Dichterische Vernunft

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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AndreaH
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Sa 10. Sep 2022, 01:13

Timberlake hat geschrieben :
Fr 9. Sep 2022, 14:19

Nauplios hat geschrieben :
Mi 7. Sep 2022, 15:44


Die Metapher gilt nicht mehr als ornamentaler Redeschmuck, den man beiläufig verwendet, damit das, was man zu sagen hat, nur schöner klingt und den man auch beiseitelassen könnte, sofern es um die Wahrheit geht. Die Metapher ist unverzichtbar zur Erfassung von Zusammenhängen. Interessant ist an der Stelle u.a. auch die Arbeit von Bernhard Debatin: Die Rationalität der Metapher. Und da wären wir dann bei der Vernunft angekommen.
Vorrausgesetzt natürlich , das auch die "Dichterische Vernunft" , im Allgemeinem und das "Zauberlehrling -Szenario" im Besondren gleichfalls nicht mehr nur als ornamentaler Redeschmuck gilt , den man beiläufig verwendet. Nur damit das, was man zu sagen hat, nur schöner klingt und man die "Dichterische Vernunft" ,auch beiseitelassen könnte, sofern es um die Wahrheit geht.

Es erscheint die Sphinx des Mythos, vor der Ödipus einst stand, vor ihr, vor ihrer Frage, die er so wissend beantwortete, aber ohne zu begreifen, daß seine Antwort ihm nichts half, daß sein Wissen sich lediglich auf Allgemeinenes bezog -, "der Mensch" sagte er, wie man weiß -, es aber darum ging, Wissen von sich zu haben, von sich selbst, Im Verborgenen seines Wesens. Und so blieb er sich verborgen, bis er sich ohne jeden Rückhalt und Schutz in voller Blöße enthüllt sah. Und er war kaum geboren, kaum erwacht. Die Wahrheit gibt sich nur dem, ohne Angst und mit Angst zugleich, mit Angst immer, der mit klopfendem Herzen und wehrlos vor ihr ist, "alle Wissenschaft weit hinter sich". Und wenn er so wieder mit ihr zusammentrifft, hat er keine Angst mehr, denn er steht nicht vor ihr, er geht mit ihr und folgt ihr, folgt der Wahrheit und genau das verlangt sie.

Maria Zambrano /Waldlichtungen /Die anwesende Wahrheit




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Jörn Budesheim
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Di 13. Sep 2022, 20:05

Ich möchte mal mit ein paar Gegensatzpaaren ein Feld aufspannen, in dem Vernunft und poetische Vernunft von “entgegengesetzten” Polen aus ihr gemeinschaftliches Spiel aufziehen könnten. Das ganze wird ziemlich holzschnitzartig.

Hinsehen und Absehen

Unsere Fähigkeit zur theoretischen Abstraktion nennt man traditionell Vernunft. Abstraktion nennt man auch “Absehen”. Hinsehen wäre dann das Gegenstück der poetischen Vernunft.


Grund und Abgrund

Vernunft nennt man auch die Fähigkeit, sich an Gründen zu orientieren. Die poetische Vernunft öffnet die Abgründe und hält uns sensibel dafür.


Wissen und Nichtwissen

Die Vernunft verspricht uns Wissen. Die Dichterin singt, “ich weiß nicht was soll es bedeuten” - je ne sais quois.


Aufklären und Verklären

Die Vernunft ist das Werkzeug der Selbstaufklärung. Die Poesie schafft es, die Dinge wieder zu verklären, damit wir ihren Wert nicht vergessen.


Lösung und Rätsel

Die Vernunft hilft uns, die größten Rätsel zu lösen. Die poetische Vernunft ist unser Sinn für das Rätselhafte und Offene.




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AufDerSonne
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Mi 14. Sep 2022, 10:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 13. Sep 2022, 20:05
Unsere Fähigkeit zur theoretischen Abstraktion nennt man traditionell Vernunft. Abstraktion nennt man auch “Absehen”. Hinsehen wäre dann das Gegenstück der poetischen Vernunft.




Aufklären und Verklären

Die Vernunft ist das Werkzeug der Selbstaufklärung. Die Poesie schafft es, die Dinge wieder zu verklären, damit wir ihren Wert nicht vergessen.


Lösung und Rätsel

Die Vernunft hilft uns, die größten Rätsel zu lösen. Die poetische Vernunft ist unser Sinn für das Rätselhafte und Offene.
"Absehen" kannte ich gar nicht. Also das Wort. Auch "Verklären" ist mir nicht so bekannt. Aber deine Hinweise geben eine gute Vorstellung von poetischer Vernunft.
Ich meine, Poesie arbeitet ja stark mit "Bildern". Auch mit unserer Intuition. Manchmal mit einem überraschenden Element. Ja, ein Gedicht ist etwas schönes.
Ich habe einmal in der Schule "die Bürgschaft" auswendig gelernt und vor der Klasse vorgetragen.

“Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blutge Tyrann sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.“ (Wikipedia)

(Möros überlässt ja seinen besten Freund dem Tyrannen als Bürge.)

Und am Schluss sagt dann der Tyrann zu Möros:
"Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte."

So schön!



Ohne Gehirn kein Geist!

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Jörn Budesheim
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Mi 14. Sep 2022, 11:22

AufDerSonne hat geschrieben :
Mi 14. Sep 2022, 10:37
Aber deine Hinweise geben eine gute Vorstellung von poetischer Vernunft
Natürlich ist es eher unwahrscheinlich, dass diese "Hinweise" etwas mit dem Gedanken von María Zambrano zu tun haben.




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AndreaH
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Fr 16. Sep 2022, 13:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 14. Sep 2022, 11:22
AufDerSonne hat geschrieben :
Mi 14. Sep 2022, 10:37
Aber deine Hinweise geben eine gute Vorstellung von poetischer Vernunft
Natürlich ist es eher unwahrscheinlich, dass diese "Hinweise" etwas mit dem Gedanken von María Zambrano zu tun haben.
Ich finde den Gedanken mit den Gegensatz paaren sehr spannend. Interessant wie man diese inneinanderfallen lassen kann und sich daraus ein völlig anderer Blickwinkel eröffnet.




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Quk
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Mi 2. Aug 2023, 12:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 4. Sep 2022, 19:46
Ich habe mich heute den ganzen Tag der poetischen Vernunft gewidmet. Im Moment ist für mich Poesie eigentlich die Überschrift für Kunst schlechthin.
Diesem schönen Satz stimme ich vollkommen zu. Und der vielleicht ursprünglich synonym zu "derzeit" gemeinte Satzanfang "im Moment" bedeutet für mich dabei nicht nur "im Moment, als ich diesen Kommentar schreibe", sondern tatsächlich: "Poesie ist die Überschrift für den Kunst-Moment schlechthin", oder "Poesie ist in ihrem Moment die Überschrift für Kunst schlechthin". Ich denke also nicht nur an den Kontext von Poesie, Überschrift, Kunst -- sondern: Moment, Poesie, Überschrift, Kunst. -- Kurz: Die Spontaneität des Moments. -- Lang: Der Aspekt der Zweckfreiheit aufgrund der künstlerischen, kreativen Planlosigkeit.

Deine vier Steinbilder, Jörn, die nach Deinem Satz folgen, sprechen mich auch sehr an, stilistisch und inhaltlich.

_____________________________________________________________________________________________
An der Stelle möchte ich noch kurz was forentechnisches sagen:
Es gibt hier diesen "Gefällt mir"-Knopf wie auf Youtube. Ich finde den Gebrauch dieses Knopfes in Ordnung. Aber ich persönliche möchte ich ihn grundsätzlich nie anklicken, weil ich dermaßen viele Sachen hier gut finde, vor allem Jörns Beiträge, dass ich stundenlang mit Knopfdrücken beschäftigt wäre. Und wenn ich das einmal angefangen hätte, so könnten alle anderen Beiträge, bei denen ich das Knopfdrücken vergaß, als von mir missfällig oder gleichgültig eingeschätzt werden -- fälschlicherweise. Anders gesagt: Wenn ich das Knopfdrücken anfinge, dann müsste ich das auch konsequent durchführen, um die Fairness zu bewahren. Für diese Gründlichkeit bin ich zu faul :-) Dennoch verstehe ich natürlich schon, dass auch diejenigen, die den Knopf regelmäßig benutzen, manche Beiträge trotzdem gut finden, obwohl sie sie nicht geklickt hatten.




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Jörn Budesheim
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Sa 5. Aug 2023, 07:55

Quk hat geschrieben :
Mi 2. Aug 2023, 12:04
Und der vielleicht ursprünglich synonym zu "derzeit" gemeinte Satzanfang "im Moment" bedeutet für mich dabei nicht nur "im Moment, als ich diesen Kommentar schreibe", sondern tatsächlich: "Poesie ist die Überschrift für den Kunst-Moment schlechthin", oder "Poesie ist in ihrem Moment die Überschrift für Kunst schlechthin"
Diese Doppeldeutigkeit von "im Moment" ist mir gar nicht aufgefallen, aber deine Interpretation ist natürlich wunderbar und ich bin absolut damit einverstanden. Bei diesen Zeichnungen stimmt es besonders, weil der Moment wirklich sehr eigen war, ich habe später versucht, das zu wiederholen, es ist nicht gelungen.

(Vielleicht ist diese besondere Form der Borniertheit eine anthropologische Konstante, dass man nämlich versucht, Momente, von denen man weiß, dass sie unwiederholbar sind, dennoch zu wiederholen.)




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Jörn Budesheim
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Sa 5. Aug 2023, 08:22

Ich habe diesen Thread jetzt noch einmal überflogen, ich finde vieles in ihn im Nachhinein sehr lesenswert. ("Einen Faden überfliegen" ist eine Metapher, die es verdient hätte, in die Darmok-Folge aufgenommen zu werden.)




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Sa 5. Aug 2023, 08:49

Quk hat geschrieben :
Mi 2. Aug 2023, 12:04
Der Aspekt der Zweckfreiheit aufgrund der künstlerischen, kreativen Planlosigkeit.
Nauplios, https://bibliotheksturm.wordpress.com/2022/09/10/unbegrifflichkeit/ hat geschrieben : Der diskursiven Funktion der Sprache ist ihre expressive zur Seite zu stellen, nicht als Gegenmodell und nicht in einer hierarchischen Anordung als defizient und abkünftig, sondern als Aufweis einer Normierung, welche den Ausdruckscharakter der Sprache bewußt macht, neben ihrer medialen Funktion für die Kommunikation. Die moderne Dichtung hat sich dem Postulat der Eindeutigkeit und Verständlichkeit am meisten widersetzt; sie schafft über die Ambiguität ihrer Expressionen eine andere Sprachwirklichkeit durch Steigerung ihrer Vieldeutigkeit.
Nauplios hat in seinem Blog einige Aspekte dieses Fadens weitergeführt. Ich zitiere diesen Absatz, weil mir das Moment der Vieldeutigkeit besonders wichtig erscheint. Die Vieldeutigkeit, wenn sie nicht zur Beliebigkeit wird, macht für mich einen großen Teil der Schönheit der Poesie aus, und sie harmoniert meines Erachtens wunderbar mit der Vieldeutigkeit der Wirklichkeit selbst.




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Sa 5. Aug 2023, 09:05

Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. (Albert Einstein zugeschrieben)
Dieses Zitat, was AndreaH, die Starterin des Fadens, auf ihrem Blog gepostet hat, passt auch sehr gut hierher.




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Quk
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Sa 5. Aug 2023, 15:02

Ja, die Zitate passen alle zusammen, habe ich den Eindruck, und sie streifen auch den Themenbereich "Komplexität & Leben", der zur Zeit in mehreren Fäden hier mitschwingt. Das Geheimnisvolle und die Vieldeutigkeit -- im Kunstausdruck -- halte ich für ein ebenso lebendiges, komplexes System wie das Leben selbst. Teilweise intuitiv verbunden und teilweise unvorhersehbar. Ironischerweise hatte Einstein zuerst geglaubt, im Universum gäbe es keine Zufälle ...




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Jörn Budesheim
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So 6. Aug 2023, 08:10

Bei der Suche nach dem Ausdruck "poetische Vernunft" bin ich auf folgendes Buch gestoßen:

Bodrožić: Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe

"Die gusseisernen Begriffe unserer Zeit, die sich so sehr auf der Seite des Guten wähnen, aber gar nicht mehr empfunden werden, zerstören das Gleichgewicht der Wahrheit und schicken Frequenzen der Störung aus, die sich etwa dann zeigen, wenn beispielsweise immerfort von Gleichberechtigung oder Solidarität gesprochen wird, ohne dass diese je eingelöst würden. Das entleerte Wort wird mit jeder Wiederholung nur noch leerer ins Gedächtnis eingepflanzt, bis es gänzlich in die Lüge kippt. Wer sich dieser gusseisernen Gesinnung der Leere hingibt, ohne selbst zu denken, stützt die Sprache der Lüge. Er sieht nicht mehr nach echter Sprache suchend in sich selbst hinein, sondern ertaubt mit der Zeit an der entleerten Wiederholung. Die Integrität der eigenen Wahrnehmung kann ihn dann auch nicht mehr stützen. Von einer solchen Verfasstheit regelrecht im Innen eingezäunt, ist keinerlei Aufbegehren mehr möglich – auch in sich selbst nicht. (Text: Matthes & Seitz Verlag)“

-----------

Und hier habe ich eine Rezension in einem Blog dazu gefunden, die erfreulicherweise relativ viele Zitate aus dem Buch enthält, so dass man sich vielleicht ein ganz gutes Bild machen kann:

"Bodrozic prägt zur Bestimmung des Problems die Formulierung der „gusseisernern Begriffe unserer Zeit, die sich so sehr auf der Seite des Guten wähnen, aber gar nicht mehr empfunden werden“. Die von aller lebendigen Erfahrung abgeschnittenen Begriffe, eben darin gusseisern, verselbständigt gegenüber den Menschen, „unterwandern das Gleichgewicht der Wahrheit“. Als technisches Mittel wird die Sprache zum „entleerten Wort“, das zuletzt notwendig in die Lüge kippt, nämlich dann, wenn die funktionalisierte Sprache Worte beliebig anwenden kann – wer vertraut schon noch dem Gerede von der Gerechtigkeit?"

https://nilpferdkoenige.wordpress.com/2 ... -vernunft/

-----------

Ob der Verlagsseite finden sich aus Rezensionen drei Zitate:

»Ja, diese Essays sind eine wirkliche Grundlagen-›Schrift‹, die als philosophische Thesenschrift, in dieser renommierten Reihe exzellent platziert, rezipiert werden sollte, in aller Breite und deshalb zur Lektüre dringend empfohlen werden soll, gerade in Zeiten, in denen der Appell an die Vernunft nicht einen gusseisernen Begriff meint, sondern eine genau gefühlte Verantwortung jedes/jeder Einzelnen für die Pluralität des Wir, auf der Basis eines Sprache, die Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit klar benennt.«
– Maria Behre, literaturkritik.de

»Bodrožić will den Menschen nicht noch mehr nehmen, sondern ihnen, denen äußerlich schon so viel genommen wird, innerlich ein Kraftzentrum zurückgeben.«
– Christian Lamp, Nilpferdkönige

»In ihrem Bestreben, ›blickmündig‹ (S. 18) zu werden, entwickelt Bodrožić gewissermaßen einen Schicksalsblick, der immer offen bleibt und so die innige Verbundenheit des Selbstes mit der Welt in Erscheinung treten lässt, ohne in eine Opferrolle zu verfallen.«
– Stephan Stockmar, DieDrei




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Jörn Budesheim
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So 6. Aug 2023, 09:05

“Die poetische Vernunft des Einzelnen [vermutlich im Unterschied zur gusseisernen Vernunft] ist fließend, offen und bleibt sich als einer Bewegung der inneren Wahrheit treu."

"So ist für Bodrožić der Körper 'der Übermittler unserer ursprünglichen Poesie, die noch das letzte leuchtende Überbleibsel aus einem inneren Paradies ist, das wir der Welt verkauft haben'"

Aus dem Wenigen, was ich dazu gelesen habe, jetzt eine "Definition" zu machen, ist natürlich gewagt und scheint auch dem Sinn des Begriffs zu widersprechen, der auf das Fließende, Offene und die innere Bewegung zu setzen scheint. Dennoch: Die poetische Vernunft ist die lebendige (verkörperte) Vernunft, die sich noch von den Erscheinungen ansprechen lässt und nicht erstarrt ist.




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Quk
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So 6. Aug 2023, 11:15

Marica Bodrožić -- kannte ich bisher nicht. Interessante Entdeckung.

Wenn wir gusseiserne Begriffe wie beispielsweise "Solidarität" nicht mehr empfinden, aber wieder empfinden wollen, was sollten wir dann tun? Sollten wir dann nach neuen Wörtern für das selbe Abgestumpfte suchen -- oder die alten Wörter behalten und lieber die vermissten Tatsachen wiederbeleben?




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Stefanie
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So 6. Aug 2023, 19:19

Was ist denn gemeint mit gusseisern?

In einer der Quellen, die Jörn zitiert hat (https://nilpferdkoenige.wordpress.com/2) steht folgender Satz:
"Die von aller lebendigen Erfahrung abgeschnittenen Begriffe, eben darin gusseisern, verselbständigt gegenüber den Menschen, (...)
Von mir markiert.

Wäre dann Vernunft etwas, was nicht lebendig erfahren werden kann, oder wie ist das gemeint? Ebenso Solidarität.



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Quk
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Mo 7. Aug 2023, 09:40

Ich verstehe es so:

Beispiel. "Sehr geehrte Damen und Herren". Man schreibt und liest das Wort "geehrt", aber beim Lesen dieses Wortes fühlt man sich nicht geehrt, und beim Schreiben meint man es auch nicht wirklich so. Der Begriff lebt nicht mehr. Durch die ewige Wiederholung hat sich der Begriff verfestigt; er hat sich verwandelt zu einem abstrakten, kalten, harten Stück Gusseisen.

Vernunft? Hmm, wie kommst Du auf Vernunft in diesem Kontext? Ich würde sagen, Vernunft an sich kann man nicht mit den Sinnen erfahren (in der Philosophie bedeutet Erfahrung meist Sinneserfahrung). Vernunft kann man nicht sehen, nicht riechen, nicht hören. Aber, im Kontext von Vernunft, kann man durchaus jenes Sinnliche erfahren, welches durch vernünftiges Handeln zu etwas sinnlichem geführt hat. Um Zwiebeln zu rösten, ist es vernünftig, sie kleingehackt auf eine heiße Pfanne zu legen. Wenn ich den Duft des Röstens rieche, könnte ich poetisch sagen, ich erfahre jene Vernunft, welche zu diesem Duft geführt hat. Die Vernunft selbst erfahre ich aber nicht wirklich.




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Jörn Budesheim
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Mo 7. Aug 2023, 10:00

Quk hat geschrieben :
So 6. Aug 2023, 11:15
Wenn wir gusseiserne Begriffe wie beispielsweise "Solidarität" nicht mehr empfinden, aber wieder empfinden wollen, was sollten wir dann tun? Sollten wir dann nach neuen Wörtern für das selbe Abgestumpfte suchen -- oder die alten Wörter behalten und lieber die vermissten Tatsachen wiederbeleben?
Wie wäre es mit einer weiteren Option: Neuer poetischer Ausdruck, um damit (neben anderem) die vermissten Tatsachen wiederzubeleben? Dein Beispiel mit den "Sehr geehrte Damen und Herren" ist sehr anschaulich. Hier könnte man nach einem anderen Ausdruck Ausschau halten, der die eigene Wertschätzung des Publikums wirklich zeigt.




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Quk
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Mo 7. Aug 2023, 10:19

Das meinte ich auch mit "neuen Wörtern". Also nicht "geehrt" umformen in "frögldübl" oder so, sondern aus dem gegebenen Wortschatz neue Phrasen zusammenbauen.

Ich schreibe übrigens genau aus dem Grund seit Ewigkeiten nicht mehr "sehr geehrte ..." -- es sei denn, ich möchte absichtlich Kälte ausdrücken. Selbst ans Finanzamt, wo liebe Menschen arbeiten, schreibe ich gerade aus diesem menschlichen Grund kein "sehr geehrte ..." mehr, sondern je nach Laune mal "liebe Finanzfachleute" oder "Schönen guten Tag, liebe Fachleute" ...




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Stefanie
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Mo 7. Aug 2023, 12:51

Quk:
Beispiel. "Sehr geehrte Damen und Herren". Man schreibt und liest das Wort "geehrt", aber beim Lesen dieses Wortes fühlt man sich nicht geehrt, und beim Schreiben meint man es auch nicht wirklich so. Der Begriff lebt nicht mehr. Durch die ewige Wiederholung hat sich der Begriff verfestigt; er hat sich verwandelt zu einem abstrakten, kalten, harten Stück Gusseisen.
O.k. Im Grundsatz verstanden.
Wieso ich nach Vernunft fragte, na das Thema ist doch auch "Poetische Vernunft".

Zu dem Beispiel mit der Anrede "Sehr geehrte ..."
Eine anderen, neuen poetischen Ausdruck dafür zu finden, ist nicht leicht und geht auch oft nach hinten los.
Meine alte Sparkasse/Bank hatte letztes Jahr die Zustimmung zur Erhöhung der Kontogebühren eingefordert, gab es Serienbriefe mit der Anrede Liebe Frau/Herr ... Als ich dieses Schreiben das dritte mal erhalten hatte, obwohl ich gekündigt hatte, ist mir diese Anrede "Liebe" endgültig übel aufgestoßen.
Ich käme niemals auf die Idee im Kontakt mit Behörden jedweder Art in einem offiziellen Schriftverkehr die Anrede "Liebe" zu verwenden, oder "Hallo". Auch wenn die Menschen durchaus nett sein können. Eine Anrede muss zur Situation passen und in den Kontext.
Mit der Anrede "Sehr geehrte Damen und Herren, oder auch in der alleinigen Anrede Sehr geehrte" wird zum eine Distanz geschaffen, aber zum anderen trotzdem immer noch anerkannt, in welcher Position jemand ist und zeigt damit an, dass man diese Position achtet, durchaus auch die Person auch schätzt und trotzdem kann man mit den Inhalten, um dies es geht, nicht einverstanden sein.
Die Anrede "Liebe" oder das "Hallo" ist distanzloser. Im beruflichen Kontext nur intern oder in bestimmten sozialen Situationen. Ich käme nie auf die Idee, eine Mensch in einer Behörde mit "Liebe Frau....oder so was in einem offiziellen Anschreiben anzureden. In Mails, wenn man sich schon kennt "Hallo". Aber in gute alter Papierform nein.
Kurz und gut, wenn es schon bei einer Anrede schwierig wird, neue poetische Ausdruck zu finden, wie denn dann bei solchen Begriffen wie Solidarität ?
Wie diese wiederbeleben?
Ändert sich was im empfinden, wenn man alles was Solidarität ausmacht ein neues sprachliches Kleid anzieht? Liegt es nicht daran, dass unter Solidarität was anderes "verstanden" wird, als es im vorherigen Jahrhundert der Fall war? Also nicht doch besser die vermissten Tatsachen wiederbeleben?



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Jörn Budesheim
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Mo 7. Aug 2023, 13:35

Stefanie hat geschrieben :
Mo 7. Aug 2023, 12:51
Ändert sich was im empfinden, wenn man alles was Solidarität ausmacht ein neues sprachliches Kleid anzieht?
Ja, es ist möglich, tote Begriff wiederzubeleben, da bin ich mir sicher, in welcher Weise auch immer. Die Begriffe haben sicher einen Einfluss auf das, was wir fühlen. Aber es ist natürlich kein Automatismus, es ist nicht sicher, dass es bei jedem Versuch klappt.




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