Erscheinung und Wirklichkeit

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Lucian Wing
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Di 8. Nov 2022, 08:36

Timberlake hat geschrieben :
Mo 7. Nov 2022, 23:39


.. würdest du denn sagen, dass nach dem , was die Hirnforschung zur Kaufentscheidung festgestellt hat , man tatsächlich noch Herr im Hause ist, um es mit den Worten Freud , zur " psychologische Kränkung" zu formulieren?
Ich glaube die Erkenntnis, dass Menschen sich Illusionen machen über sich und ihre Gründe, war schon zu Freuds Zeiten nicht mehr ganz neu. Von Taoisten über Buddhisten in fernen Ländern bis zu Nietzsche in Europa haben sich schon viele Gedanken darüber gemacht. Ich muss dir, dem Nietzscheaner, ja nicht erklären, dass Freud immer wieder "beschuldigt" wurde, viel mehr Nietzsche gelesen zu haben als er zugab. Wobei ich vergangangenes Jahr mal ein Buch las, das dem nachgegangen ist und Freud da verteidigt hat, weil sich da keine wirklichen Nachweise finden lassen.

Mir geht es nur um den Hinweis, dass die Freud'sche Kränkung ein bestimmtes Bild vom Ich und vom Menschen voraussetzt. Freud hat sicher Verdienste, er hat tief in die Seele seiner wohlständigen, von den schnöden Butter-und-Brot-Lasten befreiten Bürgerschicht geschaut, die Zeit und Muße und Langeweile genug hatte, sich mit nichts als mit sich selbst beschäftigen zu können. Weil vielen von uns das auch so geht, sieht er vielleicht größer und wichtiger aus, als er ist. Die Psychoanalyse ist dort verbreitet, wo die Großstadtneurotiker Woody Allens den Ton angeben. Ich glaube, im Psychologiestudium ist er nicht der Übervater der Disziplin. Mir scheint, er ist mehr Kulturtheoretiker als Wissenschaftler.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Nauplios
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Di 8. Nov 2022, 14:38

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 7. Nov 2022, 20:42

Weisst du Nauplios. Die Geschichte zu der Zeit kenne ich zu wenig. Ich bin geschichtlich nicht auf dem Laufenden, also was da alles passiert ist im Jahr 1600.
Ich denke darüber so, AufDerSonne:

Wir (zum Beispiel hier im Forum, aber auch anderswo) haben ein Grundverständnis der Philosophie, das sich stark an der Systematik des Fachs orientiert. Wir unterscheiden gewisse "Disziplinen" wie etwa die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, die Ethik, die Ästhetik ... oder unterscheiden eine theoretische und eine praktische Philosophie ... und haben bei diesen Unterscheidungen den Eindruck, bei der Philosophie handle es sich um eine Art Arbeitsfeld, das von den Philosophen bestellt wird und auf dem sich die Veränderungen und Fortschritte nach einer festen Chronologie ereignen: der Philosoph xy sah das Problem z zur Zeit t so und so und schlug die und die Lösung vor; hundert Jahre später kam der Philosoph x'y' und seine Lösung für das Problem war so und so; und heute sehen die meisten Philosophen wiederum so und so.

Die Geschichte wird dabei immer vom Heute her gedacht, die notwendigerweise auf uns zuläuft und von daher lediglich eine "Vorgeschichte" ist, für die sich die Archivare des Fachs interessieren, die aber selbst nur als das, was ja schon gelaufen ist, was vorbei ist, was in diesem Sinne eben "Geschichte" ist, tempi passati, in den Blick kommt. - Blumenberg nannte diese Sichtweise eine "temporale Nostrozentrik", eine "Wir-Zentriertheit in der Zeit". Alles Vergangene reiht sich Punkt für Punkt wie bei einer Perlenkette aneinander und man erhält dann einen fest umrissenen Zeitstrahl und das letzte Glied in dieser Kette sind halt wir.

Was eine solche Betrachtungsweise außer acht läßt sind die Abzweigungen, welche die Geschichte auch hätte nehmen können, wenn auch nicht genommen hat. Geschichte ist ja immer auch die Geschichte von Möglichkeiten. Man bekommt nicht das ganze Bild, wenn man diese anderen Möglichkeiten des realen Verlaufs der Geschichte nicht mitbedenkt; man hat dann nur verschiedene Stadien und ein Telos, das in der Zukunft liegt. Der Blick auf Sprünge und Ungleichzeitigkeiten wird dadurch verstellt. Der Historiker Reinhart Koselleck hat dazu einiges geschrieben.




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Nauplios
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Di 8. Nov 2022, 15:02

Deswegen prädiere ich für eine historische Betrachtungsweise, aber nicht im Sinne eines plakativen "Historismus", der akribisch Fakten und Daten sammelt, sondern im Sinne einer Möglichkeitsgeschichte. Robert Musil schreibt vom Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn: "Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann." (Robert Musil; Der Mann ohne Eigenschaften)

Wenn man die Wirklichkeit als etwas versteht, was zu jedem Zeitpunkt auch anders möglich gewesen wäre und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat), dann kommt man zu einem Wirklichkeitsverständnis, das auf Kant zurückgeht: Wirklichkeit als eine Kategorie der Modalität, neben Möglichkeit und Notwendigkeit. -

Ein solches Verständnis der Wirklichkeit als Kategorie der Modalität ist etwas anderes als ein Verständnis, welches die Wirklichkeit als ein pures Sammelsurium von Tischen, Stühlen, Theaterstücken, Autos, Romanen, Gemälden, Symphonien und Verhütungsmittel betrachtet.




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Nauplios
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Di 8. Nov 2022, 15:27

Daß wir zu all diesen einzelnen Dingen erkenntnistheoretisch einen unverstellten und direkten Bezug (durch Tasten z.B.) haben, das mag sein; ich laß' das an dieser Stelle mal offen.

Die diametral entgegengesetzte Auffassung scheint diese zu sein:

"Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem metaphorisch." (Hans Blumenberg)

Aber ist das eigentlich ein Widerspruch? - Was Blumenberg meint, ist nicht, daß wir den Tisch nicht berühren können, daß wir ihn nur indirekt "haben" können, gar nur metaphorisch. Gemeint ist, daß die Wirklichkeit in ihrer Totalität das Unverfügbare ist, daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz nicht annähernd in seiner Hand glaubt. Der Mensch kann sich seine Wirklichkeit (immer verstanden als Totalität) nicht aussuchen. Es fragt ihn niemand, ob er im 16. Jahrhundert leben möchte oder im 21. Jahrhundert, ob er auf einer Insel in der Südhälfte der Erde geboren werden möchte, die in den nächsten Jahrzehnten vom Klimawandel zunichte gemacht wird oder in New York, ob er fürsorgliche Eltern hat oder gewalttätige ... Er wird einfach hineingeworfen und bekommt es so gesehen mit einer Wirklichkeit zu tun, über die er nicht verfügen kann, mit der er aber gleichwohl umzugehen hat, mit der er sich - um zu überleben - arrangieren muß. - Solche Arrangements leistet die Rhetorik (in einem sehr umfassenden Sinne), leisten Metaphern, Mythen, Erzählungen. -

Der Tisch in seiner ontologischen Wahrheit mag betastbar sein, doch muß der Umgang mit dieser Wahrheit auch belastbar sein.




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Nauplios
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Di 8. Nov 2022, 15:36

Man sieht an diesem Beispiel den Unterschied zwischen einer erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise, die es dann mit "Erscheinungen", "Dingen-an-sich" und ähnlichem zu tun hat und einer historischen Anthropologie, für die Konzepte wie Begriffsgeschichte, Hermeneutik, Lebenswelt u.ä. aufschlussreich sind.




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AufDerSonne
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Di 8. Nov 2022, 16:41

Nauplios hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 15:27
Er wird einfach hineingeworfen und bekommt es so gesehen mit einer Wirklichkeit zu tun, über die er nicht verfügen kann, mit der er aber gleichwohl umzugehen hat, mit der er sich - um zu überleben - arrangieren muß. - Solche Arrangements leistet die Rhetorik (in einem sehr umfassenden Sinne), leisten Metaphern, Mythen, Erzählungen. -

Der Tisch in seiner ontologischen Wahrheit mag betastbar sein, doch muß der Umgang mit dieser Wahrheit auch belastbar sein.
Das erinnert mich an irgendeinen Philosophien, aber mir kommt der Name nicht mehr in den Sinn.
Der hat glaube ich gesagt, dass Vernunft und alles schön und recht sei, dass man aber manchmal einfach zum Handeln gezwungen ist, aus der Situation heraus. Das dünkt mich ein sehr realistischer Ansatz. Und ein Vorwurf an alle Denker. Man kann nicht immer tagelang über ein Problem studieren, sonst kämen wir nirgendwo hin.

Auch dass die Welt aus Möglichkeiten besteht, dieser Idee bin ich gerade erst bei P. Bieri begegnet. Es gibt eben auch die Freiheit und nicht nur den Determinismus. Und Freiheit hat mit Möglichkeiten zu tun, die die Welt bietet.



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Lucian Wing
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Di 8. Nov 2022, 17:27

AufDerSonne hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 16:41
Und Freiheit hat mit Möglichkeiten zu tun, die die Welt bietet.
Freiheit, als Begriff, macht einfach keinen Sinn innerhalb der Physik. Wenn wir von Freiheit sprechen, dann haben wir es tatsächlich mit Möglichkeiten zu tun, die sich erstens aus unseren individullen Fähigkeiten ergeben und zweitens im Verhältnis zur Umwelt im soziokulturellen Kontext stehen.

Was du suchst, wirst du in den Erzählungen von Nauplios nicht finden. Nicht, weil die unzureichend, blöd oder akademisch wären, sondern weil sie dich existenziell nicht ansprechen. Sie beschäftigen sich mit anderen Dingen, als dir wichtig sind.

Mal ein Beispiel. Wir könnten über das Thema der Unruhe diskutieren. Darüber gibt es zwei kulturphilosophische Bücher von Ralf Konersmann, in denen er dem Begriff im historischen Kontext der Kultur nachgeht. Dir aber wäre das nicht wichtig, du würdest das individuelle psychologische Moment diskutieren wollen. Du interessierst dich für dich, nicht für die conditio humana. Deshalb sind für dich Philosophen wie Bieri nützlicher/wertvoller als Blumenberg. Mich wundert immer, dass du nicht die drei mittleren Bücher Nietzsches dauerliest. Die würden dir in deiner Sprunghaftigkeit (das ist keine abfällige Bemerkung!) so meine ich, unendlich viel mehr geben als die ganzen großen Systematiker von Platon oder Aristoteles bis Heidegger oder eben Blumenberg.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

ahasver
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Di 8. Nov 2022, 17:45

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:27
Freiheit, als Begriff, macht einfach keinen Sinn innerhalb der Physik.
Warum nicht?



"Ich kann mich auch irren und nichts ist so sicher, als dass alles auch ganz anders ist."

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AufDerSonne
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Di 8. Nov 2022, 17:55

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:27
Mich wundert immer, dass du nicht die drei mittleren Bücher Nietzsches dauerliest. Die würden dir in deiner Sprunghaftigkeit (das ist keine abfällige Bemerkung!) so meine ich, unendlich viel mehr geben als die ganzen großen Systematiker von Platon oder Aristoteles bis Heidegger oder eben Blumenberg.
Sprunghaftigkeit oder Schwarz-Weiß-Denken? Das Sprunghafte bei mir ist möglicherweise noch eine Folgeerscheinung der psychischen Probleme, die ich hatte. Ich kann nicht beim Thema bleiben.
Das Schwarz-Weiß-Denken liegt aber wohl mehr in meiner Natur.
Welches sind die drei mittleren Bücher von Nietzsche?



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Lucian Wing
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Di 8. Nov 2022, 18:00

ahasver hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:45
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:27
Freiheit, als Begriff, macht einfach keinen Sinn innerhalb der Physik.
Warum nicht?
Weil die Kugel keine Wahl hat, auf der schiefen Ebene nicht zu rollen.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Lucian Wing
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Di 8. Nov 2022, 18:01

AufDerSonne hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:55
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:27
Mich wundert immer, dass du nicht die drei mittleren Bücher Nietzsches dauerliest. Die würden dir in deiner Sprunghaftigkeit (das ist keine abfällige Bemerkung!) so meine ich, unendlich viel mehr geben als die ganzen großen Systematiker von Platon oder Aristoteles bis Heidegger oder eben Blumenberg.
Sprunghaftigkeit oder Schwarz-Weiß-Denken? Das Sprunghafte bei mir ist möglicherweise noch eine Folgeerscheinung der psychischen Probleme, die ich hatte. Ich kann nicht beim Thema bleiben.
Das Schwarz-Weiß-Denken liegt aber wohl mehr in meiner Natur.
Welches sind die drei mittleren Bücher von Nietzsche?
Die fröhliche Wissenschaft, Morgenröte, Menschliches-Allzumenschliches.



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AufDerSonne
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Di 8. Nov 2022, 18:03

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 18:01
Die fröhliche Wissenschaft, Morgenröte, Menschliches-Allzumenschliches.
Merci. Werde sie mir einmal anschauen.



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ahasver
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Di 8. Nov 2022, 18:32

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 18:00
ahasver hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:45
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:27
Freiheit, als Begriff, macht einfach keinen Sinn innerhalb der Physik.
Warum nicht?
Weil die Kugel keine Wahl hat, auf der schiefen Ebene nicht zu rollen.
Wenn du vom 5m Sprungbrett gesprungen bist, hast du auch keine Wahl mehr. Solange du noch oben stehst schon. Wenn wir eine ganz kleine Kugel ganz oben auf eine ganz große Kugel legen, hat -meiner Meinung nach- die kleine Kugel die Freiheit die Fallrichtung zu wählen.

Du hast, wenn du auf dem 5m Brett stehst nur deshalb die Freiheit zu springen oder nicht, weil dein Gehirn im Zusammenspiel mit deinem Leib und dem Rest des Kosmos physikalische (Quantentheorie) Freiheiten hat.

So gesehen hat der Begriff >Freiheit< seinen Ursprungsplatz in der Physik. Mein ich jedenfalls.



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Lucian Wing
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Di 8. Nov 2022, 19:35

ahasver hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 18:32
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 18:00
ahasver hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 17:45


Warum nicht?
Weil die Kugel keine Wahl hat, auf der schiefen Ebene nicht zu rollen.
Wenn du vom 5m Sprungbrett gesprungen bist, hast du auch keine Wahl mehr. Solange du noch oben stehst schon. Wenn wir eine ganz kleine Kugel ganz oben auf eine ganz große Kugel legen, hat -meiner Meinung nach- die kleine Kugel die Freiheit die Fallrichtung zu wählen.

Du hast, wenn du auf dem 5m Brett stehst nur deshalb die Freiheit zu springen oder nicht, weil dein Gehirn im Zusammenspiel mit deinem Leib und dem Rest des Kosmos physikalische (Quantentheorie) Freiheiten hat.

So gesehen hat der Begriff >Freiheit< seinen Ursprungsplatz in der Physik. Mein ich jedenfalls.
Nein, ich meine, Freiheit ist ein normativer und kein physikalischer Begriff. Freiheit im menschlichen Leben handelt nicht von Physik, sondern von Normen.

Wenn ich oben auf dem Brett stehe, habe ich Handlungsfreiheit. Wenn ich gesprungen bin, also zwischen Absprung und Eintauchen, nicht mehr.

Die Kugel wählt nicht. Ihre Fallrichtung hängt davon ab, wie wir sie legen, weil wir außerstande sind, sie so perfekt zu platzieren, dass überhaupt die frage aufkäme, ob sie "frei" wäre, in diese oder jene Richtung zu fallen. Es gibt keinen Akt des Platzierens, der das ermöglicht.



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ahasver
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Di 8. Nov 2022, 19:58

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 19:35
ahasver hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 18:32
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 18:00


Weil die Kugel keine Wahl hat, auf der schiefen Ebene nicht zu rollen.
Wenn du vom 5m Sprungbrett gesprungen bist, hast du auch keine Wahl mehr. Solange du noch oben stehst schon. Wenn wir eine ganz kleine Kugel ganz oben auf eine ganz große Kugel legen, hat -meiner Meinung nach- die kleine Kugel die Freiheit die Fallrichtung zu wählen.

Du hast, wenn du auf dem 5m Brett stehst nur deshalb die Freiheit zu springen oder nicht, weil dein Gehirn im Zusammenspiel mit deinem Leib und dem Rest des Kosmos physikalische (Quantentheorie) Freiheiten hat.

So gesehen hat der Begriff >Freiheit< seinen Ursprungsplatz in der Physik. Mein ich jedenfalls.
Nein, ich meine, Freiheit ist ein normativer und kein physikalischer Begriff. Freiheit im menschlichen Leben handelt nicht von Physik, sondern von Normen.

Wenn ich oben auf dem Brett stehe, habe ich Handlungsfreiheit. Wenn ich gesprungen bin, also zwischen Absprung und Eintauchen, nicht mehr.

Die Kugel wählt nicht. Ihre Fallrichtung hängt davon ab, wie wir sie legen, weil wir außerstande sind, sie so perfekt zu platzieren, dass überhaupt die frage aufkäme, ob sie "frei" wäre, in diese oder jene Richtung zu fallen. Es gibt keinen Akt des Platzierens, der das ermöglicht.
Das Leben erhält seinen Glanz erst von der Untätigkeit. (Byung-Chul Han)
In Untätigkeit liegt Freiheit. Und neuer Glanz liegt auf der Welt. (ahasver)



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Stefanie
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Di 8. Nov 2022, 20:06

Nauplios hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 15:02

Wenn man die Wirklichkeit als etwas versteht, was zu jedem Zeitpunkt auch anders möglich gewesen wäre und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat), dann kommt man zu einem Wirklichkeitsverständnis, das auf Kant zurückgeht: Wirklichkeit als eine Kategorie der Modalität, neben Möglichkeit und Notwendigkeit. -
Hmm, so ganz ist mir das nicht klar.
Hannibal hätte Rom angreifen können, als er vor den Toren stand. Er hatte diese Möglichkeit. Chamberlain hätte von seiner Appeasement-Politik abrücken können. Beides ist nicht passiert.
Ich hätte in Bielefeld studieren können, habe aber eine andere Möglichkeit gewählt.
Das sind alles Ereignisse die in der Vergangenheit liegen und nicht mehr umkehrbar sind. Was passiert wäre, wenn andere Möglichkeiten gewählt worden wären, ist nicht feststellbar. Das sind Spekulationen, was wäre passiert, wenn...
Wie kann man dann sagen, "und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat"?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Di 8. Nov 2022, 20:13

Stefanie hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 20:06
Das sind alles Ereignisse die in der Vergangenheit liegen und nicht mehr umkehrbar sind. Was passiert wäre, wenn andere Möglichkeiten gewählt worden wären, ist nicht feststellbar. Das sind Spekulationen, was wäre passiert, wenn...
Wie kann man dann sagen, "und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat"?
Ich kann mir das einfach so erklären, dass wir in der Gegenwart, zu diesem Zeitpunkt jetzt, eine gewisse Auswahl haben an möglichen Handlungen.
Das ist unsere Freiheit. Auch in der Vergangenheit hatten alle Menschen diese Auswahl. Aber selbstverständlich ist passiert, was passiert ist und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.



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Nauplios
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Di 8. Nov 2022, 21:13

Stefanie hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 20:06
Nauplios hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 15:02

Wenn man die Wirklichkeit als etwas versteht, was zu jedem Zeitpunkt auch anders möglich gewesen wäre und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat), dann kommt man zu einem Wirklichkeitsverständnis, das auf Kant zurückgeht: Wirklichkeit als eine Kategorie der Modalität, neben Möglichkeit und Notwendigkeit. -
Hmm, so ganz ist mir das nicht klar.
Hannibal hätte Rom angreifen können, als er vor den Toren stand. Er hatte diese Möglichkeit. Chamberlain hätte von seiner Appeasement-Politik abrücken können. Beides ist nicht passiert.
Ich hätte in Bielefeld studieren können, habe aber eine andere Möglichkeit gewählt.
Das sind alles Ereignisse die in der Vergangenheit liegen und nicht mehr umkehrbar sind. Was passiert wäre, wenn andere Möglichkeiten gewählt worden wären, ist nicht feststellbar. Das sind Spekulationen, was wäre passiert, wenn...
Wie kann man dann sagen, "und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat"?
Wenn man diesen Gedanken der Modalität (Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit) beim Wirklichkeitsverständnis zugrundelegt, dann baut sich ja ein Bezugssystem zwischen diesen drei Modalitäten auf:

Das Wirkliche ist auch anders möglich und das Wirkliche ist nicht notwendigerweise so wie es ist. Damit wird das Wirkliche anders bestimmt als wenn man es (beispielsweise) vom Nicht-Wirklichen unterscheidet. Im zweiten Fall hat man eine Klasse oder ein Feld von wirklichen Gegenständen und Sachverhalten und eine Klasse von nicht-wirklichen. Der Tisch ist wirklich - ob als Erscheinung oder Ding an sich - die gekreuzigte Schwiegermutter auf dem Maisfeld war eine Täuschung und in Wirklichkeit eine Vogelscheuche. Im Wachsfigurenkabinett wird bisweilen ein Prominenter zwischen die Wachsfiguren gesetzt, der dann durch eine plötzliche Bewegung für Erschrecken bei den Besuchern sorgt.

Im ersten Fall dagegen wird ein anderer Aspekt hervorgehoben: die Wirklichkeit wird hier nicht vom Nichtwirklichen beleuchtet, sondern von den anderen Möglichkeiten, die auch Wirklichkeiten hätten werden können. Die Wirklichkeit verliert damit etwas von ihrer Selbstverständlichkeit, weil sie immer als das Ergebnis einer Selektion aus anderen Möglichkeiten gedacht wird.

Eine heliozentrische Theorie gab es bereits in der griechischen Antike; "durchgesetzt" hat sie sich erst mit den Beobachtungen von Kopernikus, Kepler, Newton ... Warum an der Schwelle der frühen Neuzeit und nicht schon zweitausend Jahre vorher? - Weil es die Möglichkeit eines Kopernikus erst mit dem Ordnungsschwund des Spätmittelalters gab.

Daß man im Nachhinein nicht mehr in vergangene Wirklichkeiten eingreifen kann, ist natürlich klar. Aber vielleicht versteht man diese vergangene Wirklichkeiten besser (oder überhaupt erst), wenn man sie in den Horizont der damaligen Möglichkeiten stellt.

Ein rein lineares Geschichtsverständnis hingegen erfaßt diese Komplexität der Geschichte nicht, weil es im Grunde nur Daten und Fakten zur Verfügung hat: nachdem das geschehen war, geschah anschließend dies und jenes und danach dies und das ...




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Nauplios
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Di 8. Nov 2022, 22:12

Jörn hatte gestern auf den Begriff des Phänomens hingewiesen, den Heidegger in Sein und Zeit erläutert als das "Sich-an-ihm-selbst-Zeigende".

φαινόμενον ist das mediale Partizip von φαίνομαι = sich zeigen. Darin steckt φῶς = das Licht. Die Wahrheit dessen, was sich von sich aus zeigt, ist an ihm selbst sichtbar, "steht in der Helle" (Heidegger), steht im taghellen Lichte.

Ganz anders Bacon am Beginn der frühen Neuzeit. Hier wird die Wahrheit der Natur abgerungen. Von sich aus kommt die Wahrheit nicht ans Licht. Sie muß mit List enthüllt werden.

Schon an diesem kleinen Beispiel der Metaphorik der Verhüllung/Enthüllung der Wahrheit, der "nackten", unverhüllten Wahrheit kann man die Bedeutungsverschiebung ermessen, die hier am Werke ist. Sicher, man spricht von der Wahrheit als einer Übereinstimmung (veritas est adaequatio ...), doch liegt ein bedeutender Unterschied darin, ob sich etwas sozusagen "freiwillig" zeigt, offenbart ... oder ob die Wahrheit das Ergebnis eines Ringens ist. - Hier setzt dann die Begriffsgeschichte ein, um solche historischen Bedeutungsverschiebungen herauszupräparieren.




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Lucian Wing
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Di 8. Nov 2022, 22:14

ahasver hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 19:58
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 19:35
ahasver hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 18:32


Wenn du vom 5m Sprungbrett gesprungen bist, hast du auch keine Wahl mehr. Solange du noch oben stehst schon. Wenn wir eine ganz kleine Kugel ganz oben auf eine ganz große Kugel legen, hat -meiner Meinung nach- die kleine Kugel die Freiheit die Fallrichtung zu wählen.

Du hast, wenn du auf dem 5m Brett stehst nur deshalb die Freiheit zu springen oder nicht, weil dein Gehirn im Zusammenspiel mit deinem Leib und dem Rest des Kosmos physikalische (Quantentheorie) Freiheiten hat.

So gesehen hat der Begriff >Freiheit< seinen Ursprungsplatz in der Physik. Mein ich jedenfalls.
Nein, ich meine, Freiheit ist ein normativer und kein physikalischer Begriff. Freiheit im menschlichen Leben handelt nicht von Physik, sondern von Normen.

Wenn ich oben auf dem Brett stehe, habe ich Handlungsfreiheit. Wenn ich gesprungen bin, also zwischen Absprung und Eintauchen, nicht mehr.

Die Kugel wählt nicht. Ihre Fallrichtung hängt davon ab, wie wir sie legen, weil wir außerstande sind, sie so perfekt zu platzieren, dass überhaupt die frage aufkäme, ob sie "frei" wäre, in diese oder jene Richtung zu fallen. Es gibt keinen Akt des Platzierens, der das ermöglicht.
Das Leben erhält seinen Glanz erst von der Untätigkeit. (Byung-Chul Han)
In Untätigkeit liegt Freiheit. Und neuer Glanz liegt auf der Welt. (ahasver)
Damit sind wir aber gaaaaanz weit weg von aller Physik.

Und Untätigkeit = Freiheit hat ebenfalls nichts mit Physik zu tun. Wir haben es bei Byung-Chul Han mit einer sozio-ästhetischen Aussage zu tun. Die Erfüllungsbedingung der Präposition wäre im Bereich der Wünsche zu suchen.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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