Erscheinung und Wirklichkeit

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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AndreaH
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Fr 11. Nov 2022, 10:56

AufDerSonne hat geschrieben :
Do 10. Nov 2022, 09:42

Ich bin immer noch der Überzeugung, dass man in der Philosophie durch logisches und folgerichtiges Denken, zu überzeugenden Gedanken kommen kann.
Also Gedanken, von denen man sagen kann, so ist es tatsächlich. Nur erlebe ich das selten, auch hier im Forum.
Zum Beispiel gefällt mir Russell gut, bis ich dann gemerkt habe, dass es nicht klar ist, was er eigentlich mit Erscheinung meint.
Auch wieso wir nicht zu sicheren Erkenntnissen kommen könnten, ist mir bei ihm nicht klar.

"Gibt es auf dieser Welt eine Erkenntnis, die so unumstößlich gewiss ist, dass kein vernünftiger Mensch daran zweifeln kann?"
Ich finde, ja. Russell meint, das sei ein schwieriges Problem.
Was ist es denn, was dich so sicher macht, deine Meinung mit "Ja" zu verfestigen?
Also, wo findest du den Punkt, dass du davon überzeugt bist, dass es diese gewisse Erkenntnis gibt?




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Jörn Budesheim
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Fr 11. Nov 2022, 12:07

Lucian Wing hat geschrieben :
Do 10. Nov 2022, 13:02
... weil wir uns von der Totalität der Ereignisse entlasten wollen ...
Vielleicht ist es genau umgekehrt, das finde ich viel wahrscheinlicher. Wir wollen uns von der Überfülle von Sinn, die uns von jeder Seite her bedrängt, entlasten, indem wir uns einreden, dass in Wahrheit kein Ereignis irgendeinen Sinn hat.




ahasver
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Fr 11. Nov 2022, 12:59

Folgendes Modell hat ausgedient:
Uns gegenüber gibt es eine sinnfreie Welt an sich. Wir sind Teil dieser Welt. Im Laufe der Evolution entwickelten Lebewesen als Teil dieser sinnfreien Welt die Fähigkeit diese sinnfreie Welt wahrzunehmen. Und dabei verliehen sie ihr Sinn. Sie erfanden Sinn, den sie in ihre Wahrnehmungen hineindichteten.

Neues Modell (etwas schwachsinnig, da von mir):
Jenseits aller Realität, jenseits allen Seins schwebt (es gibt kein Verb für das was ich meine, auch schweben ist natürlich nicht das, was ich meine) POTENTIELLE INFORMATION. Görnitz nennt sie Protyposis (eindrücken, prägen). Diese potentielle Information kann faktisch, also real, werden und ist dann immer Bedeutung und Sinn. Sie zerfällt dann -unter bestimmter (westlicher) Betrachtung, in bestimmten (indogermanischen) Sprachen- in Subjekt und Objekt.
Unsere Welt, in der wir leben, ist durch und durch Sinn und Bedeutung - keine Materie. Materie ist ein Modell. Ein Modell, das ausgedient hat. Mein neues Modell ist nicht wahrer, es erlaubt uns nur unsere Gespräche auszuweiten, den Horizont zu erweitern, also ein wenig zu plaudern.

In Kürze: Sinn weltet als Welt



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Jörn Budesheim
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Fr 11. Nov 2022, 14:31

ahasver hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 12:59
Folgendes Modell hat ausgedient:
Uns gegenüber gibt es eine sinnfreie Welt an sich. Wir sind Teil dieser Welt. Im Laufe der Evolution entwickelten Lebewesen als Teil dieser sinnfreien Welt die Fähigkeit diese sinnfreie Welt wahrzunehmen. Und dabei verliehen sie ihr Sinn. Sie erfanden Sinn, den sie in ihre Wahrnehmungen hineindichteten.
Ich glaube auch, dass dieses ältere Modell ausgedient hat. Damit wird nämlich ein bestimmter - allerdings äußerst erfolgreicher - Ansatz übergeneralisiert - nämlich die sog. naturwissenschaftliche Sicht auf die Welt. Ist aber erst einmal das Leben und insbesondere natürlich der Mensch aus dem Bild getilgt, gelingt es bis heute nicht, beides in adäquater Weise wieder zu integrieren. Daher gibt es zunehmend Modelle, die Sinn, Information, Bewusstsein und anderes mehr als "unauslöschbaren" bzw irreduziblen Bestandteil der Wirklichkeit so wie sie an sich selbst ist, betrachten.




ahasver
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Fr 11. Nov 2022, 15:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 14:31
ahasver hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 12:59
Folgendes Modell hat ausgedient:
Uns gegenüber gibt es eine sinnfreie Welt an sich. Wir sind Teil dieser Welt. Im Laufe der Evolution entwickelten Lebewesen als Teil dieser sinnfreien Welt die Fähigkeit diese sinnfreie Welt wahrzunehmen. Und dabei verliehen sie ihr Sinn. Sie erfanden Sinn, den sie in ihre Wahrnehmungen hineindichteten.
Ich glaube auch, dass dieses ältere Modell ausgedient hat. Damit wird nämlich ein bestimmter - allerdings äußerst erfolgreicher - Ansatz übergeneralisiert - nämlich die sog. naturwissenschaftliche Sicht auf die Welt.
Es war, wenn auch äußerst erfolgreich, nur ein erster Ansatz, angestoßen durch Bacon, Descartes, Newton.....
Für diesen Erfolg werden wir aber auch einen sehr hohen Preis bezahlen.



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Nauplios
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Fr 11. Nov 2022, 15:51

ahasver hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 12:59

Folgendes Modell hat ausgedient:
Uns gegenüber gibt es eine sinnfreie Welt an sich. Wir sind Teil dieser Welt. Im Laufe der Evolution entwickelten Lebewesen als Teil dieser sinnfreien Welt die Fähigkeit diese sinnfreie Welt wahrzunehmen. Und dabei verliehen sie ihr Sinn. Sie erfanden Sinn, den sie in ihre Wahrnehmungen hineindichteten.

Neues Modell:

Unsere Welt, in der wir leben, ist durch und durch Sinn und Bedeutung - keine Materie.
Durch wen oder was sollen denn Sinn und Bedeutung in die Welt gekommen sein?

Wäre die Welt voller Sinn, wäre sie "durch und durch Sinn und Bedeutung", hätte alles einen Sinn, die Geschichte ebenso wie jedes Ereignis, jede Erkrankung, jeder Reichtum, jede Armut, jeder Krieg, jedes Schicksal. Alles hätte sein Warum und sein Wohin. In einer durch und durch mit Sinn erfüllten Welt wäre nichts mehr dem Zufall überlassen; alles hätte ja seine Sinnstelle, alles hätte Sinn und Bedeutung. Deshalb wünschten die Romantiker das Mittelalter zurück, weil hier alles Symbol und Zeichen war, alles die Signatur einer sinnhaften Welt hatte, geschaffen von einer gütigen Hand, die sich um den Sinnbedarf des Menschen kümmerte.

Will man auf theologischen Beistand jedoch nicht angewiesen sein, muß es eine andere Sinnschmiede geben, welche die Welt mit Sinn versorgt, vorab und ohne daß der Mensch an den Lieferketten der Sinnproduktion beteiligt ist, sonst könnte er den Sinn nicht vorfinden. -




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Jörn Budesheim
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Fr 11. Nov 2022, 16:22

Nauplios hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 15:51
Wäre die Welt voller Sinn, wäre sie "durch und durch Sinn und Bedeutung", hätte alles einen Sinn ...
Wenn die Welt durch und durch Sinn und Bedeutung wäre, müsste meines Erachtens nicht ALLES einen Sinn haben und auch nicht alles EINEN Sinn haben.

Und zudem müsste man vielleicht zwischen verschiedenen Bedeutungen des Wortes Sinn unterscheiden, um die Aussage sinnvoll einzuordnen, denke ich. "Sinn" z.b in der "Sinn eines Satzes" ist z.b meines Erachtens etwas verschieden von "Sinn", sowie im "Sinn des Lebens".

Ich denke, ahasver könnte da noch mal konkreter werden.




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AufDerSonne
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Fr 11. Nov 2022, 16:31

Nauplios hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 15:51
Durch wen oder was sollen denn Sinn und Bedeutung in die Welt gekommen sein?
"Die Umwelt übt Zwänge, Forderungen, Widerstände auf das Individuum aus und wirkt, sich ständig verändernd, auf die Sinnesorgane des Individuums ein. Andererseits wirkt das Individuum auf die Umwelt zurück und auf sie ein, indem es versucht, sie in seinem Sinne zu verändern." (Äquilibrationstheorie)

Ich denke, es ist dieses Wechselspiel, das uns den Sinn und die Bedeutung der Dinge spüren lässt.
Die Dinge haben nicht von sich aus einen Sinn, aber es ist auch falsch, dass wir den Dingen einen Sinn geben müssen.
Die ganze Sache ist doch dynamisch.
Vor allem meint man in den Diskussionen hier oft, es gäbe nur den ersten Vorgang. Eine Umwelt, die auf uns einwirkt.
Aber es gibt genauso den anderen. Wir, die auf die Umwelt einwirken. Also die Handlung, wenn man so will.

Ich denke sogar, die Handlung, also die Einwirkung von uns auf die Umwelt, ist wichtiger. Erst dadurch, dass wir handeln, bekommen viele Dinge Sinn.
Nur wenn wir handeln, machen wir Erfahrungen. Die Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, machen uns dann aus, sind unser Wert.



Ohne Gehirn kein Geist!

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Jörn Budesheim
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Fr 11. Nov 2022, 16:37

Ich für meinen Teil würde mich der Position von ahasver wohl eher nicht anschließen, sie ist mir zu metaphysisch. Das metaphysische Grundbedürfnis, zu glauben alles sei x (was auch immer für x eingesetzt wird, Materie, Geist, physikalische Felder, Informationen,...) teile ich nämlich gerade nicht.




ahasver
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Fr 11. Nov 2022, 18:26


Seit Ende der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts beobachten wir eine Renaissance der Metaphysik im Sinne des Projekts, alle unsere Erkenntnisse in einer kohärenten und vollständigen Sicht der Welt einschließlich unserer selbst zusammenzuführen. Für diese Renaissance gibt es im Wesentlichen drei Gründe. An erster Stelle ist die Überwindung der sprachanalytischen Tradition in der analytischen Philosophie zu nennen. Analytische Philosophie steht heute einfach für systematisches, argumentatives Philosophieren – kurz für das, was Philosophie seit Platon und Aristoteles ist. Nicht die Sprachphilosophie, sondern die Metaphysik ist heute wiederum die
prima philosophia
. Mit diesem Wandel geht zweitens die Überwindung des logischen Empirismus in der Wissenschaftsphilosophie einher. Die logische Analyse wissenschaftlicher Theorien hat in der heutigen Wissenschaftsphilosophie nur eine untergeordnete Bedeutung; im Zentrum steht vielmehr die Beurteilung dessen, was die wissenschaftlichen Theorien über die Welt aussagen. Schließlich werfen drittens die großen naturwissenschaftlichen Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts – die Relativitätstheorie, die Quantentheorie, die Molekularbiologie – eine Reihe von Fragen dahingehend auf, wie wir die Welt verstehen sollen, insofern sie von diesen Theorien beschrieben wird. Es ist Aufgabe der Philosophie, im Dialog mit den Naturwissenschaften Antworten auf diese Fragen zu suchen
Quelle: Michael Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, S. 7

Bei allem was ich schreibe bitte ich zu beachten, dass ich niemals Wahrheiten verkünden will. Lediglich: Tun wir mal so als ob und schaun wir wie weit wir damit kommen. In diesem Sinne gehe ich immer zuerst von einem Monismus aus. Im Occamschen Sinne der beste Ansatz.

Zum Thema Sinn:
Sinn so wie ich ihn verstehe, beantwortet keine Fragen, gibt dem Leben keinen Sinn, ist kein Synonym für das Wahre, Gute und Schöne. Sinn kann verstören und zerstören. Er liefert keine Erklärung für ein unverstandenes Leben. Auch der Ukrainekrieg ist in diesem Sinn ein sinnvolles Geschehen.
Ich sage lediglich: Alles was uns begegnet ist Sinn und Bedeutung.



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Lucian Wing
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Fr 11. Nov 2022, 18:32

ahasver hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 18:26

In diesem Sinne gehe ich immer zuerst von einem Monismus aus. Im Occamschen Sinne der beste Ansatz.
Dann bleibt es beim Projekt, den Subjektivismus in Form der Erste-Person-Perspektive (also jede Erfahrung) wegzurasiermessern und zur Rettung des Monismus Bewusstein wieder nur von "außen" her, also einer Dritte-Person-Perspektive beschreiben und verstehen zu wollen. Das wird wieder in die Hose gehen, prophezeie ich einmal.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Fr 11. Nov 2022, 19:50

Die Vielfalt der Wirklichkeit ist einfach zu offensichtlich. Mit dem fraglichen Messer soll man doch nur Dinge wegschneiden, die man in der Theorie nicht unbedingt braucht, einfach gesagt. Wenn jedoch die Realität tatsächlich plural verfasst ist, wovon ich ausgehe, dann ist es falsch, das Messer anzusetzen, nur um ein metaphysisches Bedürfnis nach Einfachheit zu stillen.




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AndreaH
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Fr 11. Nov 2022, 22:37

ahasver hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 18:26

Zum Thema Sinn:
Sinn so wie ich ihn verstehe, beantwortet keine Fragen, gibt dem Leben keinen Sinn, ist kein Synonym für das Wahre, Gute und Schöne. Sinn kann verstören und zerstören. Er liefert keine Erklärung für ein unverstandenes Leben. Auch der Ukrainekrieg ist in diesem Sinn ein sinnvolles Geschehen.
Ich sage lediglich: Alles was uns begegnet ist Sinn und Bedeutung.
Könnte man diesen Begriff "Sinn" , wie du ihn hier verstehst auch der gleichen Gewichtigkeit zuschreiben wie:
"Alles passiert im wirklichen Moment"
Dann hätte Alles in der Tiefe eine Richtigkeit, jedoch ohne eine Beurteilung.

Damit habe ich dann folglich eher die Richtung der Monadologie von Leibniz im Kopf oder bin ich damit von deinen Gedanken zu weit weg?




ahasver
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Sa 12. Nov 2022, 09:25

AndreaH hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 22:37
ahasver hat geschrieben :
Fr 11. Nov 2022, 18:26

Zum Thema Sinn:
Sinn so wie ich ihn verstehe, beantwortet keine Fragen, gibt dem Leben keinen Sinn, ist kein Synonym für das Wahre, Gute und Schöne. Sinn kann verstören und zerstören. Er liefert keine Erklärung für ein unverstandenes Leben. Auch der Ukrainekrieg ist in diesem Sinn ein sinnvolles Geschehen.
Ich sage lediglich: Alles was uns begegnet ist Sinn und Bedeutung.
Könnte man diesen Begriff "Sinn" , wie du ihn hier verstehst auch der gleichen Gewichtigkeit zuschreiben wie:
"Alles passiert im wirklichen Moment"
Dann hätte Alles in der Tiefe eine Richtigkeit, jedoch ohne eine Beurteilung.

Damit habe ich dann folglich eher die Richtung der Monadologie von Leibniz im Kopf oder bin ich damit von deinen Gedanken zu weit weg?
Guten Morgen AndreaH,
dein letzter, hier von mir zitierter Beitrag macht mich neugierig. Leider verstehe ich ihn gar nicht. Leibniz und speziell seine Monadologie bilde ich mir ein zu kennen. Dieses kleine Büchlein hat mein Denken stark beeinflußt, so daß es nicht unwahrscheinlich ist, daß auch meine Phantasien zum Thema Sinn Leibnizsche Anstöße transportieren.

Novalis fällt mir zum Thema >Sinn< ein. Ich versuche ihn aus dem Gedächtnis zu zitieren: "Die Welt ist eine Mitteilung...Die Welt ist das Produkt einer Geisterberührung." Oder so ähnlich. Eine Mitteilung enthält immer Sinn, manchmal Blödsinn. Siehe meine Beiträge :oops:



"Ich kann mich auch irren und nichts ist so sicher, als dass alles auch ganz anders ist."

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Lucian Wing
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Sa 12. Nov 2022, 09:46

Wenn die Welt "Mitteilung" ist, wäre die Wirklichkeit vollkommen in unserer Sprache vorhanden, also mit ihr identisch.
Woher kämen dann Irrtum und Lüge?



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Sa 12. Nov 2022, 09:50

Nachtrag:
Nauplios hat geschrieben :
Di 8. Nov 2022, 14:38
Erkenntnistheorie
...
Geschichte ist ja immer auch die Geschichte von Möglichkeiten
Erkenntnistheorie malt man sich oft (aber nicht immer) so aus, als müsse sie ahistorisch vorgehen. Dann hat sie zu klären, wie ein (allgemeines) Subjekt zum Objekt kommt, indem z.b. die Reize nach Regeln verarbeitet werden. Oft (aber nicht immer) werden dabei die Fantasie und der Möglichkeitsinn als Motor der Erkenntnis vernachlässigt. Was möglich ist, bzw was als möglich erachtet wird, ist oft (aber nicht immer) historisch variabel. Diese Einsicht führt leider allzu leicht zu gewissen Formen von Skeptizismus und Relativismus, so dass man schnell glaubt, jede (angebliche) Erkenntnis sei historisch "verfremdet".

Ich könnte mir im Gegensatz dazu vorstellen, das historisch gefärbte Fantasie und historisch gefärbter Möglichkeitsinn die Erkenntnisse schärfen. Die historische Fantasie und der historische Möglichkeitssinn trüben die Erkenntnis per se nicht ein, sondern sie bringen je verschiedene Dinge ans Licht (falls die Lichtmetapher hier passen sollte, denn auch das, was im Dunkeln bleibt oder im Nebel liegt, kann ggf einen Beitrag zum Wissen leisten). Manches zeigt sich eben nur manchen Zeiten.

Kurze Rede, kurzer Sinn: Erkenntnistheorie und historische Betrachtung gehören vielleicht enger zusammen, als man gemeinhin vermutet, oder?




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Jörn Budesheim
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Sa 12. Nov 2022, 09:50

Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 12. Nov 2022, 09:46
Wenn die Welt "Mitteilung" ist, wäre die Wirklichkeit vollkommen in unserer Sprache vorhanden, also mit ihr identisch.
Woher kämen dann Irrtum und Lüge?
Wieso? Mitteilungen können doch auch missverstanden werden, oder?




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Lucian Wing
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Sa 12. Nov 2022, 10:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 12. Nov 2022, 09:50
Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 12. Nov 2022, 09:46
Wenn die Welt "Mitteilung" ist, wäre die Wirklichkeit vollkommen in unserer Sprache vorhanden, also mit ihr identisch.
Woher kämen dann Irrtum und Lüge?
Wieso? Mitteilungen können doch auch missverstanden werden, oder?
Ja, daran habe ich auch gedacht. Aber was sind die Bedingungen, anhand derer wir dann wahr und falsch unterscheiden? Wenn die Welt Mitteilung ist, dann ist doch im Grunde gleichwertig, ob nun gesagt wird "Einhörner sind scheue Tiere" oder "Katzen fressen Mäuse". Ein Satz, der eine Überzeugung/Behauptung/Aussage ausdrückt, braucht unter der Prämisse, dass die Welt Mitteilung sei, aus meiner Sicht keinen Wahrheitswert mehr, sondern nur noch einen (funktionalen) Geltungswert. Dass Einhörner scheue Tiere sind, muss also geglaubt und weder erfahren noch bewiesen werden.



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Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 12. Nov 2022, 10:45
Wenn die Welt Mitteilung ist, dann ist doch im Grunde gleichwertig, ob nun gesagt wird "Einhörner sind scheue Tiere" oder "Katzen fressen Mäuse".
Ich finde nicht, dass der nötige Objektivitätskontrast eingezogen wird, wenn man glaubt, dass die Welt Mitteilung ist, man könnte nach wie vor unterscheiden zwischen dem, was wirklich gesagt wurde und dem, was man zu verstehen meinte. Das ist so ähnlich wie bei einer Übersetzung: sie kann richtig oder falsch sein. Wenn man also die Ansicht vertritt, dass alle Dinge ihre eigene Sprache haben, ist damit keineswegs von vornherein garantiert, dass wir diese Sprache korrekt entschlüsseln und verstehen.




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Lucian Wing
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 12. Nov 2022, 11:27
Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 12. Nov 2022, 10:45
Wenn die Welt Mitteilung ist, dann ist doch im Grunde gleichwertig, ob nun gesagt wird "Einhörner sind scheue Tiere" oder "Katzen fressen Mäuse".
Ich finde nicht, dass der nötige Objektivitätskontrast eingezogen wird, wenn man glaubt, dass die Welt Mitteilung ist, man könnte nach wie vor unterscheiden zwischen dem, was wirklich gesagt wurde und dem, was man zu verstehen meinte. Das ist so ähnlich wie bei einer Übersetzung: sie kann richtig oder falsch sein. Wenn man also die Ansicht vertritt, dass alle Dinge ihre eigene Sprache haben, ist damit keineswegs von vornherein garantiert, dass wir diese Sprache korrekt entschlüsseln und verstehen.
Es geht nicht nur um das, was wirklich gesagt wurde und was man zu verstehen meinte, es geht doch darum, wie man überprüfen könnte, ob das, was gesagt wurde über den Umstand des Gesagtwordenseins hinaus, wahr oder falsch ist. Heute muss einem Satz wie "Katzen fressen Mäuse" eine Tatsache entsprechen, damit er wahr ist. Wenn aber alles Mitteilung ist, fehlen mir Verfahren, um es herauszufinden.

Auch wenn ich in eine vermutlich andere Richtung gehe: Aber Nauplios hat oben schon in Sachen des Sinns zurecht auf die Disziplin der Theologie hingewiesen. Und im Übrigen hat Esfeld zumindest in dem genannten Buch noch vertreten, dass die Beschaffenheit der Welt festlege, welche wissenschftlichen Theorien wahr sind (die "semantische Behauptung"). Ich weiß aus früheren Diskussionen, dass ahasver gerne den Wahrheitsbegriff loswürde. Ich eben nicht.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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