Erscheinung und Wirklichkeit

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Jörn Budesheim
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Fr 22. Mär 2024, 07:52

Salutitutti hat geschrieben :
Do 21. Mär 2024, 22:52
Wir [sehen] dort nicht etwas anderes als (visuelle) Repräsentationen.
Michael7Nigl hat recht, hier geht es auch meiner Meinung nach um die Frage des Realismus. Ich unterscheide etwas anders als er, nämlich (übergeordnet) zwischen Realismus und Antirealismus. Darunter gibt es sicher viele Varianten. (Außerdem kann man auch fragen: Realismus/Antirealismus in Hinblick auf was? Man kann schließlich zum Beispiel Realist in Bezug auf die Realität unserer Alltagsdinge sein, aber Antirealist in Bezug auf Zahlen, um nur zwei Beispiele zu nennen.)

Ich selbst vertrete einen direkten Realismus. Das heißt, während du sagst, dass wir dort nichts anderes als (visuelle) Repräsentationen sehen, denke ich, dass wir dort den Tisch selbst sehen. Nach meiner Einschätzung sehen wir nicht unsere Repräsentationen, sondern die Dinge selbst. Eigentlich denke ich, dass wir normalerweise Tatsachen wahrnehmen, zum Beispiel, dass der Tisch festlich gedeckt ist, aber das lasse ich erst einmal beiseite.

Wenn wir stattdessen nur visuelle Repräsentationen sehen würden, würden wir (jede:r einzelne) buchstäblich in jedem Moment etwas Anderes sehen, weil wir ständig wechselnde Eindrücke haben. Wir würden nie den Tisch sehen, sondern nur wechselnde Repräsentationen von etwas, das wir nie fassen können. Ja, es wäre sogar fraglich, ob wir überhaupt berechtigt wären, vom Tisch zu sprechen.

Eigentlich wäre das Thema hier gar nicht möglich, denn um uns zu fragen, ob wir den Tisch selbst sehen oder nur unsere jeweiligen Repräsentationen, müssten wir erst einmal in der Lage sein, Tische auszuwählen. Wie soll das gehen, wenn sie keine öffentlichen Gegenstände sind? Mit anderen Worten: Wollten wir mit Anna über den festlich gedeckten Tisch sprechen, stünden wir vor dem Problem, dass wir niemals über dasselbe sprechen könnten, jedenfalls nicht über den Tisch. Anna würde über ihre Repräsentationen sprechen, die mir nicht zugänglich sind, und ich über meine, die ihr nicht zugänglich sind. Ein Gespräch wäre dann eigentlich gar nicht möglich.




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Jörn Budesheim
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Fr 22. Mär 2024, 07:59

John Searle hat geschrieben : … Der größte Irrtum - vermutlich geht er zurück bis zu den alten Griechen - war ein falsches Verständnis von Wahrnehmung, das besagt: »Du kannst die wirkliche Welt nicht sehen.« Du kannst nur sehen, was in deinem eigenen Geist vorgeht, in deinem Sehsinn und den anderen Sinnen. Was dir bewusst ist, sind nur Repräsentationen, wie Kant sie nannte.

Dafür gibt es ein schlechtes Argument: Du glaubst, deine Hand vor deinem Gesicht zu sehen. Aber es könnte auch eine Halluzination sein. Was siehst du in diesem Fall? Irgendwas nimmst du wahr. Es muss deine eigene Wahrnehmung sein. Weil aber das Erleben im Fall einer Halluzination und im Fall einer echten Wahrnehmung gleich sind, müssten beide Fälle gleich sein. Also müsse man dasselbe wahrnehmen.

Alles, was man je sieht, sei die eigene Wahrnehmung. Das ist der größte Fehler der Philosophie in den letzten 400 Jahren, und er hat viele Namen: Descartes, Locke, Berkeley, Hume, Leibniz, Spinoza, Kant, Hegel, Mill. Ein übles Desaster nach dem anderen. Das Ganze beruht auf einem Irrtum, der aus einer Zweideutigkeit im Verständnis von Wahrnehmung herrührt. Wenn ich meine Hand wahrnehme, dann ist die Hand nicht identisch mit meiner Wahrnehmung von ihr. Wenn ich hingegen eine Halluzination von meiner Hand habe, dann ist der Gegenstand meiner Wahrnehmung identisch mit meiner Wahrnehmung dieses Gegenstands. Es ist gerade die Wahrnehmung selbst. Das Versäumnis, diese Zweideutigkeit zu sehen, wiederholt in Hunderten Formen, ist verantwortlich für die moderne Epistemologie.

Jetzt nämlich stellt sich die Frage: Wie kann man etwas über die Welt jenseits unserer Repräsentationen wissen, wenn alles, was man wahrnimmt, die eigenen Repräsentationen sind? Descartes und Locke gaben die Antwort, dass unsere Wahrnehmung ein Bild der äußeren Welt ist. Hume und Berkeley sahen ein, dass das sinnlos ist. Es ergibt keinen Sinn, dass eine Welt aus Bildern der anderen besteht, wenn diese andere unsichtbar ist.

Aber die eigentliche Katastrophe brach mit Kant herein. Er verkündete: Zwar sei alles, was man wahrnehmen kann, die eigenen Repräsentationen. Aber da gebe es eine Welt jenseits davon, die Welt des »Ding an sich«. Nur könne man über die nichts wissen. Dann sah Hegel, dass auch das keinen Sinn ergibt. Lasst uns dieses Ding an sich loswerden! Dann kam der wirklich katastrophale Fehler: zu sagen, dass alles, was es wirklich gibt, unsere subjektive Welt ist. Das ist der Idealismus. Ein kolossales Desaster.




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Quk
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Fr 22. Mär 2024, 11:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 07:52
Salutitutti hat geschrieben :
Do 21. Mär 2024, 22:52
Wir [sehen] dort nicht etwas anderes als (visuelle) Repräsentationen.
Michael7Nigl hat recht, hier geht es auch meiner Meinung nach um die Frage des Realismus. Ich unterscheide etwas anders als er, nämlich (übergeordnet) zwischen Realismus und Antirealismus. Darunter gibt es sicher viele Varianten. (Außerdem kann man auch fragen: Realismus/Antirealismus in Hinblick auf was? Man kann schließlich zum Beispiel Realist in Bezug auf die Realität unserer Alltagsdinge sein, aber Antirealist in Bezug auf Zahlen, um nur zwei Beispiele zu nennen.)

Ich selbst vertrete einen direkten Realismus. Das heißt, während du sagst, dass wir dort nichts anderes als (visuelle) Repräsentationen sehen, denke ich, dass wir dort den Tisch selbst sehen. Nach meiner Einschätzung sehen wir nicht unsere Repräsentationen, sondern die Dinge selbst. Eigentlich denke ich, dass wir normalerweise Tatsachen wahrnehmen, zum Beispiel, dass der Tisch festlich gedeckt ist, aber das lasse ich erst einmal beiseite.

Wenn wir stattdessen nur visuelle Repräsentationen sehen würden, würden wir (jede:r einzelne) buchstäblich in jedem Moment etwas Anderes sehen, weil wir ständig wechselnde Eindrücke haben. Wir würden nie den Tisch sehen, sondern nur wechselnde Repräsentationen von etwas, das wir nie fassen können. Ja, es wäre sogar fraglich, ob wir überhaupt berechtigt wären, vom Tisch zu sprechen.

Eigentlich wäre das Thema hier gar nicht möglich, denn um uns zu fragen, ob wir den Tisch selbst sehen oder nur unsere jeweiligen Repräsentationen, müssten wir erst einmal in der Lage sein, Tische auszuwählen. Wie soll das gehen, wenn sie keine öffentlichen Gegenstände sind? Mit anderen Worten: Wollten wir mit Anna über den festlich gedeckten Tisch sprechen, stünden wir vor dem Problem, dass wir niemals über dasselbe sprechen könnten, jedenfalls nicht über den Tisch. Anna würde über ihre Repräsentationen sprechen, die mir nicht zugänglich sind, und ich über meine, die ihr nicht zugänglich sind. Ein Gespräch wäre dann eigentlich gar nicht möglich.
Verständnisfragen:

1. Gibt es neben der wechselnden, visuellen Repräsentation eines Tisches auch so etwas wie eine stete, objektive, geometrische Idee eines Tisches?

2. Sind Ideen Elemente der Realität?

3. Sind Repräsentationen Elemente der Realität?

Verständnisfragen, wie gesagt. Keine Kritik.


P.S.: Halb Ernst, halb Spass: Der Gegenbegriff zum Relativismus müsste rein sprachlich eigentlich Absolutismus lauten; dieser ist allerdings als politischer Begriff bereits besetzt. Ist das der Grund, warum die Philosophie stattdessen den Begriff Realismus gewählt hat?




Salutitutti
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Fr 22. Mär 2024, 12:10

Michael7Nigl hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 06:34
die Wirklichkeit im Raume, als einer bloßen Vorstellung, nichts anderes als die Wahrnehmung selbst ist. Das Reale äußerer Erscheinungen ist also wirklich nur in der Wahrnehmung und kann auf keine andere Weise wirklich sein.[/size] (KrV A 375)
Es ist lange her, dass ich Kants KrV gelesen habe und freue mich über dieses Erinnerungsstück.

Es erstaunt nicht, dass wir (nicht zwangsläufig du) das "Ding an sich" heranziehen, um zu zeigen, dass es dort ein Ansichsein von Dingen gebe im Unterschied zum Fürunssein dieser Dinge in der Wahrnehmung. Wir sind nach wie vor kollektiv durch die Intuition getragen, dass jenseits unserer Wahrnehmungen die wahre Wirklichkeit stattfinde und diese müsse rein und frei von jeglicher Wahrnehmung , damit sie uns verlässliche, objektive und unbestreitbare Fakten liefere. Aber das ist doch widersprüchlich und unsinnig? Ich hielt dieses Ding an sich schon immer für eine leere Menge und für ein schwaches Argument für eine von uns unabhängige Realität. Denn dieses Ding an sich selbst kann ja weder erfasst, geschweige denn bewiesen werden. Es ist eine reine Annahme, dass es so etwas gebe, und wir nehmen es an, um eine Leerstelle zu füllen, die es gar nicht geben muss. Die Leerstelle lautet: "Die Wirklichkeit der Dinge muss rein und frei sein von menschlichem Einfluss und maximal objektiv die Richtigkeit unserer Urteile ermöglichen.". Aber es gibt doch nirgends einen Bedarf für so einen Objektivitätsbegriff, der uns komplett ausblendet?

Wenn es stimmt, was Kant ausführte, dass "das Reale der äusseren Erscheinungen wirklich nur in der Wahrnehmung und auf keine andere Weise wirklich sein kann", dann sollten wir doch an unseren Wahrnehmungen arbeiten (z.B. an besseren Instrumenten, an besseren Begriffen für die Realität etc.), um diese Realität, die keine andere sein kann als die Wahrgenommene, besser zu verstehen und nicht uns selbst als Mangelwesen verstehen, das aus der Wirklichkeitsgleichung subtrahiert werden muss. Dieses Verständnis von Realität führte in Konsequenz auch dazu, dass wir uns selbst nicht als Teil der Wirklichkeit wahrnehmen müssten, was doch völlig unproduktiv wäre?

Vielmehr verstehe ich Kants subjektiven Idealismus so, dass wir am Anfang aller Wahrnehmungen stehen (Sinnlichkeit und Verstandesbegriffe) und somit wir Mitgestalter dieser Wirklichkeit sind. Unsere Begriffe sind vielleicht mangelhaft, weil sie die Vielfalt der Wirklichkeit nicht wiedergeben können. Auch unsere Theorien mögen allesamt mangelhaft sein, dann müssen wir an unseren Methoden arbeiten, an unseren Begriffen und Messapparaten, um diese Realität besser, präziser und der Differenziertheit angemessen zu beschreiben. Aber das, was wir Realität nennen, kann kein Mangelbegriff sein, weil es das Gesamt aller Gegenstände meint, auch der Irrtümer über die Realität :-) Ich vertraue lieber auf einen Realitätsbegriff, der uns als fühlende und fehlbare Wesen in diese Realität einrechnet, weil nur dieser Realitätsbegriff uns eine gemeinsame Grundlage bietet, um soziale Probleme zu lösen (rechtlicher, politischer, wissenschaftlicher Art etc.).




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Jörn Budesheim
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Fr 22. Mär 2024, 12:32

Quk hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 11:06
2. Sind Ideen Elemente der Realität?

3. Sind Repräsentationen Elemente der Realität?
Es gibt nichts, was kein "Element der Realität" ist, denke ich (außer "natürlich" der Welt).




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Jörn Budesheim
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Fr 22. Mär 2024, 14:07

Quk hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 11:06
1. Gibt es neben der wechselnden, visuellen Repräsentation eines Tisches auch so etwas wie eine stete, objektive, geometrische Idee eines Tisches?
Ich gehe gar nicht davon aus, dass sogenannte Repräsentationen eine entscheidende Rolle bei unseren Wahrnehmungen spielen, also Repräsentationen, die "zwischen" uns und den Dingen stehen. Du müsstest eher die Antirealisten zu Repräsentationen befragen.

Nach meiner Vorstellung sehen wir den Tisch an sich. Die Phänomenologie ist dabei erstaunlich, denn selbst wenn die Platte in irgendeiner Weise "als Raute" gemäß den Gesetzen der Geometrie gegeben ist, nehmen wir sie als rechteckig wahr.




Salutitutti
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Fr 22. Mär 2024, 15:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 07:52
Salutitutti hat geschrieben :
Do 21. Mär 2024, 22:52
Wir [sehen] dort nicht etwas anderes als (visuelle) Repräsentationen.

Ich selbst vertrete einen direkten Realismus. Das heißt, während du sagst, dass wir dort nichts anderes als (visuelle) Repräsentationen sehen, denke ich, dass wir dort den Tisch selbst sehen. Nach meiner Einschätzung sehen wir nicht unsere Repräsentationen, sondern die Dinge selbst. Eigentlich denke ich, dass wir normalerweise Tatsachen wahrnehmen, zum Beispiel, dass der Tisch festlich gedeckt ist, aber das lasse ich erst einmal beiseite.
Dass wir Tatsachen sehen und nicht einfach nur disparate Dinge, würde ich wohl bestätigen. Wenn wir auch Einzelnes aus der Gesamtansicht isolieren können, um es als Einzelnes in den Blick zu nehmen, finden wir diese Dinge eingebettet in Tatsachen, auch wenn wir sie uns nicht immer bewusst machen.

Leider bin ich nicht sehr standfest, was die Unterscheidung von Antirealismus und Realismus anbelangt. Ich versuche das einmal mit eigenen Worten aufzudröseln: Antirealismus sei die These, dass die Dinge (in maximaler Form: dir ganze Realität) durch Menschen (z.B. den Geist) erzeugt und in Existenz gehalten werden, so. das Recht, moralische Gebote Gedanken oder Zahlen etc.. Alles das existiere nicht durch sich selbst in eigenständiger Weise, sondern weil Menschen durch Konvention oder soziale Praktiken dafür sorgen, dass sie existieren. Dagegen behauptet der Reamismus eine Existenz in Autonomie, d h. dass auch Moral und Gedanken eigenständig existieren, wenn sie auch von Menschen gedacht werden. Zahlen in dieser realistischen Deutung wären demnach vielleicht Artefakte, weil wir sie erschaffen haben (wie Buchstaben), und doch existieren Zahlen selbständig in der Ordnung der quantifizierten Realität. Die Realität oder wenigstens ihre Gesetzmässigkeiten lassen sich mit Zahlen darstellen, nicht, weil wir übereingekommen wären, dass dem so sei, sondern weil die Informationen der Natur sich quantifizieren lassen. Zahlen und ihre Verhältnisse zueinander wären in dieser Lesart real insofern, als sie gar nicht negoziabel sind. Wir können nicht verhandeln darüber, dass 5+7=12. Es ist so, weil die Realität so ist. Genau deshalb lassen sich kinetische Kräfte beim Raketenstart berechnen, weil diese Kräfte sich genau so entwickeln , wie wir es berechnen können. Eine Abmachung, dass sich die Rakete anders verhalten solle unter gegebenen Umständen wäre unrealistisch.

Ich tendiere zum Realismus, auch wenn ich sage, dass wir nicht die Gegenstände selbst sehen, sondern die Wirklichkeit dieser Gegenstände als Repräsentationen. Wenn eine Biene den Gegenstand "Tisch" sieht, sieht sie ihn in anderen Farben, als wir mit menschlichen Augen. Aber die Wahrnehnung der Biene ist in keiner Weise falscher als unsere Wahrnehnung. Ihr Sinnesapparat zeigt ihr diese Realität des Tisches, welche uns verborgen bleibt. Ihre Wahrnehmung müsste aber die genau Gleiche sein, wenn es sich nicht um Repräsentationen handelte? In diesem Sinne würde ich behaupten, ohne ganz sicher zu sein, das individuelle Repräsentationen objektiv sind, sie sind nicht verhandelbar. Wir haben die Eindrücke, die wir haben, weil die Wirklichkeit uns diese liefert. Repräsentationen wären so gesehen aber objektiv und nicht individuell-subektiv. Wir beide sehen denselben Tisch, wenn wir auf ihn veweisen, aber wir sehen nicht das Gleiche. Wir haben andere Perspektiven auf ihn und wenn auch die individuellen Eindrücke subjektiv sind (da ich es bin, der einen Eindruck hat) so sind sie doch durch unsere empirische Praxis dahingehend aufeinander abgestimmt, dass wir intersubjektiv verlässliche Aussagen machen können. Das gelingt uns auch bei Erinnerungen , wenn wir uns über etwas unterhalten, das uns nicht mehr vorliegt. Wir unterhalten uns über jene Repräsentation des Dings in der Erinnerung ohne Schwierigkeit.

Ich verstehe deine Position so, dass wir die Gegenstände genau so sehen, wie sie sind, und das bestreite ich nicht. Nur sorgen Repräsentationen nach meinem Verständnis nicht für einen indirekten Realismus. Unsere kognitiven Fähigkeiten sind aufeinander durch Praxis, Einübung, durch die Evolution unserer Sinnesapparate aufeinander eingespielt. Ja, in Tat und Wahrheit sehen wir dasselbe (jener Gegenstand dort), aber nicht das Gleiche (leicht unterschiedliche Farben, vielleicht auch nicht gleich scharfe Konturen etc.) Das, was wir sehen, ist wohl direkt das, was dort steht: ein hübsch gedeckter Tisch für den Sonntagsbrunch. Aber wir sehen nicht das Gleiche, insofern wir nicht dieselben Augen haben.

Nun aber denke ich, dass dies nicht in einen Antirealismus führt, weil diese individuellen Perspektiven realistisch und objektiv sind. Auch ein Farbenblinder sieht nicht falsch, er sieht objektiv genau das, was ist und zwar gegeben seine Sinnesstörung. Störung nennen wir sie nur, weil sie von dieser austarierten Wahrnehmung mesoskopischer Dinge abweicht und daher als Abnormal gilt. Aber dass eine Wahrnehmung abnormal ist, heisst nicht, dass es eine falsche Wahrnehmung wäre.

In der Regel verständigen wir uns ohne Probleme über die individuellen Ansichten und bilden durch kontinuerlichen Abgleich eine intersubjektive Realität des Sonntagstisches.

Vieleicht führt dies zu weit zu behaupten, dass ein direkter Realismus das Subjektive zu stark unterdrückt. Denn wenn wir nichts hinzutun können bei der Wahrnehmung der Dinge, gäbe es doch auch keine Subjektivität, die objektiv genannt werden könnte? Wie soll es denn sonst wahr sein, dass ich eine Perspektive auf etwas einnehmen kann, wenn das was ich sehe in jedem Fall das direkte Ding wäre? Oder was wäre die Rolle des Subjekts überhaupt noch wert, wenn alles absolut direkt und niemals in keiner Weise subjektiv?
Meine Grossmutter sieht den Tisch verschwommen und das ist kein Augenfehler, sondern ihre individuelle Realität. Der Tisch scheint verschwommen und er ist es auch - ganz objektiv im Auge des Betrachters. Und kein Sinnesapparat kann von sich sagen, dass seine Rezeption der Wirklichkeit diejenige sei, nach der sich die Biene oder meine Grossmutter zu richten hätten. Aber genau das wollen wir und suchen wir: Eine Wahrheit die so objktiv ist, dass sich alle menschliche Fehlbarkeit an ihr messen können. Aber hierfür brauchen wir nicht einen direkten Realismus zu postulieren (der dann auch die Aufgabe hätte aufzuzeigen, wer oder was im Streitfall die finale Deutungshoheit über das Wahrgenommene habe.) Die gemeinsame Öffentlichkeit wird durch die
Pluralität unserer objektiven Wahrnehmungen nicht gefährdet.

Mir gefällt der Gedanke der Öffentlichkeit als Raum des Gebens und Nehmens von Gründen. Damit so etwas funktionieren kann, braucht es ein gemeinsames Realitätsverständnis oder wenigstens eine pragmatische Grundeinstellung. Wir sehen auch unter dem präzisesten Mikroskop und den besten Theorien immer unscharf, nie das ganze Bild. Bruchstücke und wir als Individuen sind angehalten zum Kompromiss. Zu Zwischenresultaten und nie abschliessenden Wahrheiten. Darum sehe nicht, warum diese Öffentlichkeit uniform objektiv sein soll, wenn sie doch ebenso Platz bietet für Pluralität und Divergenz, Interpretatation und Mutmassung. Die Öffentlichkeit wird dadurch nicht unterminiert, im Gegenteil doch gestärkt wegen der Vielfalt unserer Bestrebungen, die Wahrheit herauszufinden?
Zuletzt geändert von Salutitutti am Fr 22. Mär 2024, 15:20, insgesamt 1-mal geändert.




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AufDerSonne
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Fr 22. Mär 2024, 15:20

Guten Tag Salutitutti
Ich habe mir gerade gedacht, dass bei der Wahrnehmung von materiellen Gegenständen Raum und Zeit wichtig sind. Und etwas scheint nötig zu sein, damit wir von einer Wahrnehmung sprechen können, nämlich irgendetwas muss unsere Wahrnehmung verursachen. Das scheint mir eine wichtige Tatsache. Wenn wir einen Tisch sehen, dann wissen wir möglicherweise nicht genau, was der Tisch ist, aber wir müssen davon ausgehen, dass er der Grund ist dafür, dass wir überhaupt etwas wahrnehmen. Denn wenn da nichts wäre, dann würden wir nichts wahrnehmen. Das ist trivial: Etwas muss unsere Wahrnehmung verursachen. Aber ich denke, es ist wichtig. In diesem Fall also wäre es ein Tisch. Und jetzt kommt mir noch etwas in den Sinn. Während dem Wahrnehmungsprozess kommen wir irgend einmal, früher oder später, zu dem Urteil, dass es sich um einen Tisch handelt und nicht etwa um einen Stuhl. Also: Man muss erst hinschauen, bevor man sagen kann, um was für einen Gegenstand es sich handelt. Damit haben wir schon zwei wichtige Sachen gefunden. Etwas muss da sein, was unsere Wahrnehmung verursacht und zweitens muss man irgendwie merken, um was es sich handelt.
Wer den Tisch hergestellt hat, spielt nur eine Rolle bei gewissen Fragen. Sicher bei sozialen, denn es ist wichtig, wer den Tisch hergestellt und verkauft oder verschenkt hat usw. Ich glaube eher weniger, dass an der Wahrnehmung des Tisches sich etwas ändern würde, wenn es keine andere Menschen gäbe ausser mir. Also dass eine soziale Komponente bei der Wahrnehmung des Tisches eine wesentliche Rolle spielt, dass müsstest du erste einmal beweisen.
Der Tisch besteht nach unserem derzeitigen Wissen aus Atomen. Ich denke, das ist gesichertes Wissen. Wenigstens wüsste ich niemanden, der die Existenz der etwa 80 Atomsorten, woraus alle Materie besteht, ernsthaft abstreitet. Aber ich denke auch, dass das nicht so wichtig ist. Schon deshalb nicht, weil wir ein einzelnes Atom nicht wahrnehmen können.



Ohne Gehirn kein Geist!

Salutitutti
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Fr 22. Mär 2024, 17:56

AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 15:20
etwas scheint nötig zu sein, damit wir von einer Wahrnehmung sprechen können, nämlich irgendetwas muss unsere Wahrnehmung verursachen. Das scheint mir eine wichtige Tatsache.

Wenn wir über einen Gegenstand sprechen, egal welcher dieser sei, sofern er öffentlich zugänglich ist, verweist unsere Rede über ihn auf ihn. Es gibt zweifellos einen (materiellen) Gegenstand, auf den sich unsere Begriffe anwenden lassen. Du nennst es Ursache, ich nenne es Bezugsobjekt. Das ist eher nebensächlich, aber es ist tatsächlich so, dass dort etwas ist, auf das sich unsere Rede (oder Wahrnehmung) bezieht (Ich - Du - das Ding-Triangulation?). Ohne diese materielle Ursache gebe es keinen Anlass für uns zu denken, dass dort etwas sei, oder etwas über ihn zu behaupten. Und damit es dort sei, muss es in materieller Form dort sein. Das gilt jedenfalls für physikalische Dinge: Wenn es dort keine Atomstruktur gibt, gibt es dort in der Raumzeit auch kein Objekt, auf den sich der Begriff "Tisch" anwenden liesse. Also, ja, einverstanden. Es braucht einen Atomhaufen und dieser besteht ohne uns.
"Eine Anschauung entsteht nur, wenn ein Gegenstand (die Dinge an sich) das Gemüt auf gewisse Weise affiziert." (Kant, KrV, Transzendetale Ästhetik)
AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 15:20
Wer den Tisch hergestellt hat, spielt nur eine Rolle bei gewissen Fragen. Sicher bei sozialen, denn es ist wichtig, wer den Tisch hergestellt und verkauft oder verschenkt hat usw. Ich glaube eher weniger, dass an der Wahrnehmung des Tisches sich etwas ändern würde, wenn es keine andere Menschen gäbe ausser mir. Also dass eine soziale Komponente bei der Wahrnehmung des Tisches eine wesentliche Rolle spielt, dass müsstest du erste einmal beweisen.
Ich gehe hier nicht von einem stringenten logischen Beweis aus, dafür bin ich wahrscheinlich intellektuell nicht "scharf" genug :-) Aber, wir können bei Kant bleiben, um zu verdeutlichen, dass Wahrnehmung immer begrifflich ist, insofern wir urteilen, um zu erkennen. „Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen Verstandes, eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv [begrifflich].“ (KrV, Transzendtale Analytik).

Es bedeutet, dass wir einen Tisch nur als Tisch erkennen, weil der Gegenstand dort unter diesen Begriff überhaupt fällt. Wenn wir nichts wüssten von Tischen, würden wir dort auch keinen Tisch vorfinden, sondern den Gegenstand anders begreifen - z.B. als sehr komisch gewachsenen Baum. Tatsache ist aber, dass der Tisch nicht so gewachsen ist, sondern hergestellt wurde. Dass er hergestellt wurde, ist nicht entscheidend dafür, dass er Tisch ist, aber dass er diese Merkmale aufweist, die Tische aufweisen, macht aus ihm einen Tisch. Er ist Tisch, weil er eben unter diesen Begriff fällt. Somit ist uns der Gegenstand "Tisch" als ebensolcher nur gegeben, weil es überhaupt Tische gibt, sozusagen die Idee eines Tisches - oder aber ein Begriff. Und diese Begriffe sind nicht sozialer Natur, sie sind meines Erachtens wirklich wie Atome, aber wir müssen diese Begriffe überhaupt haben, damit wir die Dinge erkennen können, als was sie sind.

Dieses "etwas als etwas" zu erkennen, das erscheint mir eine wichtige Differenzierung. Wenn wir einen "Tisch" erkennen, erkennen wir eben nicht die Atome. Es ist geschenkt, dass alles Physikalische aus Atomen besteht, aber darin erschöpft sich ihre Existenz nicht. Anders gesagt: Das, was wir oben als "Ursache" oder "Bezugspunkt" beschrieben haben, kann einmal als Atomhaufen betrachtet werden, einmal als Tisch. In keiner Weise überschneiden sich diese zwei Dinge begrifflich (ja, es sind zwei Begriffe). Der Gegenstand "Tisch" ist eben nicht in erster Linie ein Atomding, sondern ein Möbelstück. Und der Gegenstand "Atomhaufen" ist eben nicht apriori ein Tisch, da er ja alles andere sein könnte, was sich aus Atomen basteln lässt. Und ich meine, das diese Existenzen des Gegenstandes, einmal als Tisch, einmal als Atomhaufen, gleichberechtigt sind, weil sie wahre Aussagen über das Ding ermöglichen.

Damit möchte ich nicht sagen, dass alles, was existiert, eine atomare Basis hat, sondern eben genau das Gegenteil: Alles, was existiert, existiert in seiner begrifflichen Ordnung. Ein Baum kann auch ein Spielplatz sein für Kinder, die darauf spielen. Der Kontext des Dings, sein Eingebettetsein in die Tatsachenstrukturen, machen aus ihm das, was er ist - im jeweiligen Zusammenhang. Es gibt nicht nur physikalische Tatsachen, daher kann es auch nicht nur physikalische Dinge geben. Als Hinweis (nicht als Beweis) dient uns in erster Linie der Umstand, dass sich die Wissenschaft "Physik" nicht physikalisch erklären lässt. Physik kann sich nicht selber beschreiben mit ihren physikalischen Methoden, sie braucht wiederum Tatsachen anderer Ordnungen, um auf sich selbst als Wissenschaft zu referenzieren.




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Jörn Budesheim
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Fr 22. Mär 2024, 19:07

"Erstens: Wir können die Wirklichkeit so erkennen, wie sie ist. Zweitens: Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist so wirklich wie alles andere auch. Drittens: Die Wirklichkeit ist kein singulärer Gegenstand..." [das schließt aus], "dass es in Wahrheit nur Atome und das Leere gibt."

Ich habe mir oben zwei Zeilen von Markus Gabriel ausgeliehen, in denen er seinen Realismus umreißt. Wichtig ist zu sehen, dass er damit das Kriterium der "bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit" als Goldstandard für den Realismus über Bord zu werfen versucht. Eine Gegenposition dazu wäre der Gedanke, dass wir die Dinge eben nicht so erkennen können, wie sie sind, sondern dass wir sie in gewisser Weise machen oder konstruieren oder wie auch immer man es nennen will.




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Quk
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Fr 22. Mär 2024, 19:30

Bananengelb zu sehen und Bananenduft zu riechen sind Erlebnis-Qualitäten im Geist; diese Erlebnis-Qualitäten stecken vermutlich nicht außerhalb des Geistes im Bananen-Ding an sich, denn es ist vermutlich nicht die Banane selbst, die diese Qualitäten erlebt, noch ist sie eine solipsistische Kreation von mir. Wenn Realisten die Banane an sich los werden wollen und auch keine Repäsentation von ihr anschauen, was ist dann die "reale Banane"? Ist sie nur ein Wort? Ist sie eine abstrakte Omni-Instanz jenseits von Körper und Geist?




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Jörn Budesheim
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AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 15:20
Ich glaube eher weniger, dass an der Wahrnehmung des Tisches sich etwas ändern würde, wenn es keine andere Menschen gäbe ausser mir.
Wenn es keine anderen Menschen gäbe außer dir, gäbe es dich auch nicht. Du wärst nicht geboren worden, du wärst zu keinem gesunden Erwachsenen geworden, du könntest nicht in der Art und Weise denken und sprechen, wie du es jetzt kannst und es gäbe um dich herum auch gar keine Tische.




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Jörn Budesheim
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Quk hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 19:30
"reale Banane"
Eine dieser realen Bananen liegt in unserer Küche. Sie ist gelb, sie biegt sich leicht, sie schmeckt nach Banane und vieles andere mehr. All das sind nach meiner Auffassung Eigenschaften der Banane selbst, der Banane an sich, wenn man so will.




Salutitutti
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 19:34
AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 15:20
Ich glaube eher weniger, dass an der Wahrnehmung des Tisches sich etwas ändern würde, wenn es keine andere Menschen gäbe ausser mir.
Wenn es keine anderen Menschen gäbe außer dir, gäbe es dich auch nicht. Du wärst nicht geboren worden, du wärst zu keinem gesunden Erwachsenen geworden, du könntest nicht in der Art und Weise denken und sprechen, wie du es jetzt kannst und es gäbe um dich herum auch gar keine Tische.
Ich glaube, dieser Hinweis ist wichtig.

Bei unseren Gedankenexperimenten tun wir gerne so, als wären wir nicht wir :-) "Hört man das Rauschen des fallenden Baumes, wenn niemand hinhört?" "Wie würde die Banane schmecken, wenn ich ein Marsianer wäre?" Wir spielen oft dieses Gedankenspiel: "Wenn ich wär ein Millionär". Ich wüsste nicht, warum es uns gelingen sollte, die Banane zu erfassen in ihrem an sich Bananen-Sein. Eine Banane ist da zum Schälen. Um sich über sie zu streiten. Zu freuen. Sich an ihr zu erlaben. Etc. Eine Banane macht keinen Sinn, ohne haarige Wahrheit.

Überhaupt verstehen wir die Wirklichkeit doch erst wirklich, wenn wir uns zutiefst und fröhlich der Erkenntnis hingeben, dass wir fehlbare Wesen sind. Menschen sind. Ich denke, mit gesundem Menschenverstand, Empathie usw. erkennen wir die Wirklichkeit, wie sie für uns als Menschen überhaupt relevant wird. Denn ob es dort eine an sich Banane gibt und ob sich vor sich her duftet oder nicht, nun ja, das interessiert doch wohl kaum über das logische Experiment hinaus. Die wirklich spannenden Fragen sind doch: "Na, schmeckt dir die Banane?" oder "Kannst du mir bitte auch eine bringen? Danke.". Dieser Alltagsrealismus ist wahrscheinlich nicht von wissenschaftlichem Interesse. Ich meine jedoch, dass wir auch als Wissenschafter mit dieser Grundhaltung arbeiten müssen, wenn wir Fortschritte machen wollen. Eine pragmatische Grundhaltung.

Was Materie ist, was Bewusstsein ist, was Leben bedeutet: Nichts von alle dem ist heute klarer als früher :-) Und mir scheint, wir müssen diese fundamentalen Fragen auch nicht unbedingt zuerst lösen, bevor wir uns den dringenderen Fragen widmen, wie: "Wie bringen wir die Erderwärmung runter" oder "Braucht es in Ludwigsfelde ein Nacherholungsgebiet?". Eher auf der politischen Ebene. Da bin ich mit 45 Jahren noch naiv: Wenn es Ethik geben soll, muss es Politik geben. Wahre Politeia ist ethischer Diskurs.

Ich meine auch, dass das Fundamentale der physikalischen Welt nichts darüber sagen kann, ob wir das oder jenes tun können, sondern nur anzeigt, was im Rahmen der Physik möglich ist, um diesen Problemen zu begegnen. Physik ist ja nicht Selbstzweck, sondern muss uns dienen, um Ziele zu erreichen: Bessere Medizin, bessere Messinstrumente. Raumfahrtflüge. Weltraumexpeditionen und die Bevölkerung benachbarter Planeten. Der philosophische Diskurs sollte sich mehr um diese Fragen drehen, denn um die Frage, ob es die Welt überhaupt gibt, die man gerade hinter sich lassen will, um sie zu bewahren :-)




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AufDerSonne
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Fr 22. Mär 2024, 21:02

Salutitutti hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 20:38
Ich meine auch, dass das Fundamentale der physikalischen Welt nichts darüber sagen kann, ob wir das oder jenes tun können, sondern nur anzeigt, was im Rahmen der Physik möglich ist, um diesen Problemen zu begegnen. Physik ist ja nicht Selbstzweck, sondern muss uns dienen, um Ziele zu erreichen: Bessere Medizin, bessere Messinstrumente. Raumfahrtflüge. Weltraumexpeditionen und die Bevölkerung benachbarter Planeten. Der philosophische Diskurs sollte sich mehr um diese Fragen drehen, denn um die Frage, ob es die Welt überhaupt gibt, die man gerade hinter sich lassen will, um sie zu bewahren :-)
Ich denke auch, dass die ewigen Diskussionen um den Kern der Welt, möglicherweise die Materie, Raum und Zeit, nicht viel Sinn haben. Ausser man sei ein Physiker. Allerdings sollten wir uns bemühen nicht in Widersprüche zu geraten bei den einfachsten Sachen. Die Physik muss uns dienen, nun ja. Die Naturgesetze müssen niemandem dienen, sie sind einfach da. Man kann sich für sie interessieren oder auch nicht. Ich denke, "müssen" tut uns gar nichts dienen. Also nichts "muss" uns dienen. Wenn denn die Welt so menschlich ist, wie ihr es wollt, dann müsste man auch einmal in Betracht ziehen, dass die Menschen dann auch wirklich frei entscheiden müssten, was sie wollen. Dazu scheinen sie aber nicht in der Lage zu sein. Ich denke, es wäre auch eine Überforderung. Die Naturgesetze geben uns doch eine Richtung vor und nehmen uns ein Teil unserer Freiheit ab, da wir sie nicht brechen können. Übrigens ist die Natur uns weitgehend feindlich gesonnen. Es gibt viele Gefahren in der Natur, denen es egal ist, wieviel Bewusstsein wir haben. Tot ist tot und fertig ist es mit dem Bewusstsein. Ich denke, wir Menschen müssen untereinander zusammenhalten, aber die Natur folgt ihren Gesetzen, so wie es ist und immer war. Und dieses Zusammenhangsdenken finde ich auch nicht der letzte Schrei. Und Tische gäbe es eben auch, wenn ich nicht geboren worden wäre. Was ich eigentlich sagen will. Die Physik gibt uns wertvolle Hinweise darauf, wie die Wirklichkeit beschaffen sein könnte. Vor allem über die Zusammenhänge, die es eben tatsächlich gibt in der Natur. Und last but not least ist es auch mit den Begriffen nicht weit her in der Philosophie, wenn es denn solche überhaupt gäbe. In der Mathematik und Physik gibt es klar definierte Begriffe. In der Philosophie kenne ich keinen einzigen, worauf man sich verlassen könnte.



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Salutitutti
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Fr 22. Mär 2024, 21:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 19:07
"Erstens: Wir können die Wirklichkeit so erkennen, wie sie ist. Zweitens: Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist so wirklich wie alles andere auch. Drittens: Die Wirklichkeit ist kein singulärer Gegenstand..." [das schließt aus], "dass es in Wahrheit nur Atome und das Leere gibt."

Ich habe mir oben zwei Zeilen von Markus Gabriel ausgeliehen, in denen er seinen Realismus umreißt. Wichtig ist zu sehen, dass er damit das Kriterium der "bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit" als Goldstandard für den Realismus über Bord zu werfen versucht. Eine Gegenposition dazu wäre der Gedanke, dass wir die Dinge eben nicht so erkennen können, wie sie sind, sondern dass wir sie in gewisser Weise machen oder konstruieren oder wie auch immer man es nennen will.
In diesem Zusammenhang lustig, dass ich zufällig neulich ein paar Youtube-Videos von Markus Gabriel gesehen habe. Ein interessanter Mann.

Punkt 1 würde ich sofort unterschreiben. Wir können sie tatsächlich so erkennen, wie sie ist. Und Punkt 2 trifft genau, was ich sagen wollte. Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist wirklich, sie kann falsch sein, aber nie unwirklich. Das Wort "Erscheinung" aber suggeriert, dass es nur so scheint, als ob.

Zu Punkt 3: Problematisch wird es, wenn wir behaupten, dass es die Welt nicht gibt. :-) Sehr kontraintuitiv.




Salutitutti
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Fr 22. Mär 2024, 21:33

AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 21:02
Salutitutti hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 20:38
Ich meine auch, dass das Fundamentale der physikalischen Welt nichts darüber sagen kann, ob wir das oder jenes tun können, sondern nur anzeigt, was im Rahmen der Physik möglich ist, um diesen Problemen zu begegnen. Physik ist ja nicht Selbstzweck, sondern muss uns dienen, um Ziele zu erreichen: Bessere Medizin, bessere Messinstrumente. Raumfahrtflüge. Weltraumexpeditionen und die Bevölkerung benachbarter Planeten. Der philosophische Diskurs sollte sich mehr um diese Fragen drehen, denn um die Frage, ob es die Welt überhaupt gibt, die man gerade hinter sich lassen will, um sie zu bewahren :-)
Wenn denn die Welt so menschlich ist, wie ihr es wollt, dann müsste man auch einmal in Betracht ziehen, dass die Menschen dann auch wirklich frei entscheiden müssten, was sie wollen. Dazu scheinen sie aber nicht in der Lage zu sein. Ich denke, es wäre auch eine Überforderung. Die Naturgesetze geben uns doch eine Richtung vor und nehmen uns ein Teil unserer Freiheit ab, da wir sie nicht brechen können. Übrigens ist die Natur uns weitgehend feindlich gesonnen.
Was bedeutet denn, dass "wir frei entscheiden müssten"? Warum der Konjunktiv?
Naturgesetze geben uns keine Richtung vor, sie sind einfach da. Wir geben die Richtung vor und tasten uns anhand ihrer voran. Wir versuchen, jenseits des heutigen Wissenstandes voranzukommen und ganz ehrlich, nicht selten imaginieren wir uns die Welt, wie sie uns erscheint. Ganz bewusst sogar, damit wir sie eben so denken können, wie wir sie entwickeln wollen. Fortschritt kann ja keiner sein, wenn er generell von Unnutzen wäre? Wirklicher oder wahrer Fortschritt muss Gutes bewirken.

Dass uns die Natur weitgehend feindlich gesonnen sei, das habe ich so wirklich noch nicht gedacht. Ich hielt sie immer für eine gute Freundin, wenn nicht insgeheim die beste :-)




Salutitutti
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Aber es stimmt: Es ist nicht gesund, sich in einen Lava speienden Vulkan zu stürzen :-) Oder zum Ausgleich in der Arktis zu übernachten. Nackt.




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Salutitutti hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 21:33
Was bedeutet denn, dass "wir frei entscheiden müssten"? Warum der Konjunktiv?
Ich weiss nicht. Es gibt andere Menschen, die manchmal nicht das wollen, was wir wollen. Es gibt Gefahren in der Natur. Es gibt Kriege. Moral. Regierungen und Gesetze. Alles folgt dem Plan des Universums. Wo bleibt da die Freiheit?

Naja ich bin zu wenig philosophisch für das. In einem Punkt aber habe ich recht. Dank der Physik sehen wir einige Dinge anders als ohne. Oder auch nicht. Bei der Physik habe ich das Gefühl, dass sie manche Dinge wirklich erklären kann. Bei der Philosophie nicht. Sowieso herrscht im Moment die Meinung, dass es gut sei, wenn man immer neue Fragen stellen könne und das die Philosophie gar nichts erklären müsse und keine Antworten liefern müsse. Also, wenn man schon philosophiert, dann sollte man auch dazu stehen.



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Fr 22. Mär 2024, 23:31

Salutitutti hat geschrieben :
Fr 22. Mär 2024, 12:10
Es ist lange her, dass ich Kants KrV gelesen habe und freue mich über dieses Erinnerungsstück.
Hast Du einmal Philosophie studiert, oder wie kommst Du dazu Kant gelesen zu haben?

Der Stoff, der sich in diesem Thread angesammelt hat, lässt sich kaum bewältigen. Vielleicht können wir aber auf einzelne Punkte näher eingehen. Vor allem halte ich einige Interpretationen von Kants Transzendentaler Ästhetik hier für problematisch. Ich beginne mal mit Deinem Wikipedia-Zitat aus https://de.wikipedia.org/wiki/Transzend ... %84sthetik, welches Du in Deinem Beitrag 75711 fälschlicherweise als Zitat aus der KrV ausgegeben hast:

"Eine Anschauung entsteht nur, wenn ein Gegenstand (die Dinge an sich) das Gemüt auf gewisse Weise affiziert."

Wie Patrick Unruh in seinem Buch Transzendentale Ästhetik des Raumes erklärt, lässt sich die Auffassung, Dinge an sich affizierten bei Kant das Gemüt, nicht halten:

"Vielmehr ist das kausal Affizierende einfach ein empirisches Ding, das das empirische Subjekt affiziert und so eine reale Anschauung von ihm evoziert. Darüber hinaus wäre es auch höchst problematisch, daß das Affizieren zu den Funktionen eines Dinges an sich gehören sollte, denn durch Affektion - Funktion des Affizierenden - wird ja gerade, wie überhaupt durch jede Tätigkeit, ein Kontakt zu etwas anderem hergestellt, so daß das Ding gerade nicht mehr an sich betrachtet wird, sondern als im Verhältnis, d.h. nach einer solchen bedingten Bestimmung einer Sache, die nicht vorgestellt werden kann, wenn sie an sich selbst betrachtet wird." (S. 109 f.)

Der Grund für jene Fehlinterpretation Kants liegt in der Vorstellung, mit Ding an sich oder Dingen an sich wäre so etwas wie eine Hinterwelt oder eine 'wahre Realität' gemeint, während wir nur ein einer Scheinwelt lebten. Diese abwegige Auslegung von Kants Transzendentalphilosophie konnte ich nicht nur in Deinen Beiträgen mehrmals lesen, sondern auch in dem von Jörn angeführten Searle-Zitat.

Das Ding an sich ist ein Grenzbegriff unserer Erkenntnis, was wir als Grund der Erscheinungen annehmen müssen, ohne es positiv, seinem Wesen nach bestimmen zu können. Dieser "Grund der Erscheinungen" ist nicht als kausale Ursache unserer Wahrnehmungen misszuverstehen. Wie ich oben bereits geschrieben hatte, ist Kants transzendentaler Idealismus zugleich ein empirischer Realismus (s. mein obiges Zitat aus der KrV). Deshalb ist Searles Aussage:

"ein falsches Verständnis von Wahrnehmung, das besagt: 'Du kannst die wirkliche Welt nicht sehen.'"

im Bezug auf Kant m.E. nicht richtig. Wie Kant wörtlich schreibt, ist "alle äußere Wahrnehmung [...] das Wirkliche selbst". (KrV A 375)

Trotzdem finde ich persönlich, wie schon gesagt, die Transzendentalphilosophie zwar faszinierend aber nicht überzeugend. Ein kritischer naturwissenschaftlicher Zugang zu den Dingen erscheint mir aussagekräftiger als idealistische oder am Alltag orientierte Weltanschauungen.




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