Filter

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Jörn Budesheim
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Mi 17. Jan 2024, 15:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 17. Jan 2024, 09:01
Wir haben oben von einer rosaroten Brille gesprochen. Kleists Brille ist grün. (Diese Passage wird oft im Zusammenhang mit Kleists so genanntem Kantschock zitiert, zumindest erinnere ich mich so daran). Wenn sich jemand festlegt und sagt, wir haben immer so eine Brille (im metaphorischen Sinne) auf und können deshalb die Dinge nicht so erkennen, wie sie sind, dann tut er im selben Moment das, was angeblich nicht geht, er beansprucht, etwas so zu erkennen, wie es ist, nämlich unsere Erkenntnissituation.
Quk hat geschrieben :
Mi 17. Jan 2024, 09:18
Der Mensch beschaut einen Schneemann durch eine grüne Brille. Sieht der Beschauer die Wahrheit? Ja. Vor ihm ist ein Stück grünes Glas, ein Stück durchsichtige Luft und ein Stück weißer Schnee. Dieses gesamte Gebilde vor dem Beschauer nenne ich beispielsweise ein Grüdurnee. Der Beschauer sieht die Wahrheit, nämlich ein Grüdurnee. Klingt lustig, meine ich aber ernst.
Wenn ich es richtig sehe, machst du in deinen Erläuterungen aus der metaphorischen Brille eine echte Brille. Aber weder die rosarote Brille, von der man manchmal spricht, noch die grüne Brille, die Kleist als Beispiel anführt, sind natürlich wirklich Brillen. Das ist, so wie es auch im Text steht, natürlich nur Metaphorik. Diese (angeblichen) Filter, um die es geht, sitzen nicht auf unserer Nase, sondern sie sitzen - wie soll ich sagen? - in unserem Geist.

Die Brille ist auch eine Metapher dafür, dass wir keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit haben, sondern immer nur einen gefilterten, vermittelten, verschleierten, verzerrten oder wie auch immer man es ausgedrückt hat.
Quk hat geschrieben :
Mi 17. Jan 2024, 12:48
Nein, ich liefere immer eine gefilterte Beschreibung. Jede Beschreibung ist eine Filterbeschreibung; die Beschreibung impliziert sich auch selbst.

Beispielbeschreibung: Rot!

Rot. Was ist das? Ist das ein Filter oder ein Nichtfilter? Es ist egal. Es ist einfach rot. Selbstbeschreibend.
Ich verstehe diesen Text leider überhaupt nicht. Ich kann auch keine klärende Verständnisfrage dazu stellen, ich verstehe nur Bahnhof.




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Quk
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Mi 17. Jan 2024, 15:54

Ich denke, mein Text beschreibt eine ziemlich phänomenologische Sichtweise. Vielleicht hilft das zur Klärung?

Die Brille meine ich sowohl metaphorisch als auch konkret. Geht beides.




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Jörn Budesheim
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Mi 17. Jan 2024, 17:26

Michael7Nigl hat geschrieben :
Mo 15. Jan 2024, 20:22
Meinst Du etwas wie die Veden?
Vielleicht kannst du das noch ein bisschen erläutern?




Michael7Nigl
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Mi 17. Jan 2024, 23:51

Stefanie hat geschrieben :
Do 21. Jun 2018, 21:58
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 17. Jun 2018, 20:33
(...)
Die Frage des Threads lautet, ist die Behauptung, dass wir die Welt stets durch Filter sehen, was dazu führt, dass wir nicht erkennen können, wie sie wirklich ist, nicht ein innerer Widerspruch. Denn damit wird Wissen über die Welt beansprucht und zugleich geleugnet, dass dies möglich ist.
So habe ich das bislang nicht gesehen. Mir schwirrt etwas der Kopf.

Bislang dachte ich, dass wir die Welt insofern mit einem Filter sehen, da bei unserem "Sehen" immer unsere gemachten Erfahrungen, unsere Kenntnisstand und unsere Erwartungen mit reinspielen. Also wir beim Sehen schon interpretieren, was wir sehen. Im gewissen Sinne also schon sowas wie Vorurteile haben.
Ich fand den Beitrag von Steffi schon ganz treffend. Was wir wahrnehmen, hat viel mit unseren Erwartungen zu tun - wir sehen nicht einfach das, was da ist. Ein schönes Beispiel gibt der folgende Film über "change blindness":



Unsere Achtsamkeit ist somit bereits eine Art Filter.




Michael7Nigl
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Do 18. Jan 2024, 00:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 17. Jan 2024, 17:26
Michael7Nigl hat geschrieben :
Mo 15. Jan 2024, 20:22
Meinst Du etwas wie die Veden?
Vielleicht kannst du das noch ein bisschen erläutern?
Aber Du meintest wohl, anders als Steffi, einen grundsätzlichen Filter, der uns davon abhält, die Dinge zu erkennen wie sie sind.

In der altindischen Philosophie gab es dafür den Begriff der "Maya": Die Welt der Erscheinungen ist nur ein Schleier der Täuschung, welcher uns davon abhält, die wahre Natur der Dinge zu sehen.




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Jörn Budesheim
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Do 18. Jan 2024, 06:49

Michael7Nigl hat geschrieben :
Do 18. Jan 2024, 00:27
Aber Du meintest wohl, anders als Steffi, einen grundsätzlichen Filter, der uns davon abhält, die Dinge zu erkennen wie sie sind.
So ist es. Zu sagen, dass wir selbst filtern und dass es Wahrnehmungsverzerrungen gibt, die man Filter nennen könnte, würde nicht zu einem selbst Widerspruch führen.
Michael7Nigl hat geschrieben :
Do 18. Jan 2024, 00:27
In der altindischen Philosophie gab es dafür den Begriff der "Maya": Die Welt der Erscheinungen ist nur ein Schleier der Täuschung, welcher uns davon abhält, die wahre Natur der Dinge zu sehen.
Ich hatte gestern bereits nach dem Schleier der Maya gesucht, in der Hoffnung z.B ein schönes Video zu finden, aber dann dachte ich, vielleicht möchte Michael selbst erläutern, worum es ihm dabei geht.




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Jörn Budesheim
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Do 18. Jan 2024, 06:54

Michael7Nigl hat geschrieben :
Mi 17. Jan 2024, 23:51
Was wir wahrnehmen, hat viel mit unseren Erwartungen zu tun - wir sehen nicht einfach das, was da ist.
Aber: Dass unsere Wahrnehmungen viel mit unseren Erwartungen zu tun haben, bedeutet nicht, dass wir grundsätzlich nicht sehen, was da ist. Schließlich können unsere Erwartungen auch erfüllt werden.

Die Ausdrucksweise der Forscherin, die ich jetzt zitieren möchte, ist nicht unbedingt nach meinem Geschmack. Nichtsdestotrotz passen ihre Forschungsergebnisse zu der Frage nach den Erwartungen.
Lisa Feldman Barrett, Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn hat geschrieben : Lange Zeit glaubte die Wissenschaft, das visuelle System im Gehirn funktioniere wie eine Kamera. Es nehme die Information von «draußen» auf und mache daraus im Gehirn eine Art Foto. Heute wissen wir es besser. Unser Bild der Welt ist keine Fotografie.

Ihr Gehirn muss sich … auf das Trommelfeuer von Sinneseindrücken einen Reim machen, damit Sie nicht die Treppe hinunterfallen oder zum Mittagessen für ein wildes Tier werden. Wie aber dechiffriert Ihr Gehirn diese Sinnesdaten nun, damit es weiß, was als Nächstes zu tun ist? Würde es nur mit den mehrdeutigen Informationen arbeiten, die ihm unmittelbar zur Verfügung stehen, dann würden Sie im Meer der Ungewissheit treiben und so lange wild herumfuchteln, bis Sie endlich die bestmögliche Reaktion gefunden hätten. Glücklicherweise verfügt Ihr Gehirn über eine zusätzliche Informationsquelle: das Gedächtnis. Ihr Gehirn kann sich auf lebenslange frühere Erfahrungen stützen – und nicht nur Ihre eigenen, sondern auch fremde Erfahrungen, erworben durch Freunde, Bücher, Filme und andere Quellen.

Ihr Gehirn kombiniert Informationen von außerhalb und innerhalb Ihres Kopfes und schafft daraus alles, was Sie sehen, hören, riechen, schmecken und durch Berührung erfahren.

Die Wissenschaft ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass Ihr Gehirn die momentanen Veränderungen in Ihrer Umwelt schon wahrnimmt, bevor die Lichtwellen, Botenstoffe und anderen Sinnesdaten im Gehirn ankommen.

Vorhersagen sind auch der Grund, warum Sie Lichtwellen als Objekte wahrnehmen. Warum Sie aus Druckschwankungen in der Luft erkennbare Laute heraushören. Warum aus chemischen Stoffen Geruchs- und Geschmackserlebnisse werden. Sie sind der Grund, weshalb Sie die schwarzen Schnörkel auf dieser Seite als Buchstaben und Worte und Ideen identifizieren können. Warum es sich unbefriedigend anfühlt, wenn in einem Satz das letzte Wort.

Und nun der letzte Nagel am Sarg des gesunden Menschenverstandes: All diese Vorhersagen finden in gegenläufiger Richtung zu unserem Empfinden statt. Sie und ich scheinen zuerst Sinneserfahrungen zu machen und dann zu handeln. Sie sehen einen Feind und heben danach das Gewehr. Aber in Ihrem Gehirn kommt die Sinneserfahrung erst an zweiter Stelle. Ihr Gehirn ist so verschaltet, dass es Sie zuerst aufs Handeln vorbereitet – zum Beispiel den Finger auf den Abzug zu legen – und Ihre Körperbuchführung so ausrichtet, dass sie diese Bewegung unterstützt.

Die Vorhersagen, die Ihr Handeln steuern, kommen ja nicht aus dem Nirgendwo. Hätten Sie nicht als Kind schon Nägel gekaut, würden Sie das als Erwachsener vermutlich auch nicht tun. Hätten Sie die bedauerlichen Worte, die Sie Ihrem Freund an den Kopf geworfen haben, nie gelernt, könnten Sie sie jetzt nicht aussprechen. Hätten Sie nie Geschmack an Chips gefunden … Nun, Sie wissen vermutlich, worauf ich hinauswill.




Michael7Nigl
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Do 18. Jan 2024, 21:20

Eine Parallele zum Schleier der Maya gibt es in der Philosophie von Arthur Schopenhauer. In seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" beschreibt er die Sichtweise, dass die Welt nur in unserem Geist ist. Unsere Wahrnehmung ist ihm zufolge der einzige Zugang zur Welt, alle Dinge sind also nur "für uns" und nicht "an sich" - es gibt kein Objekt ohne Subjekt.

Diese Sichtweise ist eigentlich noch radikaler als die Postulierung eines Filters. Der Geist filtert nicht die Wirklichkeit, er projiziert sie.




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Fr 19. Jan 2024, 07:58

Michael7Nigl hat geschrieben :
Do 18. Jan 2024, 21:20
Der Geist filtert nicht die Wirklichkeit, er projiziert sie.
Ist dieser Gedanke nicht mit demselben Problem konfrontiert? Er beansprucht doch etwas über die Wirklichkeit zu wissen, oder?




Michael7Nigl
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Fr 19. Jan 2024, 19:57

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2024, 07:58
Michael7Nigl hat geschrieben :
Do 18. Jan 2024, 21:20
Der Geist filtert nicht die Wirklichkeit, er projiziert sie.
Ist dieser Gedanke nicht mit demselben Problem konfrontiert? Er beansprucht doch etwas über die Wirklichkeit zu wissen, oder?
Schopenhauer beschreibt lediglich unseren erkenntnistheoretischen Zugang zur Wirklichkeit. Seiner Ansicht nach können wir nichts über eine Wirklichkeit unabhängig vom Subjekt aussagen, auch nicht ob es überhaupt eine gibt. (Schopenhauer verwendet wohl nicht das Bild der "Projektion" - er sagt: die Welt ist Vorstellung, nicht: die Welt ist nur Vorstellung.)

Er beansprucht nach meinem Verständnis also weder eine metaphysische Erkenntnis noch begeht er mit seinen Aussagen einen Selbstwiderspruch.




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Jörn Budesheim
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Sa 20. Jan 2024, 09:51

Michael7Nigl hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2024, 19:57
Seiner Ansicht nach können wir nichts über eine Wirklichkeit unabhängig vom Subjekt aussagen.
Aber diese Aussage beansprucht doch genau das. Sie beansprucht, die Wahrheit über unsere Erkenntnissituation zu sagen, so wie sie an sich vorliegt.




Michael7Nigl
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Sa 20. Jan 2024, 20:33

Für mich ist das eine Konsequenz aus Descartes radikalem Zweifel (s. "Meditationes de prima philosophia"). Descartes selbst konnte einem solipsistischen Drall seiner Philosophie nur dadurch entgehen, dass er die Vorstellung der Unendlichkeit in uns als Beweis für die Existenz Gottes ansah. Und die Güte Gottes wiederum garantiert, dass wir in unserer Erkenntnis der Welt nicht getäuscht werden.

Geht man diesen Weg des Gottesbeweises nicht mit, bleibt nur noch die Gewissheit über die Existenz des eigenen Bewusstseins ("cogito sum") und des subjektiven Erlebens der Bewusstseinsinhalte. Alle weiteren Aussagen über die Wirklichkeit sind lediglich Annahmen (sie mögen sinnvoll oder sogar für den Alltag notwendig sein), die jederzeit angezweifelt werden können.

An Schopenhauers Anspruch, unsere Erkenntnissituation korrekt zu beschreiben, ist aus meiner Sicht nichts auszusetzen. Er ist halt maximal skeptizistisch, was den ersten Teil seiner Philosophie angeht ("Die Welt ist Vorstellung").




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Sa 20. Jan 2024, 20:44

Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 20:33
An Schopenhauers Anspruch, unsere Erkenntnissituation korrekt zu beschreiben, ist aus meiner Sicht nichts auszusetzen. Er ist halt maximal skeptizistisch...
Und das ist ein Widerspruch. Man kann nicht einerseits "maximal skipizistisch" sein und auf der anderen Seite beanspruchen etwas "korrekt zu beschreiben", nämlich unsere Erkenntnissituation. Solche Theorien leiden oft daran, dass sie bei Selbstanwendung alt aussehen.




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Quk
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Sa 20. Jan 2024, 20:57

Ein radikaler Skeptiker bezweifelt auch seine Skepsis. Wenn er sagt, alles sei unsicher, ist ihm auch klar, dass manches sicher sein kann. Er bezweifelt ja auch seine eigenen Thesen. Wenn man es so sieht, gibt es dann noch einen Widerspruch?




Michael7Nigl
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Sa 20. Jan 2024, 21:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 20:44
Und das ist ein Widerspruch. Man kann nicht einerseits "maximal skipizistisch" sein und auf der anderen Seite beanspruchen etwas "korrekt zu beschreiben", nämlich unsere Erkenntnissituation. Solche Theorien leiden oft daran, dass sie bei Selbstanwendung alt aussehen.
Das ist nicht richtig. Worin genau besteht für Dich der Widerspruch?

Der Zweifel am Zweifel führt ja nicht zu einer Erkenntnis über die Wirklichkeit.

Der Anspruch einer korrekten Beschreibung unserer Erkenntnissituation geht auf Descartes' Einsicht zurück, dass man an der Existenz seines eigenen Bewusstseins nicht mehr zweifeln kann: "Möge mich täuschen, wer es vermag; niemals wird er doch es bewirken, dass ich Nichts bin, so lange ich denke, etwas zu sein, oder dass es je wahr sein könnte, ich sei niemals gewesen, da es doch wahr ist, dass ich bin".

("Möge mich täuschen, wer es vermag" bezieht sich auf den "genius malignus" [s. Kapitel 1 der Meditationes].)




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Jörn Budesheim
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Sa 20. Jan 2024, 21:11

Man kann nicht einerseits sagen, man könne nichts richtig erkennen, aber andererseits beanspruchen, man könne etwas richtig erkennen, nämlich unsere Erkenntnisssituation. Das ist doch ein direkter offensichtlicher Widerspruch.




Michael7Nigl
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 21:11
Man kann nicht einerseits sagen, man könne nichts richtig erkennen, aber andererseits beanspruchen, man könne etwas richtig erkennen, nämlich unsere Erkenntnisssituation. Das ist doch ein direkter offensichtlicher Widerspruch.
Wer sagt denn, man könne nichts richtig erkennen? Das ist ja die Einsicht Descartes, dass die eigene Existenz gewiss und nicht bezweifelbar sei. An allem anderen könne man aber zweifeln. Mir scheint diese cartesianische Einsicht richtig zu sein.




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Sa 20. Jan 2024, 21:29

Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 21:20
Wer sagt denn, man könne nichts richtig erkennen?
Du, bzw gemäß dir Schopenhauer.
Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 20:33
An Schopenhauers Anspruch, unsere Erkenntnissituation korrekt zu beschreiben, ist aus meiner Sicht nichts auszusetzen. Er ist halt maximal skeptizistisch...




Michael7Nigl
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Sa 20. Jan 2024, 21:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 21:29
Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 21:20
Wer sagt denn, man könne nichts richtig erkennen?
Du!
Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 20:33
An Schopenhauers Anspruch, unsere Erkenntnissituation korrekt zu beschreiben, ist aus meiner Sicht nichts auszusetzen. Er ist halt maximal skeptizistisch...
Du behauptest, dass "maximal skeptizistisch" bedeute, man könne nichts richtig erkennen. Das stimmt aber nicht. Denn wie bereits mehrmals erklärt, gibt es die Einsicht Descartes', dass an der eigenen Existenz nicht gezweifelt werden könne.

"Maximal skeptizistisch" bedeutet, dass man an allem zweifelt, was bezweifelt werden kann.




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So 21. Jan 2024, 07:27

Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 21:35
"Maximal skeptizistisch"
Die Formulierung ist mir unbekannt, kannst du dafür eine Quelle liefern? Ich nutze den gängigen Ausdruck Skeptiker. Das ist eine theoretische Position, bei der generell bezweifelt wird, dass objektive Erkenntnis und Wahrheit möglich sind.
Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 21:35
"Maximal skeptizistisch" bedeutet, dass man an allem zweifelt, was bezweifelt werden kann.
Hier hängt quasi die gesamte Last an dem Wörtchen "kann". Da müsste man erläutern welche Art von "kann" gemeint sein sollte. Ohne Erläuterung ist meines Erachtens gar nicht klar, was damit gemeint ist.

Zunächst noch einmal zur Sicherstellung (weil hier auch immer sehr viele mitlesen): Descartes ist, wie du ja weißt, überhaupt kein Skeptiker, sondern im Gegenteil eigentlich ein Optimist, er hat sogar ein Wahrheitskriterium parat. Descartes wollte schließlich den Skeptiker besiegen. Seine Skepsis ist rein methodisch.

Jetzt ein Wort, zu der Frage, warum du manche Aspekte seiner Argumentation anscheinend kaufst und auch zu dem ominösen "kann".
Michael7Nigl hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 20:33
Für mich ist das eine Konsequenz aus Descartes radikalem Zweifel (s. "Meditationes de prima philosophia"). Descartes selbst konnte einem solipsistischen Drall seiner Philosophie nur dadurch entgehen, dass er die Vorstellung der Unendlichkeit in uns als Beweis für die Existenz Gottes ansah. Und die Güte Gottes wiederum garantiert, dass wir in unserer Erkenntnis der Welt nicht getäuscht werden.

Geht man diesen Weg des Gottesbeweises nicht mit, bleibt nur noch die Gewissheit über die Existenz des eigenen Bewusstseins ("cogito sum") und des subjektiven Erlebens der Bewusstseinsinhalte...
Wenn du den Gottesbeweis ablehnst und die Rolle Gottes in Descartes' Argumentation nicht akzeptierst, warum akzeptierst du dann den Täuscher-Dämonen? Gott nein, Täuscher-Dämon ja, warum? Warum gehst Du den einen Weg mit, den anderen nicht? Das leuchtet mir nicht wirklich ein.

Ich akzeptiere keine der beiden argumentativen Figuren. Der Täuscher-Dämon liefert keine rationalen Argumente, um an diesem oder jenem zu zweifeln. (Zumindest, soweit ich mich an all das entsinne, es ist länger her, dass ich mich damit beschäftigt habe) Das ist, wie man manchmal lesen kann, nichts anderes als "make believe". Man "kann" zwar viel bezweifeln, aber das akzeptiere ich nicht, entscheidend ist vielmehr, was man aus guten Gründen bezweifeln sollte, also rational. Zweifel muss jeweils begründet werden.

Aber das ist noch nicht alles, was ich bei Descartes nicht kaufe: Ich akzeptiere auch nicht die sogenannte Wende zum Subjekt, von der man manchmal sagt, sie habe mit Descartes eingesetzt. In dem Bereich zu Thomas Fuchs gibt es ein Video, in dem eine deutlich plausiblere Alternative vorgestellt wird, die sich explizit gegen solche Vorstellungen wendet. Der amerikanische Philosoph Donald Davidson hat das auf den Punkt gebracht und nennt es den "Mythos des Subjektiven".

Wenn man also nicht nur Gott aus der Argumentation streicht, sondern mit ihm auch gleich den Täuscher-Dämonen sowie die sogenannte Wende zum Subjekt, dann bleibt nicht viel übrig von dem argumentativen Ansatz, schätze ich.

Bei der Gewissheit des subjektiven Erlebens müsste man genauer formulieren, was damit gemeint ist. Wir können uns auch beim "subjektiven Erleben der Bewusstseinsinhalte" täuschen, hier ein Beispiel aus der philosophischen Literatur, an das ich mich noch erinnere: Müller spürt deutlich, wie die Empörung in ihm aufsteigt, weil der Nachbar schon wieder ein neues dickes Auto gekauft hat und das trotz der Umwelt Krise. Aber er täuscht sich über sich selbst, in Wahrheit ist der bloß neidisch. Auch hier gibt es also Möglichkeiten, sich zu täuschen.




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