Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 5. Feb 2024, 08:21
Ein Beispiel, wovon ich rede: Marie will zeichnen lernen, sie ist gerade zehn Jahre alt. Wie kommt das? Nun, ich vermute, dass wir alle eine gewisse Veranlagung zur künstlerischen Tätigkeit in uns tragen, die sich natürlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausprägt. Aber das erklärt es vielleicht noch nicht, was kommt noch dazu? Es gibt Vorbilder. Ihre große Schwester zeichnet auch und ihr Großvater ist ein leidenschaftlicher Hobbyzeichner. Er zeigt ihr seine eigenen Bilder, hat ihr auch schon ein Buch mit Zeichnungen aus der Renaissance geschenkt. Im Internet hat er ihr Zeichnungen von Horst Janssen gezeigt. Das hat Marie besonders fasziniert, so wie er möchte sie auch zeichnen können, sie ahmt ihn nach und macht schnell große Fortschritte.
Was ist das für ein Prozess? Ich würde sagen, Marie wird Schritt für Schritt in die Welt des Geistes eingeführt. Natürlich spielt die Kausalität auch eine Rolle, sonst würde der Stift nicht die Farbe auf dem Papier hinterlassen, aber
der Geist und das Leben werden mit den beiden Stichworten Kausalität un Inkausalität völlig ausgeblendet. Marie entwickelt beim Zeichnenlernen ein Gefühl dafür, was auf dem Papier richtig ist, was sich gut anfühlt, was schön ist. (Und natürlich auch, wie man eine Nase zeichnet.) Und damit ist sie auch im Einklang mit den anderen, denn die Vorbilder sind Teil dieses Eintauchens in das Bad des Geistes. Später wird sie den Einklang womöglich hinter sich lassen und nach neuen Wegen suchen, auch das ist Teil der Welt des Geistes.
Mein Vorschlag ist, wenn wir von Freiheit sprechen, dann sprechen wir vom Menschen und nicht von Gravitation und dergleichen. Inwiefern andere Tiere auch frei sind und in welcher Hinsicht will ich offen lassen.
Der Geist und das Leben werden mit Kausalität und Inkausalität keineswegs ausgeblendet, denke ich.
Ich meine, auch da geht es um Geschichte. Geschichte ist eine Sequenz von Ereignissen und Übergängen entlang der Zeitausdehnung.
Wie kommen diese Ereignisse und Übergänge zustande? Na, durch Kausalität oder Inkausalität. Mal so, mal so. Wodurch könnten sie sonst noch zustande kommen? Durch so etwas wie Semikausalität, irgendwas zwischen Kausalität oder Inkausalität? Ein "bisschen" kausal? Ich glaube nicht. Oder vielleicht durch irgend etwas
jenseits von Kausalität oder Inkausalität? Was wäre das, Jörn? Also wie kommen Deine Lebens-Geschichten zustande, während Du Kausalität und Inkausalität als etwas lebensfeindliches betrachtest? Was stellst Du Dir da tatsächlich vor? Es muss wohl etwas statisches, zeitloses sein. Irgend ein "Jenseits" oder Nirvana oder so, in ganz anderen Dimensionen außerhalb der Zeit. Aber wo ist
da denn das Leben, bitte?
Marie ist ein Lebewesen, das ohne die Zeitdimension keins wäre, denn das Leben ist eine Geschichte; eine Geschichte braucht Zeit. Woraus besteht eine Geschichte entlang ihrer Zeitausdehnung? Aus vielen Ereignissen, aus Veränderung. Die Veränderung mag graduell oder schrittweise erfolgen; egal, jedenfalls muss Veränderung stattfinden, andernfalls kommt keine Zeit, und somit keine Geschichte zustande. Wenn alle Sachverhalte der Gesamtwelt unverändert wären, stünde die Zeit still. Mit "alle" meine ich wirklich alle. Auch die letzte versteckte Referenz-Uhr in der allergöttlichsten Instanz hinter sämtlichen Universen veränderte sich dann nicht, denn ich meine "alle". Alles stünde still.
Also, für mich ist völlig klar, dass Lebendigkeit und auch geistige Tätigkeit Geschichten schreiben. Ohne Zeit lebt nichts. Das sind Lebensgeschichten und Geistesgeschichten. Geschichten bestehen aus Ereignissen und Übergängen. Das eine Ereignis verursacht ein weiteres. Und so fort. Manchmal passiert ein Ereignis spontan, inkausal. Manche halten das für unvorstellbar; gut, dann bleiben wir wenigstens beim kausalen. Wenn Ereignisse
nicht spontan passieren, dann werden sie bewirkt oder verursacht durch
vorangegangene Ereignisse. Die Reihe der Ereignisse kann man in einer recht beliebigen Feinkörnigkeit illustrieren. Man kann große Ereignissbündel im Jahrhundert-Takt zeigen, oder in Tagen, Sekunden, Pikosekunden etc. Irgendeine Veränderung stößt eine weitere Veränderung an. Was bitte ist daran lebensfeindlich?
Jörn, indirekt denkst Du also, "der Geist und das Leben" wären "ausgeblendet", wenn Geschichten, also Ereignisketten ins Spiel kämen. Da kann ich nicht folgen.
Woher hat Deine Marie die Veranlagung zum Zeichnen bekommen? War die schon immer da? In der Ewigkeit? Meinst Du das so? Oder begann die Veranlagung zu einer bestimmten Zeit in Maries Lebensgeschichte? Vielleicht im ersten Schwangerschaftsmonat? War das ein epigenetischer Zufall (Inkausalität)? War das Vererbung (Kausalität)?
Auch ich vermute, dass wir alle eine gewisse Veranlagung zur künstlerischen Tätigkeit in uns tragen. Wann beginnt dieses "In-uns-tragen"? Schon
vor der Existenz des jeweiligen Menschen? Ist das so eine Metabene im zeitlosen Nirvana, von der menschliche "Veranlagungen" tropfen, hinunter in jede neu befruchtete menschliche Eizelle? Ist es diese Meta-Ewigkeits-Vorstellung, was Deine Abneigung gegen Kausalität begründet?
Ich meine, die Thematik der Veranlagung ist eben auch eine
geschichtliche Thematik; sprich: Eine zumindest auf
Kausalität basierende Thematik.
Jörn schreibt:
"Es gibt Vorbilder. Ihre große Schwester zeichnet auch und ihr Großvater ist ein leidenschaftlicher Hobbyzeichner. Er zeigt ihr seine eigenen Bilder, hat ihr auch schon ein Buch mit Zeichnungen aus der Renaissance geschenkt. Im Internet hat er ihr Zeichnungen von Horst Janssen gezeigt. Das hat Marie besonders fasziniert, so wie er möchte sie auch zeichnen können, sie ahmt ihn nach und macht schnell große Fortschritte."
Das sind meines Erachtens alles Bilderbuchbeispiele für
Kausalitäten. Kausal entstanden ist nicht nur der Farbtupfer auf dem Blatt, sondern auch das Hobby des Opas; auch die Tatsache, dass das Buch die Renaissance statt die Antike thematisierte; auch, dass das Internet vorhanden war; auch das Auslösen der Faszination von Marie, etc. pp.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Das sind natürlich alles
multikausale Sachverhalte. Das ist nicht nur ein einziger trivialer Kausalpfeil. Wenn ich kausal sage, heißt das nicht bloß monokausal, sondern vor allem multikausal.
Viele Geschichten laufen parallel, manche kreuzen sich hin und wieder. Triangulation ist zum Beispiel etwas multikausales. Da passieren Ereignisse auch parallel.
(Die Sache mit der Gravitation war eine Metapher zwecks Anschaulichkeit. In diesem Kommentar hier geht es mir aber jetzt speziell um die Kausalität und deren Verteidigung gegen den Vorwurf, sie sei unmenschlich.)