Antirealismus/Realismus

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Jörn P Budesheim
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Mi 8. Okt 2025, 15:10

Aus einem Gespräch bei Facebook:
  • "In unserer Alltagskommunikation haben wir die Angewohnheit, unsere Welt in Sprichwörter, Redewendungen, Überzeugungen und privaten Philosophien zu fassen. Das hat einen lebenspraktischen Vorteil. Denn Narrative dieser Art bringen Sachverhalte – oder besser: die Deutung von Sachverhalten – auf eine eingängige Weise auf den Punkt. Um die Welt zu verstehen, muss ich mir also nicht jeden Tag aufs Neue ein eigenes Urteil bilden, sondern kann mich vorgegebener Interpretationsmuster bedienen. Sie sind wie eine Schablone, durch die wir die Welt betrachten. Dadurch spare ich eine Menge an eigenen „Rechnerleistungen“ ...
  • Die Großformate unserer Narrative sind unsere Weltbilder: Mythen, Religion, Wissenschaft. Die frühen Schöpfungsmythen sind häufig Ätiologien – Erzählungen, die den Ursprung von Welt und Ordnung erklären sollen. So wissen wir aus der Bibel, warum der Mann im Schweiße seines Angesichts schuften muss, die Frau Schmerzen bei der Geburt zu erleiden hat und warum es die 7-Tage-Woche gibt ..." (N.N.)
Damit sollte eine konstruktivistische Sicht der Dinge plausibel gemacht werden. Hier meine Antwort darauf: Ich bestreite keineswegs, dass Sprache, Narrative, Mythen usw. unsere Sicht der Dinge prägen können. Das ist mit (m)einer realistischen Sichtweise völlig verträglich. Ich möchte dies mit einer Metapher verdeutlichen. Brillen sind dafür sehr anschaulich. Kleist glaubte bekanntlich, Kant lehre uns, dass wir eine grüne Brille tragen, die wir nicht absetzen können. Solche Metaphern sind natürlich immer vereinfachend … und irgendwo haben sie einen Haken. Aber es geht mir um den grundlegenden Unterschied, wie ich ihn vereinfacht/schematisch sehe.

(1) „Wir bilden die Welt mit der Sprache nicht ab, sondern konstituieren sie von unserem je eigenen Standpunkt aus.“ (N.N)
= Wir haben grundsätzlich eine Sprach-Brille auf, die die Wirklichkeit formt. Wir sehen die Dinge immer nur gemäß unserer sprachlichen Kategorien. Diese Brille steht zwischen uns und der Welt. Wir sehen nur, was uns die Brille zeigt.

(2) „Unsere Sprache, Geschichten, Mythen können unsere Sicht der Dinge prägen, verzerren, verfälschen.“ (Jörn Budesheim)
= Wir tragen zwar eine Brille, aber sie öffnet uns zur Welt, die wir selbst sehen können. Dank der Brille können wir die Dinge an sich erfassen. Die Brille ist jedoch nicht (immer) perfekt. Wir können uns irren, sie kann falsch justiert sein – das heißt aber nicht, dass sie uns generell die Sicht auf die Welt verstellt.

Vergleich:
Bei (1) sehen wir nie die Welt selbst, sondern nur die Welt gemäß der Eigenarten der Brille, quasi nur die Rückseite der Brillengläser.
Bei (2) eröffnet uns die Brille die Welt selbst, auch wenn sie nicht immer perfekt ist.

Gegenstand unserer Wahrnehmungen:
Bei (1) sind es die Bilder, die uns die Brille zeigt.
Bei (2) ist es die Wirklichkeit selbst.




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