Teamwork / kollektive Intentionalität

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Philosophie der Zweig der analytischen Philosophie, deren Grundlagen u.a. auch die Philosophie des Geistes (mind) betreffen
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Friederike
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Fr 14. Jun 2019, 13:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 13. Jun 2019, 20:52
Selbst wenn sie bei der Beobachtung der Kinder mit so einem anspruchslosen Begriff der Absicht hantieren würden, würde es nichts ändern. Anlagen können sich entwickeln und vertiefen und komplexer werden, das ändert nichts daran, dass es Anlagen sind. Und wenn man die nicht rausrechnen kann, folgt daraus einfach, das Handlungen nicht komplett sozial vermittelt sein können. Und übrigens ist ein Intentionalitäts Begriff, der beinhaltet, dass man nicht nur eigene Absichten hat, sondern auch erkennt, das andere ebenso Absichten haben, schon recht komplex - das ist bereits Intentionalität zweiter Ordnung.
Ich verstehe den Streit nicht. "Handlung" ist ein normativer Begriff, den wir mit "Absicht" verbinden, er dient dazu "Personen" für ihr Tun und Lassen verantwortlich zu machen. Aus diesem Grunde handeln kleine Kinder nicht, auch wenn wir umgangssprachlich so reden. Und aus meiner Sicht ist dies auch der -einzige- Grund dafür, daß Handlung/Absicht nicht angeboren sein kann.

Vom Sachverhalt her glaube ich, daß man Handeln mit Absicht einerseits und Verhalten mit Ziel andererseits überhaupt nicht unterscheiden kann. Also in empirischer und praktischer Hinsicht, meine ich. Wenn Kinder eigene Absichten in Handlung umsetzen und Absichten anderer Menschen erkennen können, dann müßten wir nur andere Begriffe dafür nehmen.




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Jörn Budesheim
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Fr 14. Jun 2019, 16:25

Viele der anderen Tiere sind auch recht klug. Dennoch haben wir vieles hervorgebracht, was im Tierreich einzigartig ist. Wir können unglaubliche Maschinen bauen, die Welt der Mathematik erforschen, miteinander sprechen und vieles andere mehr. Nichts (oder fast nichts) davon hätten wir jedoch als einzelne schaffen können. Das sind alles - um es mit einem weiten Stichwort zu fassen - kollektive Leistungen, die wir über viele Generationen hinweg erarbeitet haben.

Wenn der wesentliche Clou dabei die soziale Vermittlung ist, warum können wir dann nicht einfach die anderen Tiere in unserem Kreis aufnehmen? Das was wir, so wie ihr es euch anscheinend vorstellt, mit unseren Kindern schaffen, müssten wir mit den anderen Tieren doch auch schaffen können?




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Jörn Budesheim
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Fr 14. Jun 2019, 17:38

Unser Denken unser Handeln und vieles andere sind an biologische Bedingungen gebunden. Ich hoffe, darauf können wir uns einigen. unser Denken und unser Handeln lässt sich oft auch überhaupt nur verständlich machen, wenn man diese biologischen Bedingungen in Anschlag bringt.

"Ich gehe jetzt in die Küche, um mir ein Brot zu machen." (eine Handlung mit einer teleologischen Struktur.)

Ich bin ein Lebewesen, ich muss essen, mein Zustand ist in gewisser Hinsicht prekär, ich kann jederzeit sterben. Dass ich mich um mich selbst und andere sorge, lässt sich ohne unsere biologische Basis auch gar nicht begreifen. (Achtung, hier steht nicht, dass diese Basis es allein erklärt!)

Das dürfte alles unstrittig sein.

Wir haben, wie Tomasello feststellt, ein biologisches Anpassungsvermögen für eine artspezifische Form sozialer Kognition. Wir bringen einiges biologisch mit, was andere Tiere biologisch nicht mitbringen, sonst ginge der Turbo gar nicht an. Unsere Fähigkeit andere als internationale Akteure zu verstehen, gehört zu unserer biologischen Ausstattung. Und diese biologische Ausstattung ist auf soziale Interaktion angewiesen ... sonst verdorren wir.




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Stefanie
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Fr 14. Jun 2019, 19:45

Friederike hat geschrieben :
Fr 14. Jun 2019, 13:26
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 13. Jun 2019, 20:52
Selbst wenn sie bei der Beobachtung der Kinder mit so einem anspruchslosen Begriff der Absicht hantieren würden, würde es nichts ändern. Anlagen können sich entwickeln und vertiefen und komplexer werden, das ändert nichts daran, dass es Anlagen sind. Und wenn man die nicht rausrechnen kann, folgt daraus einfach, das Handlungen nicht komplett sozial vermittelt sein können. Und übrigens ist ein Intentionalitäts Begriff, der beinhaltet, dass man nicht nur eigene Absichten hat, sondern auch erkennt, das andere ebenso Absichten haben, schon recht komplex - das ist bereits Intentionalität zweiter Ordnung.
Ich verstehe den Streit nicht. "Handlung" ist ein normativer Begriff, den wir mit "Absicht" verbinden, er dient dazu "Personen" für ihr Tun und Lassen verantwortlich zu machen. Aus diesem Grunde handeln kleine Kinder nicht, auch wenn wir umgangssprachlich so reden. Und aus meiner Sicht ist dies auch der -einzige- Grund dafür, daß Handlung/Absicht nicht angeboren sein kann.

Vom Sachverhalt her glaube ich, daß man Handeln mit Absicht einerseits und Verhalten mit Ziel andererseits überhaupt nicht unterscheiden kann. Also in empirischer und praktischer Hinsicht, meine ich. Wenn Kinder eigene Absichten in Handlung umsetzen und Absichten anderer Menschen erkennen können, dann müßten wir nur andere Begriffe dafür nehmen.
Das verstehe ich nicht.
Ein Beispiel: 4 jährige im Sandkasten. A hat eine blaue Schippe, B einen grünen Eimer, den A toll findet und ihn haben will. Nachdem B den Eimer nicht hergibt, greift sich A den Eimer, B will nicht, hält den Eimer fest, und A haut B mit der Schippe, damit loslässt, und nimmt sich den Eimer. Den Rest kann man sich denken.
A will was, den Eimer. Er hat die Absicht, sich den Eimer zu nehmen, und er haut auch mit Absicht, er will den Eimer. Das volle Programm.
Für mich hat A hier gehandelt. Es waren Handlungen. Die Handlung für sich, ist doch nicht normativ. Es ist "nur" eine Handlung. Erstmal. Dann kommt die Wertung. Mittels sozialer Vermittlung wird dann A kindgerecht vermittelt, man nimmt sich keine fremden Sachen mit Gewalt. Das ist auch schon eine Art des in Verantwortung nehmen.



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Jun 2019, 07:20

Handlungen sind nicht nur in dem Sinne normativ, dass sie begrüßenswert sind oder eben nicht, sondern auch in dem Sinne, dass es für sie Erfüllungs-Bedingungen gibt, die sie verfehlen oder erreichen können.




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Sa 15. Jun 2019, 14:46

Stefanie hat geschrieben :
Fr 14. Jun 2019, 19:45
A will was, den Eimer. Er hat die Absicht, sich den Eimer zu nehmen, und er haut auch mit Absicht, er will den Eimer. Das volle Programm.
Für mich hat A hier gehandelt. Es waren Handlungen.
Hast Du schon mal gesehen, wie Löwen, Hyänen und Geier sich um einen Kadaver streiten, der vielleicht von einem - schon längst vertriebenen - Leoparden gerissen worden war?

Sind das, was diese Tiere da tun, nicht auch Handlungen? Immerhin haben doch alle Beteiligten die Absicht, vom Kadaver zu fressen und ihre Konkurrenten fernzuhalten. Auch erkennen alle Beteiligten die Absichten der anderen. Der Löwe z.B., dessen Zähne sich gerade in die Eingeweide des Beutetiers graben, beobachtet gleichzeitig eine Hyäne, die nur ein paar Meter entfernt lauert lauert, und erkennt ganz offensichtlich ihre Absichten...


Wenn Du das verneinst - wo genau siehst Du die Unterschiede zu spezifisch menschlichen Absichten und Handlungen?




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Stefanie
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Sa 15. Jun 2019, 18:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Jun 2019, 07:20
Handlungen sind nicht nur in dem Sinne normativ, dass sie begrüßenswert sind oder eben nicht, sondern auch in dem Sinne, dass es für sie Erfüllungs-Bedingungen gibt, die sie verfehlen oder erreichen können.
O.k. Danke. In dem Beispiel war das Verhalten nicht begrüßenswert und den Eimer hat er auch. Das ist doch eine Handlung.
Nur weil eine Handlung nicht begrüßenswert ist oder die Erfüllungs-Bedingung verfehlt wurde, wird doch aus der Handlung keine Nichthandlung. Oder?

Mir ist nicht klar, wie es sich sagen lässt - wie oben Friederike, auch aufgrund der weiter oben schon genannten Kernkompetenzen, Kinder würden nicht in diesem Sinne handeln, wenn Handlung ein normativer Begriff ist.



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Friederike
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So 16. Jun 2019, 13:26

@Stefanie, "Person" ist ebenfalls ein normativer Begriff, d.h. man setzt mit diesem Begriff Normen. Man legt fest, wer den Personenstatus erhält und wer diesen Status erhält, dem kommen bestimmte Rechte und Pflichten zu. Du als Juristin weißt die näheren Bestimmungen sicher besser als ich. Ein solcher Begriff ist auch "Handlung". Zumindest meine ich das. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß wir alltagssprachlich vom Handeln von Tieren und Säuglingen reden.




Hermeneuticus
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So 16. Jun 2019, 13:41

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 15. Jun 2019, 14:46
...wo genau siehst Du die Unterschiede zu spezifisch menschlichen Absichten und Handlungen?
Da sich niemand überschlägt, darauf zu antworten, will ich es selbst mal versuchen - obwohl ich eigentlich nur Dinge noch verdeutlichen muss, die ich schon angesprochen oder zitiert habe. Zum Aspekt "Verantwortung(sgemeinschaft)" habe ich schon einiges gesagt, zu kurz ist bis jetzt m.E. die spezifische Rationalität des menschlichen Handelns und Beabsichtigens gekommen. Dazu knüpfe ich noch einmal an die beiden Zitate aus dem Beitrag 31619 an.

Kannetzky spricht da von der "Allgemeinheit und vernünftige(n) Form", den Zwecke haben müssen, um geteilt und nachvollzogen werden zu können. Im gleichen Zusammenhang verweist er auf Kant:
Damit ein Wunsch handlungsbestimmend (d.h. Bestimmungsgrund des Willens) sein kann, muss er unter eine allgemeine Regel gestellt werden (die freilich falsch sein kann). Ich will reich werden. Wer reich werden will, sollte in Lehman Brothers investieren. Also werde ich in Lehman Brothers investieren. Auf diese Weise sind Neigung und Handlungsform miteinander verknüpft. (Vgl. Kant 1785: Abschnitt II zum Begriff der Maxime und zu praktischen Grundsätzen und Regeln, vgl. auch Nagel 1999).

S. 10, Fußnote 24
Wenn man Handeln als Tätigkeit mit und aus Gründen versteht, dann ist damit genau dieser Punkt gemeint. Gründe sind, formal betrachtet, Prämissen, aus denen etwas Bestimmtes logisch folgt. Reden wir über praktische Gründe, also Gründe zum Handeln, dann muss eine der Prämissen eine allgemeine Regel, eine allgemeine Handlungsanweisung sein. In Kannetzkys Beispiel: "Wer reich werden will, sollte in Lehman Brothers investieren." Diese Regel ist allgemein, weil sie sich an jedermann wendet: Wer auch immer reich werden will, der sollte... Zwar kann diese Regel falsch sein, aber es geht hier um die logische Form und damit die allgemeine Nachvollziehbarkeit der praktischen Begründung.

Wer eine Person nach dem Grund fragt, aus dem sie etwas getan hat, der erwartet eine Weil-Antwort, die in dieser Weise nachvollziehbar ist. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob der Akteur vorm Handeln eine Überlegung angestellt hat, die so aussieht wie ein Syllogismus:

Ich will reich werden.
Wer reich werden will, sollte X tun.
_____________________
Also sollte ich X tun.

Entscheidend ist, dass der Akteur nicht einfach aus einem bloß subjektiven Antrieb, einem Affekt, einem dumpfen Drang, einer plötzlichen Begierde heraus gehandelt, sondern seine subjektiven Antriebe im Lichte einer allgemeinen, also nicht-subjektiven Regel reflektiert hat - womöglich auch selbstkritisch reflektiert hat. Genau darin bewährt sich praktische Rationalität. Wer halbwegs rational handelt, der folgt nicht einfach seinen augenblicklichen Neigungen und dumpfen Antrieben, sondern er ist fähig, sich von diesen Antrieben zu distanzieren und sie womöglich im Blick auf soziale Normen zu verneinen, sie nicht handlungsleitend werden zu lassen.

In diesem Punkt sind sich übrigens Kant und Hegel - der sonst an Kants praktischer Philosophie kaum einen guten Faden lässt - einig. Nach Hegel hängen "Geist" und "Hemmung der Begierde" ursprünglich zusammen. Für "Geist" genügt es also nicht, irgendwelche mentalen Vorstellungen, Regungen, Ansichten über die Welt und ihre Bewohner zu haben. "Geist" meint ein gewisses Maß, eine handlungswirksame Form von kritischer und vor allem: selbstkritischer Rationalität.

Darum sollte man zwischen subjektiven Antrieben, Neigungen, Wünschen, Bestrebungen, Begierden... und Absichten unterscheiden. Absichten sollte man nur kritisch reflektierte, damit halbwegs rationale Neigungen nennen. Das gilt natürlich auch für die Absichten, die wir bei anderen erkennen oder zu erkennen glauben. Zu sehen, dass die Hyäne auch in mein Beutetier beißen will oder dass das andere Kind mein Förmchen haben will, ist dann kein Fall von "Absicht erkennen." Sondern es ist die Erkenntnis einer Neigung, eines Antriebs, einer Begierde o.ä.




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Stefanie
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So 16. Jun 2019, 14:35

Wie nennst Du es denn nicht umgangssprachlich, wenn Kinder etwas machen, um es mal so formulieren?
Wenn ein Kind sagen wir mal sich etwas nehmen will, von einem Aufsteller im Supermarkt einen Schokoriegel, für sich und die Mama und das geht gründlich schief, Aufsteller kracht zusammen*. Das ist eine Handlung. Die Wertung der Handlung, und die Frage, ob und wie jemand für die Handlung zur Verantwortung gezogen wird, wird nach Ausführung der Handlung gestellt.

https://www.abendblatt.de/ratgeber/wiss ... ndeln.html

https://www.deutschlandfunkkultur.de/sa ... _id=433919
Wenn die Babys das schon können, dann können Kinder auch Handeln im Sinne eines normativen Begriffs.

* eines meiner Highlights, als ich während des Studiums in einem Supermarkt arbeitete, war ein kleines Kind, so um die vier Jahre, das eine NUTELLA Glas Pyramide zum Einsturz brachte. Das Mädel war mit Mama einkaufen, und wollte miteinkaufen helfen. In einem Gang standen die normalen NUTELLA Gläser in einer kleinen Pyramide aufgebaut, nicht mehr ganz so perfekt gestellt. Das Mädel zog ein Glas in ihrer Augenhöhe raus, und Krach die Konstruktion machte sich selbständig. Das Mädel hielt das Glas stolz in der Hand, hielt es der Mutter hin und die NUTELLA Gläser rollten durch den Gang. Die Mutter war etwa peinlich berührt, wir sammelten die Gläser wieder ein, und fanden das einfach nur niedlich. Nutella Gläser sind übrigens sehr stabil.



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Hermeneuticus
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So 16. Jun 2019, 14:50

Stefanie hat geschrieben :
So 16. Jun 2019, 14:35
Wie nennst Du es denn nicht umgangssprachlich, wenn Kinder etwas machen, um es mal so formulieren?
Wenn ein Kind sagen wir mal sich etwas nehmen will, von einem Aufsteller im Supermarkt einen Schokoriegel, für sich und die Mama und das geht gründlich schief, Aufsteller kracht zusammen*. Das ist eine Handlung.
Dann bevorzugst Du offenbar einen anspruchslosen Begriff von Handlung. Der ist jedenfalls sehr viel anspruchsloser als die Maßstäbe für "mündiges" Handeln, die wir in unserer alltäglichen Rechtspraxis zugrunde legen. Warum gelten Kinder nicht mit 4, 5 oder 6 Jahren als mündig, sondern erst - teilweise - ab 14? Sind das Phantasie-Maßstäbe? Sollten wir uns also von Tomasello u.a. belehren lassen und schon Kleinkinder für mündig erklären, weil sie doch ohne weiteres schon Absichten haben und erkennen und selbstverständlich auch handeln können?




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Friederike
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So 16. Jun 2019, 15:08

Nur am Rande. Es ist übrigens eine gewisse Inkonsistenz darin, daß wir "Handlung" und "Person"enstatus miteinander verknüpfen, für die Zurechenbarkeit von einem Tun, d.h. der Zuschreibung von Verantwortung (was dann "Handlung" heißt) die Person allerdings ein bestimmtes Mindestalter haben muß, andererseits aber jedes geborene Menschenkind (vorgeburtlich weiß ich es nicht) "Person" ist.




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Stefanie
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So 16. Jun 2019, 15:10

Eben. Der Umstand, dass Kinder noch nicht alles können, nicht alles gleich gelingt, ihm oder ihr noch soziale Kompetenzen fehlen, die erst sozial vermittelt werden, schließt eine Handlung nicht aus. Oder auch zu erkennen, dass es Absichten gibt, die sozial nicht begrüßenswert sind. Können manche Erwachsene übrigens auch nicht. Es ist eine Absicht.
Bei der Zurechnung der Verantwortung geht es daum, ob jemand die Konsequenzen seines Tuns verstehen, abschätzen und einordnen kann. Ob er oder sie die Folgen seiner bzw. ihrer umgesetzen Absicht erkennen kann.

Deine Beschreibung, insbesondere im letzten Absatz, macht die Tür weit auf, um bestimmte Verhaltensweisen, wie z.b. sich darauf berufen, es sei nur die Neigung oder die Begierde gewesen, die jemanden vernanlasste, der Frau an den Busen zu grabschen. Das wäre ja keine Handlung.



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So 16. Jun 2019, 16:36

Stefanie hat geschrieben :
So 16. Jun 2019, 15:10
Können manche Erwachsene übrigens auch nicht. Es ist eine Absicht.
Bei der Zurechnung der Verantwortung geht es daum, ob jemand die Konsequenzen seines Tuns verstehen, abschätzen und einordnen kann. Ob er oder sie die Folgen seiner bzw. ihrer umgesetzen Absicht erkennen kann.
Sicher entsprechen auch erwachsene Personen nicht immer den normativen Standards, die mit Handlungen, Gründen, Verantwortung usw. verknüpft sind. Der entscheidende Punkt ist aber: Es handelt sich hier um NORMATIVE Standards, die zu erfüllen sind und von Fall zu Fall erfüllt werden oder auch nicht. Naturwissenschaftler können uns über solche normativen Aspekte schlecht informieren. Das liegt außerhalb ihres Forschungsgebietes.

Normative Fähigkeiten wie z.B. das Abschätzen von Handlungsfolgen, das Hinterfragen der eigenen Antriebe sind nicht "objektiv" beschreibbar. Sie sind nur BEURTEILBAR, und zwar für solche Personen, die sich auf diese Fähigkeiten verstehen und die darin enthaltenen Normen selbst ANWENDEN, indem sie andere beurteilen.

Handlungen, Absichten, Verantwortung usw. sind bis auf den Grund normative Sachverhalte. Man stößt nicht irgendwo auf eine Grauzone, in der das Normative nahtlos ins Natürliche, Normenfreie überginge. Und das liegt einfach daran, dass es zwischen Normen und (natürlichen) Fakten einen KATEGORIALEN Unterschied gibt. Wer z.B. behauptet, dass ein Hund handeln könne, der wechselt unter der Hand den Handlungsbegriff, den er für sich und seine Mitmenschen verwendet, aus gegen einen anderen, unschärferen Begriff. Das kann man leicht dadurch überprüfen, ob er denn auch von einem Hund die Verantwortung für die Folgen seiner Handlung erwartet; würde er einen Hund vor Gericht stellen und zu einer Strafe verurteilen? Das wäre - offenkundig - unsinnig. Aber dann ist es auch unsinnig zu behaupten, der Hund könne handeln.


Deine Beschreibung, insbesondere im letzten Absatz, macht die Tür weit auf, um bestimmte Verhaltensweisen, wie z.b. sich darauf berufen, es sei nur die Neigung oder die Begierde gewesen, die jemanden vernanlasste, der Frau an den Busen zu grabschen. Das wäre ja keine Handlung.
Nö, von einer Person, der wir Handlungsfähigkeit unterstellen, erwarten wir zugleich so viel Selbstkontrolle, dass sie trotz ihrer Neigungen die Rechte anderer Personen nicht verletzt. Wer das in elementarer Weise nicht kann, der wird von der Gesellschaft separiert und einer Therapie unterzogen. Oder er wird dafür verurteilt, dass er wider besseres Wissen und Können gehandelt hat.




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Stefanie
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So 16. Jun 2019, 16:57

Und?
Du sprichst Menschen in einem bestimmten Alter die Fähigkeit ab, zu handeln. Es gibt keine Kernkompetenzen, Absicht gibt es nicht. Das entspricht aber nicht mehr dem heutigen Wissensstand.
Ich leugne keineswegs, dass es Menschen in einem bestimmten Alter noch die Fähigkeit fehlt, die Folgen ihrer Handlungen abzuschätzen und zu hinterfragen. Deshalb haften sie auch nicht.
Ein Kind fährt auf seinem Rädchen rechts um die Kurve, damit es nach Hause auf die Auffahrt kommt, es geht die Treppe runter, es putzt sich die Zähne, es will eine Kerze auspusten, es spielt und baut mit der Schwester einen Holzturm, um in wieder einzureißen und das sollen keine Absichten sein, sondern nur irgendein Antrieb?



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So 16. Jun 2019, 17:26

Stefanie hat geschrieben :
So 16. Jun 2019, 16:57
Und?
Du sprichst Menschen in einem bestimmten Alter die Fähigkeit ab, zu handeln. Es gibt keine Kernkompetenzen, Absicht gibt es nicht. Das entspricht aber nicht mehr dem heutigen Wissensstand.
Die "Kernkompetenzen", die wir einer vernünftigen, "mündigen" Person unterstellen, sind: Zwecksetzungsautonomie, Mittelwahlrationalität und Handlungsfolgenverantwortung. Und im Rahmen dieser normativen Standards - die in unserer Gesellschaft de facto und und unhinterfragt gelten -, sollten wir auch Begriffe bestimmen wie "Handlung" und "Absicht".

Natürlich spreche ich Kindern und Tieren nicht einfach praktische intelligente Fähigkeiten ab. Ich bestehe nur darauf, dass wir die Begriffe, die wir verwenden, nicht so unscharf gebrauchen, dass wir wichtige (kategoriale) Unterschiede verwischen.

In der Umgangssprache ist es nicht weiter schlimm, wenn solche Begriffe unscharf gebraucht werden. Da kommt es ja auch auf Verständigung in der Situation an, und da genügt es, ungefähr zu wissen, was wir meinen. Aber hier befinden wir uns in einer philosophischen Diskussion, in der die Dinge allgemein und grundsätzlich befragt und geklärt werden. Und da müssen wir auch unsere Begriffe mit der nötigen Trennschärfe verwenden.

Ich finde diesbezüglich Kannetzkys Unterscheidung zwischen "Intentionen" und "Absichten" hilfreich (haben @Friederike und ich weiter oben schon zitiert).




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So 16. Jun 2019, 17:46

Ich rede von den Kernkompetenzen, die hier im Thread zitiert worden sind. Eine der Fragen war, ob Absichten und geteilte Absichten bzw. kollektive Intentionalität erlernt werden, oder schon angelegt sind. Es wurde festgestellt, dass es angelegt ist.
Sollte das nicht mit berücksichtigt werden, so heutzutage?



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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
So 16. Jun 2019, 17:46
Ich rede von den Kernkompetenzen, die hier im Thread zitiert worden sind. Eine der Fragen war, ob Absichten und geteilte Absichten bzw. kollektive Intentionalität erlernt werden, oder schon angelegt sind. Es wurde festgestellt, dass es angelegt ist.
Sollte das nicht mit berücksichtigt werden, so heutzutage?
Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 6. Jun 2019, 16:48
Der Sache nach geht es jedenfalls um relativ gleichbleibende Handlungsabläufe, die sich einüben und somit tradieren lassen. Sie unterliegen gewissen Normen (man kann sie falsch oder richtig vollziehen) und sind sozial vermittelt.
Hermeneuticus hat geschrieben : Natürlich spreche ich Kindern und Tieren nicht einfach praktische intelligente Fähigkeiten ab.
Wunderbar, dann schlage ich vor, dass du (innerlich) den fehlenden Aspekt in deiner Liste oben einfach ergänzt. Denn ohne das entsprechende biologische Fundament müssten und könnten wir gar nicht handeln - weder alleine noch als Gruppe. Und eine soziale Vermittlung wäre unmöglich.




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Jörn Budesheim
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Hermeneuticus hat geschrieben :
So 16. Jun 2019, 16:36
Der entscheidende Punkt ist aber: Es handelt sich hier um NORMATIVE Standards, die zu erfüllen sind und von Fall zu Fall erfüllt werden oder auch nicht. Naturwissenschaftler können uns über solche normativen Aspekte schlecht informieren. Das liegt außerhalb ihres Forschungsgebietes.
Nun ist es aber so, dass Tomasello und Kollegen uns genau darüber informieren. Bereits sehr kleine Kinder sind fähig, Bindungen einzugehen und sie protestieren, wenn andere sich an ihre Verbindlichkeit nicht halten.
Hannes Rakoczy hat geschrieben : Viele Spezies spielen. Aber nur Menschen betreiben Regelspiele, und nur Menschen spielen Fantasie- oder Als-ob-Spiele. Kinder beginnen, einfache Formen solcher Spiele ab dem zweiten Lebensjahr zu spielen. Und nicht nur lernen sie, selbst gemäß den (expliziten oder impliziten) Regeln zu spielen, sondern sie begreifen diese Regeln auch als normativ bindend und setzen sie aktiv durch: Wenn Dritte etwa in einem Als-ob-Spiel die gemeinsam etablierten fiktionalen Identitäten von Gegenständen verwechseln, weisen Kinder ab zwei Jahren sie protestierend zurecht.




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Jörn hat geschrieben : Wunderbar, dann schlage ich vor, dass du (innerlich) den fehlenden Aspekt in deiner Liste oben einfach ergänzt. Denn ohne das entsprechende biologische Fundament müssten und könnten wir gar nicht handeln - weder alleine noch als Gruppe. Und eine soziale Vermittlung wäre unmöglich.
Fein, wenn Ihr (Stefanie und Du) im Gegenzug darauf verzichtet, Kleinkindern oder Schimpansen Handlungen, Gründe und Absichten (im Sinne von Beitrag 31700) zuzuschreiben, haben wir einen Deal. ;)




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