Stefanie hat geschrieben : ↑ Di 8. Nov 2022, 20:06
Nauplios hat geschrieben : ↑ Di 8. Nov 2022, 15:02
Wenn man die Wirklichkeit als etwas versteht, was zu jedem Zeitpunkt auch anders möglich gewesen wäre und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat), dann kommt man zu einem Wirklichkeitsverständnis, das auf Kant zurückgeht: Wirklichkeit als eine Kategorie der Modalität, neben Möglichkeit und Notwendigkeit. -
Hmm, so ganz ist mir das nicht klar.
Hannibal hätte Rom angreifen können, als er vor den Toren stand. Er hatte diese Möglichkeit. Chamberlain hätte von seiner Appeasement-Politik abrücken können. Beides ist nicht passiert.
Ich hätte in Bielefeld studieren können, habe aber eine andere Möglichkeit gewählt.
Das sind alles Ereignisse die in der Vergangenheit liegen und nicht mehr umkehrbar sind. Was passiert wäre, wenn andere Möglichkeiten gewählt worden wären, ist nicht feststellbar. Das sind Spekulationen, was wäre passiert, wenn...
Wie kann man dann sagen, "und so wie es gewesen ist, nicht notwendigerweise ist (und auch zu diesem Zeitpunkt anders möglich ist und keine Notwendigkeit hat"?
Wenn man diesen Gedanken der Modalität (Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit) beim Wirklichkeitsverständnis zugrundelegt, dann baut sich ja ein Bezugssystem zwischen diesen drei Modalitäten auf:
Das Wirkliche ist auch anders möglich und das Wirkliche ist nicht notwendigerweise so wie es ist. Damit wird das Wirkliche anders bestimmt als wenn man es (beispielsweise) vom Nicht-Wirklichen unterscheidet. Im zweiten Fall hat man eine Klasse oder ein Feld von wirklichen Gegenständen und Sachverhalten und eine Klasse von nicht-wirklichen. Der Tisch ist wirklich - ob als Erscheinung oder Ding an sich - die gekreuzigte Schwiegermutter auf dem Maisfeld war eine Täuschung und
in Wirklichkeit eine Vogelscheuche. Im Wachsfigurenkabinett wird bisweilen ein Prominenter zwischen die Wachsfiguren gesetzt, der dann durch eine plötzliche Bewegung für Erschrecken bei den Besuchern sorgt.
Im ersten Fall dagegen wird ein anderer Aspekt hervorgehoben: die Wirklichkeit wird hier nicht vom Nichtwirklichen beleuchtet, sondern von den anderen Möglichkeiten, die auch Wirklichkeiten hätten werden können. Die Wirklichkeit verliert damit etwas von ihrer Selbstverständlichkeit, weil sie immer als das Ergebnis einer Selektion aus anderen Möglichkeiten gedacht wird.
Eine heliozentrische Theorie gab es bereits in der griechischen Antike; "durchgesetzt" hat sie sich erst mit den Beobachtungen von Kopernikus, Kepler, Newton ... Warum an der Schwelle der frühen Neuzeit und nicht schon zweitausend Jahre vorher? - Weil es die
Möglichkeit eines Kopernikus erst mit dem Ordnungsschwund des Spätmittelalters gab.
Daß man im Nachhinein nicht mehr in vergangene Wirklichkeiten eingreifen kann, ist natürlich klar. Aber vielleicht versteht man diese vergangene Wirklichkeiten besser (oder überhaupt erst), wenn man sie in den Horizont der damaligen Möglichkeiten stellt.
Ein rein lineares Geschichtsverständnis hingegen erfaßt diese Komplexität der Geschichte nicht, weil es im Grunde nur Daten und Fakten zur Verfügung hat: nachdem das geschehen war, geschah anschließend dies und jenes und danach dies und das ...