihre Begriffe auf die Welt projiziert, sondern ihr "entnommen". Sie haben demnach den Begriff des Schönen am Schönen gebildet. Eine Betrachtungsmethode, die diese Möglichkeit, die schließlich im Raum steht, einfach von vornherein ausschließt, ist nicht angemessen.

Schönheit hat seinen "Ursprung" im Bereich der "Blicke" (Wahrnehmungen). Das heißt im qualitativen Bereich der belebten Natur. Schönheit und Leben hängen eng zusammen. Schönheit gab es aber bevor es uns gab. Der Mensch ist jedoch vermutlich das einzige Tier, das diesen Bereich so exzessiv erforscht hat. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die Kunst auch noch heute, wie es David Deutsch (nach meiner Erinnerung an den Vortrag) zu unterstellen scheint, auf die Erforschung des Schönen allein festgelegt ist.




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Jörn Budesheim
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 9. Aug 2020, 23:27
Du musst halt als Künstler einfach den Geschmack Deines Publikums treffen
Ich hatte ja bereits zuvor angedeutet, dass ich die Kriterien des schlechten womöglich leichter bestimmen lassen, als die Kriterien des ästhetisch wertvollen. Die Arbeit eines Künstlers, der sich an den Geschmack des Publikums anbiedert, würde man vermutlich als geschmäcklerisch und damit ästhetisch minderwertig einstufen.




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