Wahrheit die 99. ...

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Jörn Budesheim
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So 10. Mai 2020, 15:43

Erst vor kurzem hat sich hier im Forum jemand präzise so geäußert und gesagt, dass die ethischen Gesetze eine Sache der Vereinbarung sind. Das heißt für mich, sie sind genauso gesetzt wie die Schachregeln und könnten prinzipiell auch völlig anders sein.

(Allerdings macht hier der Begriff der Vereinbarungen bereits gewisse Probleme, denn er sitzt ja eine gewisse Ethik bereits voraus ...)




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Jovis
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Mo 11. Mai 2020, 10:17

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 9. Mai 2020, 21:21
Jovis hat geschrieben :
Do 7. Mai 2020, 17:24
Wir hätten dann ganz selbstverständlich über das Beispiel der Blüte als Ganzheit gesprochen. Aber ist die Blüte überhaupt eine Ganzheit? Oder nicht doch eher die ganze (!) Blume samt Stängel und Blättern? Aber was ist mit einem Blütenblatt? Ist das ein Ganzes oder ein Teil? Oder beides? Und so immer weiter, man kann das beliebig ausweiten oder zusammenschnurren lassen.
Mir ist hier nicht ganz klar, wofür oder wogegen das spricht? Warum könnte nicht z.b. mein Herz eine Ganzheit sein, die zusammen mit vielen anderen Elementen meinen Organismus bildet, der seinerseits eine Ganzheit ist?
Ich steckte mal wieder im Entweder-Oder fest: Eine Sache kann nur entweder ein Teil sein oder ein Ganzes. Aber klar, wie so oft das Sowohl-als auch: Etwas kann sowohl ein Ganzes sein und trotzdem Teil von etwas. Danke. :)

Worauf ich aber eigentlich hinaus wollte: Das Erkennen der Welt setzt einerseits natürlich die Welt voraus*, findet aber andererseits immer als ein gedanklicher Auswahl- und Ordnungsprozess statt, der bei verschiedenen Menschen verschieden ablaufen kann, trotz desselben Gegenstandes. Bei Alltagssachen ist das meistens eher nicht der Fall, da ist das relativ unproblematisch. Aber bei allem, was strittig ist, weil es sich nicht um einen einfachen Gegenstand handelt, sondern um komplexere Zusammenhänge (Stichwort Klimawandel) verlagert sich der Prozess der Wahrheitsfindung von der "Tatsachenseite" immer weiter zur "Einordnungsseite" und wird immer mehr ein Bewertungsprozess. Das müsste eigentlich immer mitbedacht und mitkommuniziert werden, anstatt davon auszugehen, dass man ja schließlich über dieselben Fakten spricht.

*Es wurde hier jetzt schon mehrfach erwähnt, dass es "die Welt" nicht gibt. Diese Themathik ist mir unbekannt und ich weiß nicht, was dahintersteckt. Ich benutze dieses Wort daher erst einmal ganz naiv weiter.




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Jörn Budesheim
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Di 12. Mai 2020, 06:22

Die Begriffe Erkennen und Erkenntnis haben meines Erachtens zwei Aspekte, die man unterscheiden kann, auch wenn sie zusammen gehören: auf der einen Seite ist Erkenntnis eine Art "Erfolgs-Begriff" - auf der anderen Seite kann auch der Vorgang der Erkenntnisgewinnung gemeint sein. Dieser Vorgang kann natürlich bei verschiedenen Menschen (bzw Gruppen) auf ganz verschiedene Arten und Weisen ablaufen - in ganz verschiedenen gedanklichen Auswahl- und Ordnungsprozessen, wie du schreibst - aber natürlich kann man damit dennoch zum gleichen Ergebnis kommen. So wie wenn man im Mathematikunterricht durch verschiedene Rechenwege das richtige Ergebnis findet :)

Dazu zwei Beispiele: Vor kurzem habe ich irgendwo einen Bericht gelesen, da ging es darum, dass verschiedene Institute mit völlig verschiedenen Modellen bei bestimmten Aspekten der Corona Problematik dennoch zu nahezu übereinstimmenden Ergebnis kamen.

Vor ein paar Jahren habe ich mal einen Bericht über die Erforschung der sogenannten Higgs-Bosonen gesehen. Da wurden zwei Forschergruppen voneinander isoliert, damit sie nicht kommunizieren konnten und sollten unabhängig voneinander die Frage erforschen. Auch hier gab es unterschiedliche Wege der Erkenntnis, die jedoch im gleichen Ziel ankamen.

Wenn verschiedene Wege zum gleichen Ziel führen steigt meines Erachtens natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass man am richtigen Ziel angelangt ist :)




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Jörn Budesheim
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Di 12. Mai 2020, 07:18

Jovis hat geschrieben :
Mo 11. Mai 2020, 10:17
Aber bei allem, was strittig ist, weil es sich nicht um einen einfachen Gegenstand handelt, sondern um komplexere Zusammenhänge (Stichwort Klimawandel) verlagert sich der Prozess der Wahrheitsfindung von der "Tatsachenseite" immer weiter zur "Einordnungsseite" und wird immer mehr ein Bewertungsprozess. Das müsste eigentlich immer mitbedacht und mitkommuniziert werden, anstatt davon auszugehen, dass man ja schließlich über dieselben Fakten spricht.
Mir ist nicht ganz sicher, was hier dein Punkt ist? In etwa so?: Man soll nicht da, wo noch Unsicherheit herrscht, so tun als hätte man die Wahrheit bereits in der Tasche, um eine bekannte Formulierung von Karl Popper zu nutzen.




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Alethos
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Di 12. Mai 2020, 09:42

Jovis hat geschrieben :
Mo 11. Mai 2020, 10:17
Das Erkennen der Welt setzt einerseits natürlich die Welt voraus*, findet aber andererseits immer als ein gedanklicher Auswahl- und Ordnungsprozess statt, der bei verschiedenen Menschen verschieden ablaufen kann, trotz desselben Gegenstandes. Bei Alltagssachen ist das meistens eher nicht der Fall, da ist das relativ unproblematisch. Aber bei allem, was strittig ist, weil es sich nicht um einen einfachen Gegenstand handelt, sondern um komplexere Zusammenhänge (Stichwort Klimawandel) verlagert sich der Prozess der Wahrheitsfindung von der "Tatsachenseite" immer weiter zur "Einordnungsseite" und wird immer mehr ein Bewertungsprozess. Das müsste eigentlich immer mitbedacht und mitkommuniziert werden, anstatt davon auszugehen, dass man ja schließlich über dieselben Fakten spricht.
Neulich (als es noch erlaubt war, an der Bar zu sitzen), sass ich mit einem Freund bei einem Feierabend-Bier. Wir sprachen über die Wirklichkeit, Wahrheit, moralische Richtigkeit und alles das, was zu einem guten Gespräch dazugehören kann. Er argumentierte ähnlich. Er sagte sinngemäss: "Ob dies oder das gut ist, das ist schliesslich eine Frage der persönlichen Relevanz. Ich kann diesen oder den anderen Aspekt in den Blick nehmen und diesen so oder anders bewerten: daraus ergibt sich die Relevanz für mich und diese fliesst in mein Urteil darüber, ob dies gut oder falsch ist, ein".

Ich hatte, wie du dir vielleicht denken kannst, so meine Mühe mit dieser Argumentation :)



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Jovis
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Mi 13. Mai 2020, 10:18

Ich wollte eigentlich gar nicht auf etwas Kompliziertes hinaus, sondern nur in Erinnerung rufen, wenn man über das Thema Wahrheit spricht, dass wir in unserem Denken nie den „reinen Gegenstand“ haben. Zwar gibt sich uns der Gegenstand zu erkennen, um es mal so auszudrücken, aber das ist ja nur die eine Seite des Erkenntnisprozesses. Auf der anderen Seite kommt dann halt das Denken dazu. Das kann man nicht trennen.

So ist das ja wohl auch mal entstanden: Eine für seine Belange richtige Vorstellung von seiner Umwelt hat ja vermutlich auch ein Regenwurm, aber er kann das nicht weiterverarbeiten, nicht bewerten, nicht einordnen, keine Zusammenhänge herstellen. Wir tun das ganz automatisch, durch Beobachtung, durch kulturelles Lernen, durch Selberdenken. Wir sehen ein Blütenblatt und wissen, dass das von dieser Rose in diesem Blumenstrauß auf diesen Tisch herabgefallen ist.

Je konkreter dieses Denken ist, umso mehr nähert es sich dem, was wir Wahrheit nennen. Je abstrakter es ist, umso mehr Anteile des Denkprozesses selbst sind darin enthalten. Konkret und abstrakt meine ich in dem Sinne, wie Hegel es in dem hier im Forum verlinkten Aufsatz „Wer denkt abstrakt?“ so schön ausführt.

Solche Sachen wir die Unsicherheit (oder gar Unmöglichkeit?) eines abschließenden Urteils und auch die subjektive Relevanz eines Themas spielen natürlich auch eine Rolle, das eine mehr auf der „konkreten“, das andere mehr auf der „abstrakten“ Seite. Erkenntnis ist eben ein Konglomerat aus verschiedenen, je nach Gegenstand und Anlass unterschiedlich gewichteten Anteilen.

Jetzt müsste man eigentlich mit dem Thema Sprache weitermachen, aber darüber muss ich erst noch genauer nachdenken.




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Jörn Budesheim
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Mi 13. Mai 2020, 18:48

Jovis hat geschrieben :
Mi 13. Mai 2020, 10:18
Ich wollte eigentlich gar nicht auf etwas Kompliziertes hinaus, sondern ...
Das ist ein Versuch, der in der Philosophie leider oft vom Scheitern bedroht ist :) was ist in der Philosophie schon einfach?




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Jörn Budesheim
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Mi 13. Mai 2020, 19:33

Jovis hat geschrieben :
Mi 13. Mai 2020, 10:18
Ich wollte [...] nur in Erinnerung rufen, wenn man über das Thema Wahrheit spricht, dass wir in unserem Denken nie den „reinen Gegenstand“ haben. Zwar gibt sich uns der Gegenstand zu erkennen, um es mal so auszudrücken, aber das ist ja nur die eine Seite des Erkenntnisprozesses. Auf der anderen Seite kommt dann halt das Denken dazu. Das kann man nicht trennen.
Ich kann mir nicht wirklich ausmalen, wie du dir das vorstellst. Nehmen wir dazu das Beispiel, das du selbst bringst: Wir sehen ein Blütenblatt und wissen, dass das von dieser Rose in diesem Blumenstrauß auf diesen Tisch herabgefallen ist. Der Gedanke ist wahr - meine ich - wenn das Blütenblatt wirklich von dieser Rose auf den Tisch aufgefallen ist.* Du scheinst jedoch der Ansicht zu sein, dass wir Tatsachen (auch hier) nicht wirklich erfassen können, weil das Denken sie gewissermaßen "verunreinigt".


*Die Ansicht, dass "p" ist wahr genau dann, wenn p.




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Jörn Budesheim
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Do 14. Mai 2020, 06:55

Jovis hat geschrieben :
Mi 13. Mai 2020, 10:18
reine[r] Gegenstand
Jovis hat geschrieben :
Mi 13. Mai 2020, 10:18
Urteil
Tatsache
Beispiele für Gegenstände sind in meiner Sprechweise: Katzen, Zahlen, Gedichte, Atome, Quarks, Relationen, Luft ... Ich kürze das jetzt mit G ab.

Ein Urteil liegt vor, wenn wir etwas über dieses G aussagen. Z.b. die Katze liegt auf der Matte. Das kürze ich jetzt mit Gm ab = ich sage m (liegt auf der Matte) über G (die Katze) aus.

Interessant ist jetzt, dass Tatsachen ja dieselbe Struktur haben wie Urteile, denn wenn es wahr ist, dass die Katze auf der Matte liegt, liegt eine Tatsache vor.




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Jovis
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Do 14. Mai 2020, 09:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 13. Mai 2020, 19:33
Du scheinst jedoch der Ansicht zu sein, dass wir Tatsachen (auch hier) nicht wirklich erfassen können, weil das Denken sie gewissermaßen "verunreinigt".
Nein, nicht verunreinigt, eher anreichert. Mehr dazu hoffentlich später.




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Jovis
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Do 14. Mai 2020, 09:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 13. Mai 2020, 19:33
*Die Ansicht, dass "p" ist wahr genau dann, wenn p.
Hier muss jetzt mal ich nachfragen. Wenn ich den Satz umdrehe, denn dann wird es für mich klarer, also sage: Wenn p, dann ist "p" wahr - was genau habe ich damit gewonnen? Als Beispiel: Wenn dies eine Rose ist, dann ist die Aussage "Dies ist eine Rose" wahr. Oder aus der Mathematik: Wenn 5+7=12 ist, dann ist die Aussage "5+7=12" wahr. Die Wahrheit dieser Aussagen hängt dann immer an dem "wenn". Wie kläre ich, ob dieses "wenn" gerechtfertigt ist?




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Jörn Budesheim
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Do 14. Mai 2020, 09:52

Das sind zwei verschiedene Fragen, finde ich.

Einerseits haben wir eine Art "Definition" von Wahrheit oder vielleicht besser: der Frage, was es heißt, dass eine Ansicht p wahr ist. "P" ist eben wahr, wenn p. (Es gibt viele andere Definitionen/Wahrheits-Theorien, daher der folgende Beitrag mit einem kleinen, ziemlich freestyle formulierten Überblick.)

Andererseits kann man sich natürlich fragen, wie ich herausfinde, was wahr ist. Dazu trägt diese "Definition" im Grunde gar nichts bei. Außer vielleicht, dass sie mir sagt, dass ich herausfinden muss, ob p, wenn ich der Ansicht bin, dass "p". Aber wie ich es herausfinde, dazu gibt es keine allgemeine Regel. Dazu ist die Welt auch zu bunt. Wie finde ich heraus, wo mein Schlüssel ist; wie finde ich heraus, wie ein Gedicht zu deuten ist; wie finde ich heraus, ob es eine größte Primzahl gibt; wie finde ich heraus, welche Partei ich wählen sollte ...




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Jörn Budesheim
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Do 14. Mai 2020, 10:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 11:43
Während die diversen Einzel-Wissenschaften herauszufinden versuchen, was in ihrem jeweiligen Feld wahr ist, fragen die Philosophen oftmals grundlegender: sie fragen nach der Wahrheit über die Wahrheit selbst. Herausgekommen ist dabei in den letzten zwei Jahrtausenden ein bunter Strauß von Wahrheitstheorien. Die folgende Zusammenstellung ist vielfältig, beansprucht allerdings keine Vollständigkeit. Bei den vorgelegten Wahrheitstheorien dürfte es hier und da Überschneidungen und Ähnlichkeiten geben, manche der Theorien unterscheiden sich nur in Details, manche vielleicht sogar nur vom Namen her.

Wichtig: Die Erläuterungen beanspruchen natürlich keine letzte Präzision. Ziel ist, den jeweiligen Begriff knapp anzudeuten und fürs erste greifbar zu machen. Sie sollen und können keine eingehende Beschäftigung mit dem jeweiligen Begriff ersetzen.

Das Thema des Threads ist, die diversen Wahrheitstheorien zu beleuchten. Welche ist/sind wahr? Mehrere oder gar keine? Eine, die nicht gelistet wurde? Oder kann/braucht es gar keine Wahrheitstheorie geben?
  • Abbildtheorie der Wahrheit: Wahr ist ein Bild/Modell, wenn es mit der Wirklichkeit übereinstimmt
  • Aletheia-Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Sein insofern es sich lichtet und entbirgt
  • Ästhetische-Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Schöne und Stimmige
  • Autoritäts-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was eine Autorität sagt bzw. festsetzt (auctoritas, non veritas facit legem, Hobbes)
  • Charisma-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was charismatische Personen verkünden
  • Dezisions-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt) wofür wir uns entscheiden, bzw. einer, der das Sagen hat
  • Disquotationstheorie -Theorie der Wahrheit: "Wahr ist" ist eine Form der "Disquotation": "Schnee ist weiß" ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist
  • Evidenz-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was evident und offensichtlich ist
  • Falsifikations-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt) eine plausible Ansicht bis sie widerlegt wurde
  • Fundamentalitäts-Theorie der Wahrheit: "Wahr" ist undefinierbar, Der Begriff "Wahrheit" ist fundamental und lässt sich nicht auf andere Begriffe zurückführen
  • Identitäts-Theorie der Wahrheit: Wahr ist eine Aussage, die mit einer Tatsache identisch ist
  • Inkarnations-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was die Person sagt, in der das Wort Fleisch wurde
  • Intensitäts-Theorie der Wahrheit: Wahr(haftig) ist das Leben, das sich selbst spürt - ich glühe, also bin ich
  • Kalokagathie-Theorie der Wahrheit: Wahr ist was zugleich schön und gut und wahr ist
  • Kohärenz-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt), was in sich stimmig ist
  • Komplexitätsreduktions-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was die Überkomplexität der Welt reduziert und somit Überblick und Orientierung verspricht
  • Konsens-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt), worauf wir uns nach gründlicher Abwägung einigen
  • Konstruktions-Theorie der Wahrheit: Wahr ist eine viable Wirklichkeits-Konstruktion
  • Korrespondenz-Theorie der Wahrheit: Wahr ist eine Ansicht und/oder eine Satz, dem eine Tatsache entspricht
  • Logische Theorie der Wahrheits: Wahr ist, was aus wahren Aussagen widerspruchsfrei folgt bzw. zu folgern ist
  • Metaphorologische Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was sich in einer absoluten Metapher zeigt
  • Moralische Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Gute
  • Offenbarungs-Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Wort Gottes
  • Ontische Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was der Fall ist (Wahrheit ist "da draußen")
  • Pragmatische Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was nützlich ist, was uns weiter bringt
  • Redundanz-Theorie der Wahrheit: "Wahr ist" ist redundant und lässt sich stets ohne Verlust eliminieren
  • Widerspiegelungstheorie der Wahrheit: Wahr ist ein Bewusstseinszustand, wenn eine Übereinstimmung mit dem bewussten Objekt vorliegt
Quellen: Jochen Hörisch (Theorie-Apotheke), www.gavagai.de, Wikipedia, eigene Recherchen




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Jörn Budesheim
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So 17. Mai 2020, 18:21

Jovis hat geschrieben :
Mi 13. Mai 2020, 10:18
Ich wollte [...] nur in Erinnerung rufen, wenn man über das Thema Wahrheit spricht, dass wir in unserem Denken nie den „reinen Gegenstand“ haben.
Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Einwand bzw dieser Ansatz mit einer korrespondenztheoretischen Wahrheits-Vorstellung zusammenhängt. Das heißt wir haben auf der einen Seite - sagen wir -einen Gegenstand und auf der anderen Seite - sagen wir - eine Ansicht. Wie wir es auch drehen und wenden der Gegenstand kann nie mit der Ansicht zur Deckung kommen. Allein schon deshalb, weil Ansichten und Gegenstände ganz verschiedene Kategorien sind.

Um eine Analogie zu haben: Wir können (sehr frei nach einer Idee von Frege) natürlich versuchen, zwei 100 € Geldscheine zur Deckung zu bringen, um herauszufinden, ob einer eine Fälschung ist. Schwieriger wird schon die Sache, wenn wir einen 100 € Geldschein und einen Goldklumpen in Wert von 100 € zur Übereinstimmung bringen sollen :)

Wen mir jemand sagt, dass der Baum auf die Wiese gestürzt ist, dann muss ich mich erkundigen, ob die entsprechende Tatsache besteht, wenn ich wissen will, ob die fragliche Person irrt oder die Wahrheit spricht. Das ist der Sinn der Formel weiter oben: die Absicht, dass "p" ist wahr wenn p.

Tatsachen bestehen jedoch nicht einfach in Materie Pixeln. Tatsachen sind Wahrheiten, Wahrheiten über bestimmte Gegenstände. Es ist nämlich entweder wahr oder nicht wahr, über den Baum, dass er auf die Wiese gestürzt ist.

Soweit ich weiß, hält Frege Wahrheit für einen undefinierbaren Begriff und Donald Davidson ist auch dieser Ansicht, Wahrheit gehört nach seiner Einschätzung zu den Grundbegriffen, die wir nicht definieren können und ohne die wir gar keine Begriffe hätten.




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Alethos
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So 14. Feb 2021, 12:48




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So 14. Feb 2021, 20:29

Es ist übrigens wahr, dass ich ein Trumpsupporter bin. Im Video.



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Jörn Budesheim
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So 14. Feb 2021, 20:33

:)




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AndreaH
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Di 16. Feb 2021, 17:12

:lol:




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Jörn Budesheim
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Di 29. Jun 2021, 06:26

Klappentext, Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit hat geschrieben : Relativistische und konstruktivistische Wahrheits- und Erkenntnistheorien haben weite Teile der akademischen Welt erobert. Paul Boghossian diagnostiziert eine »Angst vor der Wahrheit«, überprüft diese Sichtweisen und macht ihre fundamentalen Schwächen sichtbar. Dabei konzentriert er sich auf drei verschiedene Lesarten der Behauptung, Erkenntnis sei nur sozial konstruiert und Wahrheit lediglich relativ, und widerlegt sie allesamt. Demgegenüber plädiert er dafür, dass wir unserem gesunden Menschenverstand folgen sollten: Die Welt ist, wie sie ist, unabhängig von unseren Meinungen über sie. Warum objektive Erkenntnis möglich ist und eine Wahrheit jenseits sozialer oder kultureller Perspektiven existiert, zeigt Boghossian in diesem brillanten Buch. Paul Boghossian ist Silver Professor für Philosophie an der New York University.
[Dass ich das hier zitiere, heißt im Übrigen nicht, dass ich alle Wendungen in diesem Text akzeptiere. Die Wirklichkeit ist natürlich nicht in all ihren Facetten unabhängig von unserer Meinung über sie. Wir selbst sind z.b. nicht unabhängig von unseren Meinungen über uns. Aber das ist nur ein Detail, man sollte diese Phrase, dass die Welt ist, wie sie ist unabhängig von unserem Meinungen mit einem kleinen Körnchen Salz nehmen.]
Julian Nida-Rümelin hat geschrieben : "In manchen Departments der Geistes- und Kulturwissenschaften ist der Antirealismus zum Dogma geworden."

[Von mir grammatisch umgestellt. Hier das Zitat im Zusammenhang und in der wortwörtlichen Formulierung:]

Der in manchen Departments der Geistes- und Kulturwissenschaften unterdessen zum Dogma gewordene Anti-Realismus verweist gerne darauf, dass Fakten ja sprachgeschichtlich das Gemachte seien, und in der Tat, »factum« heißt auf Lateinisch das Gemachte (facere). Solche sprachgeschichtlichen Zusammenhänge sind durchaus interessant. Der Ausdruck »Idiot« leitet sich vom Griechischen idiótes her, was dort ursprünglich lediglich »der Privatmann« bedeutete, im Gegensatz zum Bürger, der sich um die öffentlichen Angelegenheiten kümmert, der polítes, der an den Entscheidungen, die die Stadt (pólis) betreffen, teilhat. Aber »Idiot« bedeutet heute etwas ganz anderes als »Privatmann«. Auch der deutsche Ausdruck »Tatsache« hat etwas mit Tun zu tun, was die anti-realistische Interpretation nahelegt, dass Tatsachen etwas sind, das durch (menschliches) Tun erst hervorgebracht wird, aber das ändert nichts daran, dass »Tatsachen« nur in realistischer Redeweise sinnvoll sind.
[Das entspricht übrigens in großem Maße meiner eigenen Erfahrung. Gerade in Bereichen der Kunst und Kultur gilt man nachgerade als unaufgeklärt, wenn man über Wahrheit spricht - Wahrheit ist dort oft überhaupt nur in Gänsefüßchen zugelassen. Vor kurzem habe ich in unserem Kunstverein dazu eine interessante Erfahrung gemacht. Eine junge Kunstwissenschaftlerin kannte tatsächlich das Buch von Paul Boghossian "Angst vor der Wahrheit" und hat sich seiner Kritik angeschlossen und sich gegen die gängige Zurückweisung des Wahrheit-Begriffs in ihrer eigenen Sphäre gewandt. Das fand ich außerordentlich erfrischend natürlich und hoffnungsvoll!]
Susan Neiman in "Widerstand der Vernunft, Ein Manifest in postfaktischen Zeiten" hat geschrieben : Schon 2004 hat der französische Philosoph Bruno Latour beschrieben, wie die Rechten postmoderne Theorien einsetzen:

»›Sollte die Öffentlichkeit zu dem Schluss kommen‹, schrieb ein republikanischer Stratege, ›dass die wissenschaftlichen Fragen geklärt sind, wird sich ihre Haltung zur Klimaänderung ändern. Also müssen (diejenigen, die gegen neue Regelungen sind) weiter die Abwesenheit wissenschaftlicher Gewissheit in den Vordergrund stellen.‹«

Latour fährt selbstkritisch fort:

»Dennoch gibt es ganze wissenschaftliche Institute, die Studenten beibringen, dass Fakten erfunden sind, dass es keinen natürlichen vorurteilsfreien Zugang zur Wahrheit gibt, dass wir stets von der Sprache gefangen sind, dass wir immer nur von einem bestimmten Standpunkt sprechen usw., während gefährliche Extremisten die gleichen Argumente benutzen, um feste Beweise zu zerstören, die unsere Leben retten könnten. Lag ich falsch, als ich zu diesen Studien beigetragen habe?«
Weitere Zitate, die in die nämliche Richtung gehen, zu finden, wäre sicherlich ein Kinderspiel. Ich bringe das nur, weil gestern wieder mal behauptet wurde, dass es sich hierbei um nichts anderes als Windmühlen-Gefechte handeln würde von Leuten, die sich profilieren wollen. In Wahrheit ist es so, dass VIELE zusammenzucken, wenn man mit Emphase von der Wahrheit spricht, weil sie letztlich der Ansicht sind, dass jede:r seine eigene Wahrheit hat, das Wahrheiten nur eine soziale Konstruktion sind oder Ausdruck von Herrschaftsgesten oder was auch immer.

Erst vor kurzem hatte ich mit jemanden ein Gespräch, der geltend machte, dass Wahrheiten konstruiert sind. In der Folge stellte sich heraus, dass er letztlich meinte, dass die Erwirtschaftung von Wahrheit in irgendeiner Form konstruiert ist, etwa bei den Naturwissenschaften mit aufwändig gebauten Teilchenbeschleunigern. Dementsprechend hielt er daran fest, dass Tatsachen Sachen der Tat sind. Dabei bezog er sich haargenau wie es Julian Nida-Rümelin oben beschreibt auf die Etymologie des Begriffs.




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Di 29. Jun 2021, 15:07

Wie stellt man Verbindlichkeit her...? "Autoritäre" Normativität... Apodiktik... "postmoderner Fundamentalismus"...? - Qua Werte...? Statt eines "Nihilismus der Beliebigkeit/en"...




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