Transzendentalphilosophie - Die Kritik auf dem Prüfstand

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Alethos
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Di 6. Aug 2019, 16:10

In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant (S. 190) etwas ganz Erstaunliches, da es allen vorhergehenden Argumenten zu widersprechen scheint:
"Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse; wie aber, bleibt hier unbestimmt."
Die Transzendentalphilosophie Kants nimmt für sich in Anspruch, auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu gehen, d.h. hinter alles Materiale der Erkenntnis auf das Formale zu schauen, durch die sie möglich ist. So spricht er in der Ästhetik von der Zeit als innere Form, durch die ein Nacheinander (der Dinge) erst stattfinden kann, die apriori ist, also vor aller Gegenständlichkeit und Erfahrung diese erst möglich macht. Auch vom Raum spricht er als von der äusseren Form, die gegeben sein muss vor allen Erscheinungen in einer Raumerfahrung.
Und so fährt er fort in der transzendetalen Logik und Deduktion, von reinen Begriffen zu sprechen (Begriffen, die aus dem Urteilen allein ohne Erfahrung resultieren), die wir durch Synthesis apriori gewinnen, die wir also haben noch vor aller empirischen Analytik. Oder er spricht von der reinen Apperzeption, d.h. der aller Erkenntnis vorangehenden synthetischen Einheit der Begriffe apriori in einem Selbstbewusstsein.

Wie kommt es aber, dass er nicht abstrahieren kann, was er selber zugibt, "dass das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes... gegeben sein müsse"?

Wäre es so, dass alle Erfahrung das Apriori ihrer Erkenntnis wäre, dann wäre die Transzendentalphilosophie nur dem Schein nach transzendental und allgemeine, empirische Erkenntniskritik? Ist das so, und wenn ja, warum?



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Alethos
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So 11. Aug 2019, 16:09

Inkonsistent:

Wenn alles Erscheinung ist, mithin jedes Ding als Erscheinung in Anbetracht seines Daseins nur unter den Bedingungen der Kausalität in einer vollständig bedingenden Reihe Gegenstand einer Regression sein kann, dann gibt es keine Freiheit in der Erfahrung. Dann muss man beim Dinge an sich, von dem man Hunderte von Seiten lang behauptete, es sei Noumenon und als Grenze einer jeden Erkenntnis nur negativ bestimmbar, als von einem intelligiblen Dinge anfangen zu sprechen und ihm eine Bestimmung geben, was man für schlicht unmöglich darstellte, so dass die Freiheit wenigstens der Möglichkeit nach sein könne. Die Freiheit des Dings an sich, nach Kant selbst, kann nicht mehr als eine Erdichtung sein. Zum Behuf der Hinüberrettung der Freiheit ins Reale kann es allein aus Gründen der argumentativen Struktur der Transzendentalphilosophie nicht angehen, sie in einem Transzendenten zu suchen, auch nicht als transzendentale Idee.



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Tangens Alpha
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Registriert: Mi 23. Okt 2019, 20:39

Mi 23. Okt 2019, 21:29

Nicht nur das! Es hapert schon bei den Voraussetzungen: die gewaltsame Trennung von apriorischen Verstandeskategorien und sinnlicher Anschauung ist schlicht ein Überbleibsel Wolff'scher Metaphysik und nicht zu rechtfertigen. Zwar behauptet Kant, der Beweisgrund der Kategorien läge darin, dass sie die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bereitstelle, aber eine unterstellte nachgängige Funktion ist kein schlüssiges Argument und er kann ihre Entstehung nicht wirklich begründen.
Dementsprechend wird auch das "Ding an sich" obsolet.



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VL
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Mi 30. Aug 2023, 15:27

Alethos hat geschrieben :
Di 6. Aug 2019, 16:10
In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant (S. 190) etwas ganz Erstaunliches, da es allen vorhergehenden Argumenten zu widersprechen scheint:
"Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse; wie aber, bleibt hier unbestimmt."
Die Transzendentalphilosophie Kants nimmt für sich in Anspruch, auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu gehen, d.h. hinter alles Materiale der Erkenntnis auf das Formale zu schauen, durch die sie möglich ist. So spricht er in der Ästhetik von der Zeit als innere Form, durch die ein Nacheinander (der Dinge) erst stattfinden kann, die apriori ist, also vor aller Gegenständlichkeit und Erfahrung diese erst möglich macht. Auch vom Raum spricht er als von der äusseren Form, die gegeben sein muss vor allen Erscheinungen in einer Raumerfahrung.
Und so fährt er fort in der transzendetalen Logik und Deduktion, von reinen Begriffen zu sprechen (Begriffen, die aus dem Urteilen allein ohne Erfahrung resultieren), die wir durch Synthesis apriori gewinnen, die wir also haben noch vor aller empirischen Analytik. Oder er spricht von der reinen Apperzeption, d.h. der aller Erkenntnis vorangehenden synthetischen Einheit der Begriffe apriori in einem Selbstbewusstsein.

Wie kommt es aber, dass er nicht abstrahieren kann, was er selber zugibt, "dass das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes... gegeben sein müsse"? ...
Kant begründet das doch im anschließenden Satz:
"Denn, wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschaute (wie etwa einen göttlichen, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben, oder hervorgebracht würden), so würden die Kategorien in Ansehung eines solchen Erkenntnisses gar keine Bedeutung haben. Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet. Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustande zu bringen, laßt sich ebensowenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind."

Im vorausgehenden §1 der TÄ formuliert Kant:
"Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung."
Es geht also mE darum, dass die Art, wie Erscheinung als Gegenstand einer empirischen Anschauung gegeben ist, nicht beschrieben werden kann.




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VL
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Mi 30. Aug 2023, 15:46

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mi 23. Okt 2019, 21:29
... Zwar behauptet Kant, der Beweisgrund der Kategorien läge darin, dass sie die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bereitstelle, aber eine unterstellte nachgängige Funktion ist kein schlüssiges Argument und er kann ihre Entstehung nicht wirklich begründen.
Dementsprechend wird auch das "Ding an sich" obsolet.
Die Begründung der Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe als formale Bedingung für die Möglichkeit der Erfahrung legt Kant im zweiten Hauptstück "Der transzendentalen Analytik" als "Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" auf zig Seiten dar.
Angesichts des Umfangs und der komplexen Argumentation dieses Hauptstückes der KrV solltest du vielleicht deinerseits etwas mehr an Begründung liefern, inwiefern das keine "schlüssigen" Argumente für dich sind.
Und was hat diese Argumentation mit dem "Ding an sich" zu tun?




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Jörn Budesheim
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Mi 30. Aug 2023, 15:54

Hallo VL, willkommen im Forum. Alethos, der Gesprächspartner, den Du Dir für dieses schwierige Thema ausgesucht hast, schreibt hier leider seit einiger Zeit nicht mehr. Ob und wann seine Pause endet, wissen wir leider nicht. Ob sich andere User:innen an diesen Stoff wagen werden, kann ich nicht versprechen. Aber es gibt ja auch ganz aktuell viele andere spannende Themen hier :-)




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Quk
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Mi 30. Aug 2023, 17:04

Da stimme ich VL zu.

Gerade da, wo Kant ein fiktives Gegenbeispiel mit dem "göttlichen" nennt, erinnert die Diskussion ein bisschen an Goethes Farblehre, über die wir neulich sprachen: Die Unterstützer von Goethes Farblehre sprechen eigentlich nur über die Farbpigmente in den Dingen an sich, sodass sie sagen können, die Farben seien nicht im Licht, sondern im Ding, auch wenn das Ding dunkel ist. Nicht das Licht, sondern das Menschenauge erwecke sozusagen diese Pigmente zum Leben. Soweit ich das verstehe, geht es hier Newton und der heutigen Physik aber nicht um die Pigmente im Ding, dem keiner widerspricht, sondern um die Lichtenergiequelle, und das ist eben das Licht. Die Photonen kommen aus der Lampe, und die Pigmente im Ding reflektieren einige dieser Photonen. In den Einzelteilen dieser Diskussion widersprechen sich die Diskutanten eigentlich nicht, sie scheint nur dann widersprüchlich, wenn man die Einzelteile nicht nennt. Wenn ich mich recht entsinne, lief das bei Kants Transzendentaler Ästhetik und deren "göttlich verdrehter" Interpretation durch Hegel, Fichte etc. ähnlich. Sie bauten daraus ein allmächtiges Ich, sodass das "Ich" nicht dem Ding hinterherschaut, sondern selbiges überhaupt erst "erzeugt". Was schließlich im Solipsismus absurd endete. Soweit ich mich erinnere, hat Kant selbst gesagt, sein Begriff "transzendental" hätte zu diesem Missverständnis beigetragen. -- Jetzt wollte ich eigentlich noch auf einen bestimmten Punkt kommen, aber nun habe ich meinen Faden verloren ... Pardon ...




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Quk
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Mi 30. Aug 2023, 17:15

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mi 23. Okt 2019, 21:29
Zwar behauptet Kant, der Beweisgrund der Kategorien läge darin, dass sie die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bereitstelle, aber eine unterstellte nachgängige Funktion ist kein schlüssiges Argument und er kann ihre Entstehung nicht wirklich begründen.
Warum muss man diesem Zusammenhang überhaupt eine Entstehungsgeschichte zuschreiben?

Ist der Satz des Pythagoras a^2 + b^2 = c^2 auch irgendwie "entstanden"?




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