Kritik an den Naturwissenschaften

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Jörn Budesheim
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Fr 29. Sep 2023, 15:35

AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2023, 13:13
Wenn ich es richtig verstehe, sollen hier die Naturwissenschaften in einem sehr allgemeinen Sinn kritisiert werden.
Jein. Vielleicht eher so etwas: was kann der spezifische Beitrag von Philosophen und Laien zu den Naturwissenschaften sein.




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Stefanie
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Fr 29. Sep 2023, 19:13

Die Philosophie und auch andere Geisteswissenschaften ordnen die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften ein.
Gerade die Forschung zum Gehirn sind bei weitem nicht abgeschlossen. Das was bislang herausgefunden wurde, muss ja irgendwie eingebunden werden. Es ist ja nicht damit getan, festzustellen, dass bei einen Reiz irgendwo im Gehirn etwas aufblitzt.

Andererseits kann sich die Philosophie nicht neuen Erkenntnisse verschließen.

Was wäre die Wissenschaften ohne die Diskussionen über die berühmteste Katze der Wissenschaft.

Oder dass Libet Experiment, zu dem es auch neue Erkenntnisse gibt.
https://www.spektrum.de/news/die-wieder ... ns/1341194
https://www.planet-wissen.de/natur/fors ... nt100.html



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Jörn Budesheim
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So 1. Okt 2023, 16:27

Planet Wissen hat geschrieben : Haben wir einen freien Willen? Oder folgen unsere Handlungen einem Plan, der außerhalb unserer Kontrolle liegt? Diese Frage beschäftigt Wissenschaftler und Philosophen seit Langem – und sie ist bis heute nicht gelöst.
Dazu hätte ich einige Fragen.

Wie sollte es denkbar sein, dass es Wissenschaften insbesondere die Philosophie gibt, und wir zugleich nicht frei sind, das scheint sich mir auszuschließen. Der Umstand, dass wir Wissenschaften betreiben, zeigt neben vielen anderen Dingen meines Erachtens eindrücklich, dass wir frei sind. Das, was zeigt, dass wir frei sind, kann nicht zugleich zeigen, dass wir es nicht sind.

Soweit ich sehe, wird in dem Artikel nicht davon gesprochen, sondern es wird einfach vorausgesetzt, dass die Gehirnforschung mit ihren Methoden erkennen kann, ob wir frei sind oder nicht. Freiheit heißt unter anderem, dass wir in der Lage sind, uns in unseren Handlungen an Gründen zu orientieren. Gründe sind aber nichts, was im Suchfenster der Naturwissenschaften aufscheinen kann. Die Idee, nach der Freiheit zu fragen, indem man sich auf eine zufällige (und damit ja gerade nicht begründete) Handlung bezieht, ist nach gerade absurd.




Nick Nickless
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Mo 2. Okt 2023, 12:58

Quk hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2023, 14:43
Nick, richten sich Deine Vorwürfe gegen die Naturwissenschaft insgesamt oder nur gegen einzelne, bestimmte Personen dieses Gebiets?
...
An manchen Stellen wirken Deine Texte auf mich so, als würden sie die Bauern kritisieren, weil sie ihre Kartoffeln roh und nicht gebraten anbieten. Wie wäre es, die Naturwissenschaft als ein Lernelement von vielen aufzufassen, neben Philosophie, Mathematik, Sprache und so weiter? So lange man die Grenze jedes einzelnen Fachs weiß, sehe ich keine Gefahr, sondern Ergänzung. Ich möchte die Fächer kombinieren.
Quk, das ist schon die richtige Frage, aber leider schwer zu beantworten und die Antwort wohl noch schwerer zu verstehen.

Klar, an einer pragmatischen Kritik im Sinne einer Verbesserung des Wissenschaftsbetriebs (bessere Dokumentation, Offenlegung von Interessen und Geldgebern etc.) ist mir nicht gelegen. Das hat mit Philosophie nichts zu tun, und solches philosophisch begründen zu wollen, heißt mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Es geht mir nicht um »Vorwürfe« (was ohnehin zu moralisierend ist) an Institutionen, Personen, etc.

Ich habe gesagt, die »Nat.wiss.« sei keine Wiss., sondern wesentlich Teil eines technisch-praktischen Verfahrens. »You can manage, what you can measure«, - um Management geht es hier, nicht um die Wahrheit der Natur. Das hat nun auch nicht selbst den praktischen Sinn, dass die Nat.wiss. doch gefällst ihrem Namen Ehre machen (oder diesen ablegen) solle, um sich in Nat. phil. zu verwandeln, um Bratkartoffeln statt des ungewaschenen Rohstoffs zu liefern. Ja, die endliche, bedingte Wissenschaft wird es immer geben, und die Nat. phil. bedarf auch der Empiriker, die ihr den ungewaschenen, bestenfalls vorgekochten Rohstoff, also die unbegriffenen Phänomene, zuliefert (was man nicht als Empirismus deuten darf); wenn auch der Abstand nicht ganz so krass sein müsste, wie heute im Zeitalter der Anti-Philosophie. Diese Kritik hat letztlich nur den Sinn eines Weckrufs zur Philosophie, sei es der Natur oder des Geistes (wozu ja die Praxis gehört); dazu, dass das wirkliche, um die Wahrheit bemühte Denken nicht darin bestehen kann, die Natur oder Welt nach einem (woher auch immer) vorgegebenen Prinzip (Mechanismus) zu schematisieren; und sei das Prinzip auch die Praxis selbst, die den Physikalismus in Anführungszeichen setzt und als technisches Werkzeug gebraucht, also der Pragmatismus; was so ungefähr den wesentlichen Inhalt des Konstruktivismus (Nat. als prag. Fiktion), von Husserls Lebenswelt (als anschauliche Abstraktion), Marx’ Praxisdenken (das die Wahrheit der Natur als »rein scholastische Frage« abtut) und anderem.

Begibt man sich dann auf die Ebene der Philosophie, dann kommen wir zum eigentlichen, nämlich methodischen Sinn der Kritik: Philosophie nicht als Deduzieren und Schematisieren aus obersten Prinzipien, sondern als Kritik aller Prinzipien, als der Weg der Verzweiflung, der von Prinzip zu Prinzip springt, es jedes Mal kritisch destruiert, und dieses aber nicht im Nichts enden lässt, wie dies bei so vielen De(kon)strukteuren geschieht, sondern auf diesem Weg die Totaltität, den vollen Begriff des Ganzen rekonstruiert.

Solche Totalität impliziert dann natürlich die Kritik an einem reinen Nebeneinanderstellen von »Sachgebieten«: Der hält sich an Raum, Zeit, Logik, die reine Form (Mathe), eine zweite schematisiert mechanisch, der dritte biologisch, der vierte politisch, der dritte behauptet, die Hirngespinste des vierten seien rein biologisch zu betrachten (entzieht diesem also den Gegenstand), der zweite weiß es noch besser, alles nur Massepunkte, entzieht gleich seinen beiden Hintermännern den Gegenstand, und der Mathematiker sekundiert und sagt, außer der reinen Form sei ja wohl alles höchst zweifelhaft, weshalb er den Inhalt dem »Pi mal Daumen« überlasse. - Solches gleichgültige Nebeneinander funktioniert nicht und verfällt der Kritik, zerstört sich an ihm selbst. Oder die Hypostase, also das Überschreiten der »Grenze des Fachs«, das Setzen einer Gestalt als unbedingter, absoluter Wirklichkeit, ist notwendig und unvermeidlich, - eben die Grundlage der »transzendentalen«, also erkenntnisbegründenden, Dialektik.

Man muss also vielmehr die einzelnen Gebiete als Stationen eines Weges, eines Weges der Kritik und der Negation betrachten (auf dem freilich auch die Kritik wieder relativiert wird); und die Einheit dieses Weges ist die einzig wahre »Kombination der Fachgebiete«, nicht als Haufen, Chaos, Aggregat, Fakultätsregister, sondern als geistig-lebendiges, organisches Ganzes, als Gestalten der »Idee« im philosophischen Sinn. Also z. B.: die Mechanik von Raum-/Massepunkten löst sich auf in die individuelle Körperlichkeit, deren höchste Gestalt die Chemie ist, diese löst sich auf in die lebendige Individualität, die belebte Natur, die Pflanze und das Tier, und dessen höchste Gestalt, die voll ausgebildete geschlechtliche Beziehung zweier Individuen aufeinander, das ist das Sich-Finden des Geistes, als Einheit in der Zweiheit, in der Natur; wobei das Überholte seinem Sinn nach immer auch untergeordnet mitgenommen wird, aber doch nicht die eigentliche Wahrheit ist. Die Natur hat den Mechanismus an sich, aber IST keiner, sie ist in Wahrheit ein Lebewesen. Und solche Kritik oder Widerlegung geschieht dann eben nicht in der Weise, dass man die Mechanik mit den Tatsachen des Lebens konfrontiert, weil man diese irgendwo gefunden und dogmatisch festgezurrt hat, sondern auf dem Weg immanenter Kritik, als Selbstbestimmung, als kritisch-skeptisch-mephistophelisches Springen von Hypostase zu Hypostase, das sich niemals bei einem »Verweile doch, du bist so schön« fixiert; oder doch nur, um diese Fixierung eben als Hypostase zu erkennen, die das Denken weitertreibt, zum wahrhaften Begriff solcher Selbstbestimmung.

Darin liegt dann natürlich auch eine Kritik an denen, die meinen, sich diesen langen und mühsamen Weg der Kritik, diese konkrete Totalität, schenken zu können, die also beim Physikalismus stehen bleiben wollen, oder beim Biologismus, oder im Pragmatismus, der die Natur nur schräg ansieht und sein reines, naturfreies, eben geschlechtsloses Herren-Ich bauchpinselt, nicht begreift, dass eine lebendige Natur (die der Mechanismus bestreitet) ein solches Benehmen immer nur als ein Krebsgeschwür betrachten kann. Oder als Kritik an einer Politik, die sich auf die Seite der abstrakten Rechtlichkeit, des Eigentums, fixiert.

Aber auch diese Kritik relativiert sich dann dann noch im Rahmen der besonderen Umstände und der Geschichte (die eben aus solchen Verabsolutierungen auf breiter Front besteht); weil unter dieser bestimmten Gegebenheit, Zeit, Zweck, Ort, Umstand, z. B. der verständige Tunnelblick (die einseitig-undialektische Abstraktion) auf die Seite des Physikalismus, des technischen Tuns, der Alltagspraxis etc. durchaus angemessen und auch »alternativlos« ist, sogar noch als Teil der philosophischen Methodik, des künstlerischen Handwerks, solange man nicht durch blinde Maßlosigkeit das Ganze verstümmelt, - nur halt nicht als philosophische, künstlerische oder religiöse Auffassung dessen, was in Wahrheit wirklich ist, als die Wahrheit selbst, eben als Einheit von Subjektivität und Objektivität, Denken und Sein.




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Jörn Budesheim
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Mo 2. Okt 2023, 16:25

Nick Nickless hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2023, 12:58
Ich habe gesagt, die »Nat.wiss.« sei keine Wiss., sondern wesentlich Teil eines technisch-praktischen Verfahrens. »You can manage, what you can measure«, - um Management geht es hier, nicht um die Wahrheit der Natur.
Aber ist Messen wirklich das Kerngeschäft der Naturwissenschaften? Klar, Messen ist wichtig, aber hinzukommen müssen: gute Erklärungen. (Ist das nicht ähnlich wie beim Wahrnehmen? Natürlich kommt irgendwo in der Story auch Licht vor, aber ohne Erfahrungen, Phantasie, Imagination, Theorien etc. wäre man ja blind.)




immanka
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Di 3. Okt 2023, 11:31

Man muss da einiges auseinanderhalten. Naturwissenschaft sammelt zunächst eimal evidente Fakten. Man kann sich stundenlang darüber unterhalten, was Evidenz ist. Bleiben wir da mal unbefangen: Auf dem Tisch steht ein Bierglas. Ich sage; da steht ein Bierglas. Wir alle werden akzeptieren, dass die Aussage ein Faktum beschreibt, wenn sie wahr ist..Ich bin beim Gehen in Gedanken und renne gegen einen Laternenpfahl. Die phxphysikalischen Kräfte, die meinen Schädel brummen lassen, erscheinen evident real. Schon wieder ein neues Wort, wieder stundenlange Diskussionen. Lassen wir das hier mal weg. Also: Die Naturwissenschaft sammelt Daten. Die sind aber kein Selbstzweck und keine Wissenschaft. Siondern es geht in der Wissenschaft darum, aus solchen Daten Theorien, d.h. allgemeine Strukturen abzuleiten, die uns als "wissenschaftliche Erkenntnis" Einblicke in die Natur verschaffen, die wir denkend und handelnd weiter verwenden können. Wissenschaftliche Theorien sind also keine Fakten, außer bezogen auf den Wissenschaftbetrieb selbst, sondern falllible Interpretationen der Wirklichkeit.

Können wir als Laien solche wissenschaftlichen Theorien kritisieren? Im strengen Sinne nicht. Das können nur Experten. Umgekehrt: Da wir in kaum etwas Experten sind, können wir genau genommen über kaum irgendwelche Aussagen Urteile abgeben; auch ein bisschen wenig. Denn dann akzeptieren wir stillschweigend eine unhinterfragbar scheindende Expertrokratie. Um uns dennoch Urteile zu erlauben, können wir aber prüfen, inwieweit wissenschaftliche Aussagen sich in unseren Lebensontext plausibel einordnen lassen, um danach über ihren Wert ein vorläufiges Urteil abzugeben. Solche Urteile sind als /Private) Theorien über (wissenschaftliche) Theorien ihrerseits fallibel und aus den genannten Gründen von sehr begrenzter Gültigkeit. Aber sie können wertvolle Diskussionen auch unter Wissenschaftlern anregen.




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Quk
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Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

Di 3. Okt 2023, 12:34

immanka hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 11:31
Man muss da einiges auseinanderhalten. Naturwissenschaft sammelt zunächst eimal evidente Fakten. Man kann sich stundenlang darüber unterhalten, was Evidenz ist. Bleiben wir da mal unbefangen: Auf dem Tisch steht ein Bierglas. Ich sage; da steht ein Bierglas. Wir alle werden akzeptieren, dass die Aussage ein Faktum beschreibt, wenn sie wahr ist.
Das würde ich so nicht sagen, zumal der Kommentar bei "Evidenz" und "Faktum" selbstdemonstrierend ins tautologische Stolpern gerät.

Ich meine, Naturwissenschaft sammelt zunächst einmal Beobachtungen. Beobachtungen sind noch keine Fakten.

Die Beobachtung, auf dem Tisch stünde ein Bierglas, klingt natürlich trivial. Aber strenggenommen kann das eine Täuschung sein: Vielleicht ist das Apfelsaft in einem transparenten Plastikgefäß, und der Tisch ist eine Kiste mit einer Tischdecke drüber. Aufgrund dieser Unsicherheit kann ich diesen Sachverhalt weder als evident noch als faktisch beschreiben. Es ist eine Beobachtung, und die kann zu falschen Schlüssen führen, meine ich.

Ich denke, Begriffe wie "Fakten" und "Beweise" sind hilfreich in juristischen, aber nicht in wissenschaftlichen Angelegenheiten. Strikt gesagt gibt es sogar beim Gericht keine letzte Wahrheit, da auch das Gericht irren kann. Jene Begriffe haben eben auch in der Justiz nur eine formale Bedeutung, die der Prozessverwaltung dient, sprich: Sie sind Konstrukte, die die letzte Wahrheit nur vorgaukeln.

In meinen Augen umfasst die Wissenschaft folgende Aufgaben (in beliebiger Reihenfolge):
• Empirisch beobachten
• Rational vergleichen
• Rational Schlüsse ziehen
• Neue Hypothesen ausdenken
• Neue Vorgehensweisen ausdenken
• Erkenntnisse veröffentlichen

immanka hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 11:31
Wissenschaftliche Theorien sind also keine Fakten, außer bezogen auf den Wissenschaftbetrieb selbst, sondern falllible Interpretationen der Wirklichkeit.
Die Betonung auf den "Wissenschaftsbetrieb", dass dieser Fakten liefere (im Gegensatz zur "Wissenschaft"), erinnert mich an diesen Kommentar ...

viewtopic.php?p=68371#p68371

... des Mitglieds namens "Körper". Seid Ihr verwandt? :-)




Nick Nickless
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Di 3. Okt 2023, 13:12

Körper hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2023, 18:55
Experiment war jetzt etwas vorschnell und sicherlich zu spezifisch naturwissenschaftlich.
Weiter vorne im Thread habe ich "Tatsache" auf das "Vorliegen einer Situation" gegründet und "Experiment" als speziellen Fall dazu angesprochen.

Könntest du dich damit anfreunden, dass es bei "Farben" um die Frage geht, liegen sie vor oder liegen sie nicht vor, im Sinne von "Teil der Realität" oder "nicht Teil der Realität"?
(das soll jetzt nichts daran ändern, dass wir immer noch keinen Einfall haben, wie das festgestellt werden könnte)
Sieh dich doch einfach mal um in den ganzen Philosophieforen im großen WWW. Da wirst du unzählige Threads finden mit dem Titel: Was ist Realtiät? Oder Wirklichkeit, Sein, Existenz, Tatsache? Wie werde ich ihrer habhaft? Wie erkenne ich sie? Wozu ist sie gut? Wie unterscheidet sich Sein und Schein? Gleich um die Ecke: Erscheinung und Wirklichkeit, - lauter Diskussionen mit dem Ergebnis +/- 0. Und da kommst du jetzt um die Ecke, und willst mir sagen: Fangen wir doch einfach mit den Tatsachen an, wie sie sich eben so finden, nenn sie meinetwgen Realität, wenn du magst, und lassen wir die Hirngespinste beiseite. - Die Tatsachen sind das Ziel der Erkenntnis, niemals ihr Anfang. Und wer das anders sieht, wer sich auf Fakten beruft, der treibt eben Autoritätsspielchen, - eben Erkenntnisse ohne Begründung und Rechtfertigung per Ukas als gültig zu proklamieren.

Und rein hypothetisch: Wenn wir die Tatsachen denn hätten am Anfang, was würden wir denn damit noch anstellen? Wir könnten sie doch bloß noch in irgendwelche Schubladen stecken, um sie bei Bedarf wieder hervorzukramen, oder um sagen zu können: Bisher waren alle gefundenen Raben schwarz. Aber all dies ist eine rein archivarische oder bibliothekarische Tätigkeit, keine Tätigkeit der Erkenntnis, denn die Tatsachen, also das Erkannte, die Erkenntnis, wird dadurch um kein Jota verändert. Auch nicht dadurch, dass noch irgendetwas hinzuvermutet wird.

Egal also, ob wir mit den Tatsachen oder mit den Hirngespinsten anfangen, wir kommen über den ersten Schritt niemals hinaus. Um Tatsachen und Hirngespinste unterscheiden zu können, müssten wir im Grunde bereits vorher das Unterscheidungskriterium, also die Wahrheit, also wieder die Tatsachen kennen, und wir müssten also schwimmen lernen, bevor wir ins Wasser gehen.

Dasselbe gilt dann auch für den Versuch, mit Wahrnehmungsurteilen anzufangen und aus diesen die Tatsachen zu entnehmen, im Sinne von Protokollsätzen; was ich keineswegs verlangt habe, sondern nur, dass man nicht grundlos über sie hinweggeht. Es ist eben eine grundsätzlich verkehrte Vorstellung von Erkenntnis, dass man sich zunächst an irgendwelche ungedachten, wie auch immer bloß wahrgenommenen Tatsachen, Fakten, Sinnesdaten, Empfindungen hält, und dann nachträglich, in einem zweiten Schritt, auf Basis und über diese Gegebenheiten, den Rohstoff, reflektiert, gedacht, Wiss. getrieben, Schlüsse gezogen, hypothetisiert wird. Das sind pragmatistische Handwerkervorstellungen, wo ein Ich ein Material ergreift, um es mit dem Werkzeug der Erkenntnis zu formieren. Oder es ist eine Vorstellung, die innerhalb der Erkenntnis, auf Basis eines erkannten Rahmens, einen gewissen Sinn macht, aber niemals als Erklärung von Erkenntnis selbst. Innerhalb eines vorgegebenen, sehr umfänglichen Rahmens kann man auch problemlos von Tatsachen sprechen, dass eben dies und das innerhalb dieses Rahmens so und so aufzufassen ist, etwas als dieses bestimmte etwas zu deuten ist; aber man kann niemals den Rahmen (um den es der Philosophie sehr wohl geht) auf Tatsachen zurückführen wollen, das ist immer nur Dogmatismus, der Faktum und Auslegung verwechselt.




Körper
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Registriert: Fr 18. Feb 2022, 20:14

Di 3. Okt 2023, 20:24

Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
Und da kommst du jetzt um die Ecke, und willst mir sagen: Fangen wir doch einfach mit den Tatsachen an, wie sie sich eben so finden, nenn sie meinetwgen Realität, wenn du magst, und lassen wir die Hirngespinste beiseite
Mit "Tatsache" drücken wir Zusammenhänge aus, die wir einer vorliegenden Situation entnehmen.
Bei vorliegenden Situationen sind wir zur Akzeptanz gezwungen.

Versuch durch einen Tisch zu gehen und der entscheidende Moment (du wirst wissen, welcher es ist) ist die vorliegende Situation, aus der du die relevanten Zusammenhänge entnehmen und als "Tatsache" vertreten kannst (vor dir selbst oder vor anderen, egal).
Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
Die Tatsachen sind das Ziel der Erkenntnis, niemals ihr Anfang.
Nein.
Die am einfachsten zu erreichende Tatsache ist: etwas nicht zu wissen.

Jede Art von Erkenntnis startet somit mit einer Tatsache: der Tatsache, dass die Erkenntnis noch nicht erschlossen ist.

Etwas nicht zu wissen, ist für den Betroffenen eine unveränderbar vorliegende Situation, denn er kann nicht mit Wissen reagieren.
Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
Egal also, ob wir mit den Tatsachen oder mit den Hirngespinsten anfangen, wir kommen über den ersten Schritt niemals hinaus. Um Tatsachen und Hirngespinste unterscheiden zu können, müssten wir im Grunde bereits vorher das Unterscheidungskriterium, also die Wahrheit, also wieder die Tatsachen kennen, und wir müssten also schwimmen lernen, bevor wir ins Wasser gehen.
Nein, "Wahrheit" ist das Resultat eines Beurteilungsvorganges und basiert im Idelafall auf Tatsachen.

Bei Tatsachen ist man ausgeliefert und kann die Situation nicht durch Beurteilung beeinflussen.

Der Begriff "Wahrheit" ist hier somit falsch.
Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
wir müssten also schwimmen lernen, bevor wir ins Wasser gehen.
Wer sagt, dass wir nicht Bewegung lernen, bevor wir uns bewegen?
Wer sagt, dass wir nicht Bewegung lernen müssen, bevor wir Bewegung planen.
Wer sagt, dass "Denken" keine Form von Bewegungsplanung ist?

Du selsbt verwendest Wörter wie "Start" und "Ziel" wenn es um Erkenntnis geht.
Warum verwendest du diese Bewegungs-Wörter und weshalb verstehe ich, was du damit ausdrückst?
Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
Die Tatsachen sind das Ziel der Erkenntnis, niemals ihr Anfang. Und wer das anders sieht, wer sich auf Fakten beruft, der treibt eben Autoritätsspielchen, - eben Erkenntnisse ohne Begründung und Rechtfertigung per Ukas als gültig zu proklamieren.
...
Egal also, ob wir mit den Tatsachen oder mit den Hirngespinsten anfangen, wir kommen über den ersten Schritt niemals hinaus. Um Tatsachen und Hirngespinste unterscheiden zu können, müssten wir im Grunde bereits vorher das Unterscheidungskriterium, also die Wahrheit, also wieder die Tatsachen kennen, und wir müssten also schwimmen lernen, bevor wir ins Wasser gehen.
...
Dasselbe gilt dann auch für den Versuch, mit Wahrnehmungsurteilen anzufangen und aus diesen die Tatsachen zu entnehmen, im Sinne von Protokollsätzen; was ich keineswegs verlangt habe, sondern nur, dass man nicht grundlos über sie hinweggeht. Es ist eben eine grundsätzlich verkehrte Vorstellung von Erkenntnis, dass man sich zunächst an irgendwelche ungedachten, wie auch immer bloß wahrgenommenen Tatsachen, Fakten, Sinnesdaten, Empfindungen hält, und dann nachträglich, in einem zweiten Schritt, auf Basis und über diese Gegebenheiten, den Rohstoff, reflektiert, gedacht, Wiss. getrieben, Schlüsse gezogen, hypothetisiert wird.
Jede deiner Behauptungen möchtest du mir als unveränderbare Situation, also als Tatsache, vermitteln.
Du bist dir dessen halt nicht bewusst, aber du möchtest mit Tatsache starten.

der Höhepunkt ist wohl das hier:
Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
aber man kann niemals den Rahmen (um den es der Philosophie sehr wohl geht) auf Tatsachen zurückführen wollen, das ist immer nur Dogmatismus, der Faktum und Auslegung verwechselt.
Mach mal einen Schritt zurück: siehst du, dass du exakt mit dieser Behauptung, die du als Tatsache durchsetzen möchtest, ein Dogma lieferst?

In deiner Behauptung ist explizit enthalten, dass du den Schritt nicht auf Basis von Tatsachen machen kannst und damit möchtest du sie mit Macht durchdrücken.

Nichts davon muss ich annehmen.
Mit einem Fingerschnipser kann ich dieses Weltbild über die Tischkante entsorgen, denn nur bei Tatsachen bin ich ausgeliefert und kann nicht anders, als zustimmen.

Du stehst, so leid es mir tut, vor der Aufgabe, dass du für jede deiner Behauptungen den Tatsachenstatus erarbeiten und vorlegen musst.
Tust du es nicht, dann führst du eine nette Show auf, aber mehr ist es nicht.
So etwas darf dann nicht zur Wissenschaft gezählt werden.

Zusatz:
Vorsicht mit "man kann nicht"-Behauptungen, denn du möchtest ja die Fähigkeit zum Aufstellen der Behauptung mit Tatsachenstatus haben können, während du aber sagst, dass du die Fähigkeit nicht hast.
Unmittelbarer Widerspruch.




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Jörn Budesheim
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Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
Wenn wir die Tatsachen denn hätten am Anfang, was würden wir denn damit noch anstellen? Wir könnten sie doch bloß noch in irgendwelche Schubladen stecken, um sie bei Bedarf wieder hervorzukramen, oder um sagen zu können: Bisher waren alle gefundenen Raben schwarz. Aber all dies ist eine rein archivarische oder bibliothekarische Tätigkeit, keine Tätigkeit der Erkenntnis, denn die Tatsachen, also das Erkannte, die Erkenntnis, wird dadurch um kein Jota verändert. Auch nicht dadurch, dass noch irgendetwas hinzuvermutet wird.
1827 beobachtete Robert Brown unter dem Mikroskop, dass sich Pollen in wässriger Lösung bewegen. Eine Tatsache, die heute als Brownsche Bewegung bekannt ist. Er sucht nach einer Erklärung für dieses Phänomen und findet sie: Pollen sind lebendig. Doch eine andere Tatsache spricht dagegen: Auch Staubkörner bewegen sich in wässriger Lösung. So verwirft Brown seine erste Hypothese. Was zählte, waren die Tatsachen und das, wofür sie vermutlich sprachen. Später fand Einstein eine befriedigendere Erklärung für die sogenannte Brownsche Bewegung.
Nick Nickless hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 13:12
Die Tatsachen sind das Ziel der Erkenntnis, niemals ihr Anfang.
Wenn man sich mein Beispiel ansieht, scheint das nicht zu stimmen. Am "Anfang" stand eine Tatsache, die fragwürdig war, und das Ziel war, eine gute Erklärung dafür zu finden. Tatsachen sind schließlich das, was nach einer Erklärung verlangt. (Pollen bewegen sich in der Lösung; aber warm?) Und: Ohne Tatsachen (Nicht nur Pollen bewegen sich in wässriger Lösung, Staubkörner auch) kann man nicht argumentieren, kann man keine Hypothesen aufstellen und in Frage stellen.

Noch ein Beispiel - ich bin nicht gut in Physik, ich hoffe, ich habe das richtig zusammen gegoogelt: Der Photoeffekt tritt auf, wenn Licht auf eine Metalloberfläche trifft und Elektronen aus dem Metall herausgeschlagen werden. Die klassische Elektrodynamik konnte nicht erklären, warum die Anzahl der herausgeschlagenen Elektronen von der Intensität des Lichts abhängt, nicht aber von seiner Frequenz. Albert Einstein erklärte dieses Phänomen 1905 mit Hilfe der Quantentheorie und postulierte, dass Licht in diskreten Paketen (Photonen) existiert.

Auch hier das gleiche Muster. Am "Anfang" steht eine Tatsache (der Photoeffekt), für die es keine gute Erklärung gibt. Das Ganze führt dann zur ersten Quantenrevolution.

Anfang hab ich übrigens in Anführungszeichen gesetzt, weil ich glaube, dass dieses Bild (die Erkenntnis hat einen Anfang) bereits irreführend ist.




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immanka hat geschrieben :
Di 3. Okt 2023, 11:31
Können wir als Laien solche wissenschaftlichen Theorien kritisieren? Im strengen Sinne nicht. Das können nur Experten.
Nehmen wir zum Beispiel das berühmte Libet-Experiment, das ich bereits erwähnt habe: Eine Versuchsperson sollte sich willkürlich und spontan entscheiden, die Hand zu heben, während sie eine Uhr beobachtete. Er wurde gebeten, den Zeitpunkt seiner bewussten Entscheidung, die Hand zu heben, und den tatsächlichen Zeitpunkt des Handhebens so genau wie möglich zu notieren. Es zeigte sich, dass das sogenannte Bereitschaftspotential bereits vor der bewussten Entscheidung, die Hand zu heben, aufgebaut worden war. Einige Interpreten meinten, dies stelle unsere Freiheit in Frage.

Ich finde, das kann auch ein Laie kritisieren. Denn was soll das zufällige Heben der Hand mit unserer Freiheit zu tun haben? Die Freiheit ist eigentlich aus dem Experiment "gestrichen" worden, weil nicht ein Grund entscheiden soll, sondern der Zufall.




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Quk
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Mi 4. Okt 2023, 10:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2023, 08:31
1827 beobachtete Robert Brown unter dem Mikroskop, dass sich Pollen in wässriger Lösung bewegen. Eine Tatsache, die heute als Brownsche Bewegung bekannt ist.
Wir scheinen den Begriff "Tatsache" unterschiedlich zu definieren.

Streng philosophisch gesehen hat für mich die "Tatsache" nur eine Bedeutung im Zusammenhang mit "Aussagen" und mit "Wahrheit":

Wenn eine Aussage mit der Tatsache übereinstimmt, ist die Aussage wahr.

Das ist für mich der formale Zusammenhang. Einen letzten positiven Beweis zu finden, ob eine Aussage mit der Tatsache übereinstimmt, ist meiner Auffassung nicht möglich. Daher können wir über Tatsächliches buchstäblich nicht genau sprechen. Wir können nur vermuten.

Die Aussage "Pollen bewegen sich in wässriger Lösung" ist nicht sicher wahr, daher kann ich nicht behaupten, sie sei eine Tatsache. Vielleicht bewegen sich nicht die Pollen, sondern die Flüssigkeit? Vielleicht sind das gar keine Pollen? Vielleicht hat das Mikroskop einen optischen Schaden? Vielleicht stand Brown unter Drogen? Vielleicht hat er gelogen? Und so weiter. Also, meiner Ansicht nach beschreibt diese Aussage keine Tatsache, sondern eine Beobachtung. Dazu wird diese Beobachtung nur berichtet. Wer weiß, ob dieser Bericht kein Gerücht ist?

Ich denke, diese Differenzierung ist nicht nur in der Wissenschaft notwendig, sondern auch im Journalismus, besonders im Wissenschaftsjournalismus. Man erinnere sich an die vielen berichteten "Tatsachen" während der Corona-Pandemie. Ich finde es wichtig, die Begriffe zu differenzieren.




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Jörn Budesheim
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Quk hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2023, 10:42
Wir scheinen den Begriff "Tatsache" unterschiedlich zu definieren.
Angenommen, ich stimme dir zu (was ich nicht tue) und füge eine entsprechende Einschränkung in den Text ein, was würde das an der Ausrichtung des Textes ändern? Ich glaube nicht, dass das, was ich im Text sagen will, davon berührt wird. Die Tatsache, dass eine Erklärung für die Brownsche Bewegung fehlt, ändert sich nicht.




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Quk
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Mi 4. Okt 2023, 18:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2023, 16:33
... an der Ausrichtung des Textes ...
Welche Ausrichtung meinst Du? Die geschichtliche? Die methodische? Die verbale? Ich denke, die verbale Ausrichtung ändert sich dann hin zu der Klärung, dass eine Beobachtung eine Täuschung sein kann, und eine Tatsache immer nur eine Tatsache sein kann. Diese Erkenntnis ist doch wichtig fürs Leben. Wenn eine Tatsache eine Täuschung wäre, wäre sie ja keine Tatsache. Eine Beobachtung hingegen kann sich richtigerweise oder fälschlicherweise auf eine Tatsache beziehen, denn eine Beobachtung ist sinnlich (empirisch), und eine Tatsache ist nicht sinnlich; sondern die Tatsache ist dasjenige, was die beobachtenden Sinne meinen zu detektieren.

Du schriebst:
"1827 beobachtete Robert Brown unter dem Mikroskop, dass sich Pollen in wässriger Lösung bewegen.
Eine Tatsache, die heute als Brownsche Bewegung bekannt ist."


Der erste Satz spricht von einer Beobachtung.
Der zweite, ergänzende Satz sagt statt "Beobachtung" "Tatsache".
Heißt das, die beiden Wörter sind für Dich synonym?




Nick Nickless
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Do 5. Okt 2023, 12:09

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2023, 16:25
Nick Nickless hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2023, 12:58
Ich habe gesagt, die »Nat.wiss.« sei keine Wiss., sondern wesentlich Teil eines technisch-praktischen Verfahrens. »You can manage, what you can measure«, - um Management geht es hier, nicht um die Wahrheit der Natur.
Aber ist Messen wirklich das Kerngeschäft der Naturwissenschaften? Klar, Messen ist wichtig, aber hinzukommen müssen: gute Erklärungen.
1. Das alles schließt das kurze Sätzchen ja gar nicht aus. Es sagt lediglich: Wenn du steuern, kontrollieren, managen willst, dann halte dich an die quantitative Seite der Natur, suche nach quantifizierbaren Zusammenhängen, Theorien und stelle sie in Gestalt einer mathematischen Formel, die Wirkung als Funktion der Ursache, W=f(U), dar. Und das heißt eben: Fasse die Natur von ihrer mechanischen Seite her auf, als Zusammenhang von Druck und Stoß etc., und sei es auch nur modellhaft, dar; als Kausalzusammenhang (A -> B), leugne alle innere, organische Teleologie (die das Leben definiert). Quantität ist eben das (zunächst qualitativ gleichgültige) veränderliche Mehr oder Weniger, an dem eine Sache ergriffen und ihre Qualität verändert werden kann, was ganz unmittelbar, im direkten Zugriff auf die Qualität, unmöglich ist.

2. Mit Erklärungen ist es in der Nat.wiss. halt so eine Sache; im strengen Sinne erklärt sie nämlich gar nichts, sondern stellt nur Gesetzeshypothesen auf, die sie durchaus nicht erklärt, beweist oder begründet, sondern nur bewährt. Alle Dinge fallen gemäß dem Fallgesetz; - warum, das weiß sie nicht. Die Berufung auf die Schwerkraft ist auch nur eine logische Umformulierung des Umstands, dass die Dinge eben fallen: Die Schwerkraft ist nichts als das X, das die Dinge eben fallen lässt. Das ist nur ein tautologisches Spiel mit Worten, abgesehen von der Behauptung, DASS ein Grund da ist, die Bewegung nicht grundlos ist.

Wenn alle Dinge fallen, gemäß dem Gesetz, dann fällt auch dieser Apfel hier; oder wenn er gefallen ist, dann deshalb, weil alle Dinge nach der Hypothese gesetzmäßig fallen. Diese sekundäre Ableitung kann man dann wieder eine Erklärung nennen; und natürlich sind solche Erklärungen das Hauptgeschäft von Technikern und Wiss., ist ja nicht jeder ein Newton. Aber es ist halt eben eine Erklärung, die letztlich im bloß Hypothetischen endet; der primäre Inhalt der Wiss., ihre Gesetzesaussagen, die werden gerade nicht erklärt, eben auch nicht in Zusammenhang der ganzen Wirklichkeit gestellt (was das philosophische Begreifen tut), solche wird allenfalls geleugnet. Da sagt man dann: Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist; ein Satz, über den Goethe sich ja sehr mokiert hat.

3. Solche primären Erklärungen interessieren die Nat.wiss. auch nicht wirklich. Zum einen kann ohnehin keine Wiss. ihre eigenen Grundbegriffe begründen, allenfalls eine Wiss.theorie z. B. durch Reflexion auf den praktischen Zweck. Zum anderen ist für praktische Zwecke die primäre Erklärung auch ganz überflüssig, es genügt die praktisch hinreichende Zuverlässigkeit der Hypothesen, die hinreichende Näherung an den Zusammenhang, um eben Maschinen zu bauen. Die wirkliche Erklärung ist für den Techniker nur »Schmuck am Nachthemd«, »in Schönheit sterben«, oder er sagt schlicht: »Für Wahrheit, Schönheit werde ich nicht bezahlt«. Und wenn man den Pragmatismus hypostasiert, wie es denn unvermeidlich ist, dann ist es eben mit aller Wahrheit und Schönheit dahin.

4. Jede Messung geschieht mit einem Messgerät, das einen Gesetzeszusammenhang impliziert und voraussetzt, den man kennen und verstehen muss. Messungen kann man kombinieren zu Messreihen oder zu ganzen Bildern. Ein (E-) Mikroskop ist auch nichts anderes, Röntgen, Computertomografie, usw. Bildgebende Verfahren kann man das nennen, und wenn man das Verfahren versteht, dann kann man das Mess-Bild auch eine Beobachtung, eine (Ausgangs-) Tatsache, einen Befund, sogar das Foto (eines Organs, gar eines »schwarzen Lochs«) nennen, und niemand wird diese Redeweise missverstehen, außer ein paar Erkenntnistheoretikern, die an Worten festkleben und aus diesen eine schlichte, theoriefreie Unmittelbarkeit, ein zwingendes »rock bottom fact«, herauslesen wollen. Dasselbe gilt dann auch für das Sehen, Hören, Tasten von Tischen, Biergläsern und was auch immer; auch dies impliziert massenhaft Vorannahmen über Farbenblindheit, Lichtverhältnisse, Linsenbrechung, den Zustand des Wahrnehmenden, mancher hat schon zwei Biergläser anstatt einem gesehen, - jede halbwegs brauchbare Beobachtung setzt eine Menge an Vorwissen voraus, das sich die Menschheit über lange Zeiten angeeignet hat, was sie aber bei einer schlichten Wahrnehmung für gewöhnlich vergisst, solange nichts Irritierendes geschieht. (Husserls Phänomenologie treibt sich in diesem Sinne mit der Konstitution des Gegenstandes (Objekts) aus Empfindungen und solchem Vorwissens, als Vor-Leistungen des Subjekts, herum. Da es damit nicht so recht fortwollte, ist er zu den angeblich schlichten, unhinterfragbaren Tatsachen der Lebenswelt, in der »natürlichen Einstellung«, zurückgeflohen.)

Sakrosankt sind solche »Tatsachen« natürlich in keiner Weise; wenn es mit dem weiteren Fortgang der Erkenntnis zur eigentlichen Wirklichkeit (der Ergebnistatsache) nicht richtig voran will, dann geht man auf die Messungen zurück und fragt, ob vielleicht ein Messfehler vorgelegen hat, die »Tatsache« also gar keine war; kann ja von tausend Umständen abhängen: falsche Ablesung des Messgeräts, ein Defekt, falsche Konfiguration, ein Windstoß, der das Thermometer verwirrt hat, weil ein Fenster nicht geschlossen hat, all das ist Teil des Verfahrens, des Rahmens. Auch solche Gesetzmäßigkeiten und Tatsachen kann man dann wieder infrage stellen. Und selbst wenn man gar nichts findet, kann es sein, dass man diese »Tatsache« einfach auf dem Müllhaufen der ungelösten Probleme ablegt; man kann ja nicht wegen jeder widersprechenden Messung gleich das Gravitationsgesetz außer Kraft setzen; die »Theorie«, die »Erklärung« hat dann eben Vorrang vor der »Tatsache«. Zwingend, also alternativlos, ist da rein gar nichts.

5. Die durch einzelne Messungen (»Tatsachen«) gewonnenen Gesetzesaussagen sind also selbst abhängig von allgemeinen Gesetzen, die wieder auf einzelnen Messungen basieren. Oder das einzelne Faktum basiert auf einem allgemeinen Prinzip, und dieses wieder auf einem einzelnen Faktum. D. h. das ist ein unauflöslicher Zirkel, den man auch so formulieren kann, dass die allgemeine Idee, in jedem Einzelnen gegenwärtig ist, und dieses ohne jene nichts ist, wie auch umgekehrt. Gewöhnlich löst man den Zirkel dann wieder pragmatisch auf, durch die größere Zweckmäßigkeit einfacher Formeln; aber wenn die Zweckmäßigkeit eine objektive sein soll, dann führt das wieder auf denselben Zirkel, sodass man gezwungen ist, sich auf die rein subjektive Zweckmäßigkeit zurückzuziehen: eben auf ein subjektives Wohlbefinden von wem auch immer. D. h. aber ohne ein vernünftiges Zentrum, ohne die Idee dessen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, wie Einzelheit und Allgemeinheit, Prinzip und Faktum, zusammenhängen, ist alle Wissenschaft (die man natürlich nicht gerade mal eben testweise umkonfigurieren kann), jedes Faktum und jedes Prinzip, bloß Irrationalismus.




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Jörn Budesheim
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Nick Nickless hat geschrieben :
Do 5. Okt 2023, 12:09
Mit Erklärungen ist es in der Nat.wiss. halt so eine Sache; im strengen Sinne erklärt sie nämlich gar nichts,
Weil du selbst die Schwerkraft erwähnst. So ungefähr stelle ich sie mir vor und ich schätze, die meisten kennen solche Erklärungen: Der Raum ist nicht homogen und "flach", sondern wird durch massive Objekte wie Planeten oder Sterne gekrümmt. Diese Massen verursachen eine Art Vertiefung in der Raumzeit um sie herum, so wie eine Kugel eine Vertiefung in einem Tuch verursacht, in dem sie liegt. Wenn sich nun etwas in der Nähe dieser Vertiefung bewegt, folgt es der gekrümmten Bahn und wird in Richtung des massiven Objekts gezogen.

Ich finde schon, dass das so etwas wie eine Erklärung ist. Warum nicht?

Oder hier:

Evolution ist der Prozess, durch den sich Lebewesen über Generationen hinweg verändern. Organismen unterliegen zufälligen genetischen Veränderungen. Vorteilhafte Veränderungen werden weitergegeben, nachteilige verschwinden. Diese sogenannte "natürliche Auslese" begünstigt gut angepasste Organismen.

Beides ist natürlich extrem vereinfacht, aber ich würde sagen, es handelt sich jeweils um Erklärungen. Oder?




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Quk
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Do 5. Okt 2023, 16:47

Den Gedanken, dass eine Erklärung nicht wirklich etwas erklärt, kann ich nachvollziehen.

Aber bei näherer Draufsicht sehe ich schon ihren Nutzen. Ich erkläre mir den Nutzen einer Erklärung so:

Zum einen kann es um Klärung gehen. Eine Kläranlage nimmt überflüssige Teile aus dem Schlamm, dann wird die Sache klarer.
Zum anderen kann eine Erklärung der Sache weitere Einzelheiten hinzufügen, dann wird die Sache informativer, möglicherweise auch komplexer.

Die Erklärung "E=mc^2" hat überflüssige Teile entfernt.
Die Erklärung, wie Raum und Zeit zusammenhängen, hat Einzelheiten hinzugefügt und die Sache komplexer gemacht.

Diese Veränderungen geben Anlass, gewisse Thesen zu verwerfen oder neue Experimente auszudenken, die wiederum neue Entdeckungen ermöglichen und entsprechende Erklärungen verlangen, wobei jede Erklärung immer nur vorläufig gilt. So verfeinert die Wissenschaft stetig ihr Vermutungswissen. Sie ist nie abgeschlossen, weil der Erklärbär niemals ruht ...




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Jörn Budesheim
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Do 5. Okt 2023, 18:10

Bekannt sind die vielen Gedankenexperimente von Albert Einstein, mit denen er auf revolutionäre Ideen kam. Jedenfalls wird es so erzählt. Er stellte sich zum Beispiel einen Aufzug vor (ohne Fenster, damit die Person nicht sieht, wo sie sich befindet). Auf der Erde spürt eine Person in diesem Aufzug die Schwerkraft, die sie nach unten zieht.

Im Gedankenexperiment wechseln wir nun in den Weltraum und der Aufzug wird durch ein Raketentriebwerk beschleunigt. Die Person weiß von alledem nichts, sie würde immer noch zu Boden gedrückt, ohne den Unterschied zur Erde wahrnehmen zu können.

Diese Überlegungen führten zu Einsteins Äquivalenzprinzip, der Grundlage seiner Allgemeinen Relativitätstheorie. In der Folge kam Einstein zu der verblüffenden Erkenntnis, dass die Gravitation durch die Krümmung von Raum und Zeit aufgrund der Anwesenheit von Masse entsteht: Ein völlig neues Weltbild war geboren - und das durch reines Nachdenken.

Einstein hatte offenbar eine wunderbare Fantasie und das war wohl ein großer Teil seines erstaunlichen Erfolgs, wenn natürlich auch letztlich das mathematische Handwerk hinzukommt. Nichtsdestotrotz zeigt das, dass die Wissenschaft nicht im Wesentlichen aus Messungen besteht.

Was machen eigentlich theoretische Physiker den ganzen Tag? Die Messen doch nicht, oder?




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Quk
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Do 5. Okt 2023, 18:24

Die nehmen bekannte Messdaten als Ausgangspunkt für ihr fantasievolles Weiterdenken. Zukünftige Messdaten werden möglicherweise ihre theoretischen Voraussagen empririsch bestätigen. So ist es auch bei Einsteins Theorien geschehen, später durch die Beobachtung von Sternen während einer Sonnenfinsternis, oder neulich bei den Detektoren der Gravitationswellen. Einsteins Theorien sind kühn und offensichtlich extrem robust.




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AufDerSonne
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Do 5. Okt 2023, 19:51

Nick Nickless hat geschrieben :
Do 5. Okt 2023, 12:09
Wenn alle Dinge fallen, gemäß dem Gesetz, dann fällt auch dieser Apfel hier; oder wenn er gefallen ist, dann deshalb, weil alle Dinge nach der Hypothese gesetzmäßig fallen.
Es gibt eben Beobachtung und Erklärung.
Dass alle Dinge nach unten fallen, ist eine Beobachtung.
Das Gravitationsgesetz ist dann die mathematische Erklärung, warum das so ist.

Man sieht in deinem Text sehr schön, wie du diese zwei Dinge, Beobachtung und Erklärung, nicht differenzierst.
Ich finde, das sind schon wirklich verschiedene Dinge.



Ohne Gehirn kein Geist!

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