subjektiv, objektiv

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
Snaut
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So 31. Mai 2020, 15:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 12:15
Wenn aber die Existenz des Gehirns infrage steht, dann muss in dieser Sichtweise auch der Schmerz infrage stehen.
Das neuronale Korrelat ist das, was sich im säkular-naturalistischen Weltbild gegenüber anderem am meisten an die Anforderungen an "Objektivität" annähert, wie an eine Asymptote.

Ausser Frage steht nur mein Schmerz, wenn es mir gerade weh tut. Wenn du existierst und so ähnlich bist wie ich, gilt das auch für dich und deinen Schmerz, wenn es dir gerade weh tut.




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Jörn Budesheim
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So 31. Mai 2020, 15:55

In deiner Rekonstruktion steht der Schmerz sehr wohl in Frage. Wenn das neuronale Korrelat in Frage steht, dann auch der Schmerz.




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Jörn Budesheim
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So 31. Mai 2020, 16:31

Donald Davidson hat geschrieben : "Ein Urteil ist objektiv, wenn es wahr oder falsch oder möglicherweise keins von beidem ist, der Wahrheitswert (wahr, falsch oder keins von beidem) aber feststeht. Der Wahrheitswert des Urteils ist unabhängig von der Person des Urteilenden sowie von der Gesellschaft oder Zeit, in der er lebt. Der Wahrheitswert eines Urteils hängt nur von zweierlei ab: den Tatsachen und dem Inhalt des Urteils [...]"




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Alethos
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So 31. Mai 2020, 16:57

Snaut hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 15:44
im säkular-naturalistischen Weltbild gegenüber anderem am meisten an die Anforderungen an "Objektivität" annähert
"Objektivität" ist ja ein alter, man möchte sagen, ein sehr alter Begriff. Es gab ihn schon, bevor Nervosität oder nervöse Korrelate überhaupt Thema waren.

Bezogen auf die Wirklichkeit wäre es falsch, meine ich, den Objektivitätsbegriff exklusiv naturalistisch zu verstehen. Es gibt z.B. eine Phänomenologie des Schmerzes, ein Empfinden des Empfindenden, das sich eben nicht allein durch Korrelate ergibt, sondern durch den Umstand, ein Jemand zu sein. Dass dieser Jemand auch ein biophysisches Wesen ist, sei konzediert, aber dass das Ichsein eine sehr vielschichtige Objektivität jenseits von Nerven und Hormonen hat, auch.

Was ich sagen will: Es darf nicht erstaunen, dass ein Objektivitätsbegriff in naturalistischer Lesart einer Objektivität in naturalistischer Lesart sehr nahe kommt. Dass sie es tut, begründet allein nicht die Objektivität des Objektivitätsbegriffs :)



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Snaut
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So 31. Mai 2020, 17:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 15:55
In deiner Rekonstruktion steht der Schmerz sehr wohl in Frage. Wenn das neuronale Korrelat in Frage steht, dann auch der Schmerz.
Der Schmerz von anderen und auch ein vergangener Schmerz, den ich aus der Erinnerung ins Bewusstsein bringen kann, stehen in Frage.
Wenn ich gerade keinen Schmerz empfinde, steht die Existenz von Schmerz in Frage.
Wenn ich gerade Schmerz empfinde, ist das so unmittelbar, dass ich es nicht in Frage stellen kann.




Snaut
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So 31. Mai 2020, 17:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 16:31
Donald Davidson hat geschrieben : "Ein Urteil ist objektiv, wenn es wahr oder falsch oder möglicherweise keins von beidem ist, der Wahrheitswert (wahr, falsch oder keins von beidem) aber feststeht. Der Wahrheitswert des Urteils ist unabhängig von der Person des Urteilenden sowie von der Gesellschaft oder Zeit, in der er lebt. Der Wahrheitswert eines Urteils hängt nur von zweierlei ab: den Tatsachen und dem Inhalt des Urteils [...]"
Ersetze "Tatsache" durch "Willen und Beschluss Gottes" und du bist von der orthodoxen Philosophie zur orthodoxen Theologie gewechselt ohne das Denkmuster zu verändern.




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Jörn Budesheim
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So 31. Mai 2020, 17:27

Kannst du das Argument erläutern?




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Jörn Budesheim
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So 31. Mai 2020, 17:29

Snaut hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 17:06
Wenn ich gerade Schmerz empfinde, ist das so unmittelbar, dass ich es nicht in Frage stellen kann.
Das ist zwar richtig, aber du tust es leider!

Wenn du sagst, dass der Schmerz mit dem Schmerzzentrum korreliert ist und die Existenz des Schmerzzentrum in Frage steht, dann steht der Schmerz in Frage.




Snaut
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So 31. Mai 2020, 19:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 17:29
Wenn du sagst, dass der Schmerz mit dem Schmerzzentrum korreliert ist und die Existenz des Schmerzzentrum in Frage steht, dann steht der Schmerz in Frage.
Ja, das stimmt für- und bezieht sich auf Schmerzen von anderen aus einer mittelbaren 3rd-Person-Perspektive.

Wenn ich selbst Schmerzen habe, habe ich sie in der unmittelbaren 1st-Person-Perspektive.
Ob meine Schmerzen etwas mit den Schmerzen von anderen gemeinsam hat, ob mein Nachbar, ein Huhn, eine Comicfigur usw. auf ähnliche Weise wie ich Schmerzen haben, ob ich überhaupt ein Gehirn mit Schmerzzentrum habe, bleibt fraglich.
Dass ich dann etwas empfinde, das ich "Schmerzen" nenne, ist für mich nicht fraglich.




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Jörn Budesheim
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So 31. Mai 2020, 19:30

Wenn der Schmerz, den du selbst spürst, für dich nicht fraglich ist, er aber auf etwas basiert, das in Frage steht, wie geht das zusammen?




Snaut
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So 31. Mai 2020, 20:14

Dass meine aktuelle Schmerzen für mich da sind, ist nicht fraglich.
Woher sie kommen, wie und wodurch sie entstehen, worauf sie basieren ist fraglich.

Ob Schmerzen ein Gehirn oder überhaupt einen Körper voraussetzen, ist fraglich.
Ob Schmerzen ohne Gehirn oder überhaupt einen Körper geschehen können, ist auch fraglich.

Ich brauche für mein Leben keine objektiven Gewissheiten und lasse das Fragliche offen.




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Stefanie
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So 31. Mai 2020, 20:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 09:52
Stefanie hat geschrieben :
Fr 29. Mai 2020, 21:49
... eine Missachtung des Subjekts.
Denken wir an dieser Stelle auch einmal an Schimmermatts Position! Er ist schließlich ganz dezidiert der Ansicht, dass er bis auf den Grund des Nichts schauen könnte, so dass er erkennt, dass es ihn selbst im Grunde gar nicht gibt.
Den Zusammenhang verstehe ich nicht.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Jörn Budesheim
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Snaut hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 17:06
Schmerz, den ich aus der Erinnerung ins Bewusstsein bringen kann, stehen in Frage
Ich schätze, das soll nicht nur für Schmerzen, sondern für Bewusstseinszustände im allgemeinen gelten. Wenn du einen Gedanken (oder auch einen Schmerzen) in der Zeit denkst/hast, dann kannst du in keinem Moment sicher sein, dass der fragliche mentale Zustand vorliegt, weil alles ja sofort in der Vergangenheit verschwindet, deine Gewissheit bezieht sich also genau genommen auf: nichts :)




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Jörn Budesheim
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Snaut hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 19:08
Ja, das stimmt für- und bezieht sich auf Schmerzen von anderen aus einer mittelbaren 3rd-Person-Perspektive.
Mit einer gewissen Übungen oder Abgebrühtheit kann man vielleicht die Schmerzen der anderen in der dritten Person Perspektive erfassen. Aber Schmerzen der anderen erfassen wir in der Perspektive der zweiten Person. Das ist also keineswegs der neutrale Blick von der Seite. Wie Mitleid neuronal realisiert ist, ist - soweit ich weiß - auch recht gut untersucht. Und das ist auch kein kontingentes Faktum, das mit dem Schmerz nichts zu tun. Denn wir sind wesentlich Tiere, die sich in Gesellschaften bewegen. Dass Schmerz regelmäßig auch eine expressive Seite hat, die öffentlich ist und damit den anderen zugänglich, muss zur Analyse des Begriffes einbezogen werden. Es dürfte sich dabei auch um einen erheblichen evolutionären Vorteil handeln.

Schmerz ist also keineswegs grundsätzlich ein privates "Vergnügen".

Eine Sichtweise auf den Menschen, die die Anderen in eine abgeschottete "Außenwelt" packt, kann so etwas natürlich nicht erfassen und ist daher abzulehnen.




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Di 14. Jul 2020, 01:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 31. Mai 2020, 16:31
Donald Davidson hat geschrieben : "Ein Urteil ist objektiv, wenn es wahr oder falsch oder möglicherweise keins von beidem ist, der Wahrheitswert (wahr, falsch oder keins von beidem) aber feststeht. Der Wahrheitswert des Urteils ist unabhängig von der Person des Urteilenden sowie von der Gesellschaft oder Zeit, in der er lebt. Der Wahrheitswert eines Urteils hängt nur von zweierlei ab: den Tatsachen und dem Inhalt des Urteils [...]"
Kannst Du mal ein Beispiel für solch ein objektives Urteil geben, also eines das "unabhängig von der Person des Urteilenden, sowie von der Gesellschaft oder Zeit, in der er lebt wahr oder falsch oder keines von beidem", ist?

(und bitte zu dem Urteil gleich erläutern, wie Du das festgestellt hast, dass das Urteil das Du als Beispiel angibst ein Beispiel in diesem Sinne ist)



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
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Jörn Budesheim
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Di 14. Jul 2020, 05:49

Es ist falsch, kleine Kinder zum Spaß zu quälen
die Musik von Johann Sebastian Bach hat einen höheren ästhetischen Wert als die musik von Dieter Bohlen
5 + 7 = 12
Vor mir steht ein Tablett




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Di 14. Jul 2020, 08:48

Ok. Danke. Und nun noch mal zum Vergleich ein Urteil, das nicht objektiv im Sinne Davidsons ist.



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Jörn Budesheim
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Di 14. Jul 2020, 09:16

Spaghetti mit Paprika sind für mich widerlich
Ich mag Kirkeby lieber als den frühen Picasso
Kapern schmecken mir
Ich rieche gerne Teer




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Di 14. Jul 2020, 23:28

Frage die mich umtreibt: Kann man objektive Urteile so umformulieren, dass aus ihnen nicht objektive Urteile werden und umgekehrt?

Also zum Beispiel:

von

"die Musik von Johann Sebastian Bach hat einen höheren ästhetischen Wert als die Musik von Dieter Bohlen"

nach

"Ich finde die Musik von Johann Sebastian Bach hat einen höheren ästhetischen Wert als die Musik von Dieter Bohlen"

Und wenn ja, hängt dann die Objektivität eines Urteils nur von seiner Formulierung ab?

Ich denke es ist falsch, kleine Kinder zum Spaß zu quälen
Ich halte 5 + 7 = 12 für korrekt.
Ich glaube vor mir steht ein Tablett

Sind das jetzt alles nicht objektive Urteile ohne festen Wahrheitswert?
Und wird aus dem nicht objektiven Urteil

"Spaghetti mit Paprika sind für mich widerlich"

ein objektives Urteil wenn das Urteil stattdessen lautet:

"Spaghetti mit Paprika sind widerlich" ?

Warum ich das frage: Was macht zwischen deinen Beispielen für objektive und nicht objektive Urteile den Unterschied? Die erste Person? Oder was?



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Jörn Budesheim
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Mi 15. Jul 2020, 06:04

Wow! Meinst du, es ist so eine Art Geschmackssache, dass man kleine Kinder nicht im Spaß quälen darf?




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