Realismus - alt oder neu?

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Jovis
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So 3. Mai 2020, 20:35

Mir erschließt sich nicht, wieso ich etwas besser erkenne, wenn ich ein Teil davon bin, als wenn ich außen vor stehe. Ganz unphilosophisch ist ja oft eher das Gegenteil der Fall: Ein Außenstehender hat oft einen viel klareren Blick als die Beteiligten. Ich erahne zwar, was gemeint ist - wenn es keine prinzipielle Trennung zwischen mir und der Welt gibt, ist sie mir direkt, in ihrem Sosein, in ihrem Wesen oder was auch immer zugänglich (bitte diese Worte nicht auf die Goldwaage legen, ich taste mich noch vorwärts). Aber "Erscheinungen als unproblematischen Zugang zu Aspekten von Dingen an sich aufzufassen" (Gabriel) scheint mir doch eine ziemliche Nebelkerze zu sein, da muss ich Schimmermatt Recht geben.




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Jovis
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So 3. Mai 2020, 21:18

Dies hier scheint mir vielversprechender zu sein:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 29. Apr 2020, 06:30

Hubert Dreyfus und Charles Taylor verfolgen also ein ähnliches Projekt. Im Verlagstext zu ihren überaus lesenswerten Buch heißt es:
[...]
Anhand von Begriffen wie Dasein, Zeitlichkeit und Verkörperung skizzieren sie ein radikal neues Paradigma, das den Menschen als immer schon in direktem Kontakt mit der Welt begreift: einen robusten pluralen Realismus, der auch in ethisch-politischer Hinsicht einheitsstiftende Kraft hat."
Nicht dass ich mir unter pluralem Realismus etwas vorstellen könnte ...

Aber der Aspekt der Verkörperung lässt mich aufhorchen. Wobei die Betonung der Körperlichkeit oder der Leiblichkeit so radikal neu nicht ist. Laut besagtem Lexikon hat sich u.a. der irgendwo weiter oben bereits erwähnte Merleau-Ponty damit schon eingehender beschäftigt. Da läuft das dann aber unter Phänomenologie. Neu wäre dann also, darauf einen Realismus zu begründen?

Entscheidend ist hier wohl die Formulierung "immer schon in direktem Kontakt mit der Welt". Das heißt, alles (?), was wir über die Welt wissen, haben wir nicht auf Umwegen, sondern über diese direkten Kontakte erfahren. Was zu der Theorie Anlass gibt, dass wir diejenigen Aspekte der Welt, die uns zugänglich sind, eben wegen dieser Direktheit so erkennen, wie sie "wirklich" sind.




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Jörn Budesheim
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Mo 4. Mai 2020, 06:17

Vielleicht noch ein paar allgemeine Bemerkung und Quellen: der "neue" Realismus ist kein Monolith, das habe ich weiter oben ja schon geschrieben. Dennoch würde ich sagen, dass es eine "allgemeine" Bewegung gibt. Diese vielen verschiedenen Realismen versuchen einen neuen/anderen Weg nach dem "Ende" der Postmoderne, dem Konstruktivismus, dem Antirealismus.

Dazu drei Buch-Beispiele:

Neuer Realismus

Bei Suhrkamp ist diesem Zusammenhang z.b. die Aufsatzsammlung "Neuer Realismus" erschienen. Sie versammelt ganz verschiedene Autoren mit unterschiedlichen Sichtweisen. Hier der Klappentext:

"In den letzten Jahren zeichnet sich eine Kehrtwende in der Philosophie ab. Seit Kant galt es als ausgemacht, dass wir primär unseren Zugang zu den Dingen untersuchen müssen, da wir die Dinge an sich aus prinzipiellen Gründen nicht erkennen können. Obwohl beinahe niemand Kant im Detail gefolgt ist, hatte sich doch der Eindruck eingestellt, in der Philosophie ginge es um die Sprache, um Zeichen, ums Erkennen, nicht aber um dasjenige, worauf sich solche Systeme richten. Der vorliegende Band dokumentiert eine Wende, die als »Neuer Realismus« bekannt geworden ist und die darin besteht, dass die kantische Grundannahme fallen gelassen wird, ohne deswegen in einen naiven Realismus zurückzufallen. Mit Beiträgen u.a. von Jocelyn Benoist, Paul Boghossian, Umberto Eco, Maurizio Ferraris, Hilary Putnam und John Searle."

Das Buch ist 2014 erschienen. Ein Jahr zuvor also 2013 gab es in Merve Verlag bereits eine Aufsatzsammlung zum nämlichen Thema:

Realismus Jetzt

Realismus Jetzt, Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Armen Avanessian.

Wie steht es um die Philosophie der Gegenwart? Diese Frage stellt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nachdem das vergangene Jahrhundert durch zahlreiche Wendungen bestimmt wurde – sei es durch einen analytischen, einen ontologischen oder einen hermeneutischen turn. Nach der Ära der französischen Philosophie und der kritischen Theorie, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die kontinentale Philosophie dominiert haben, wird der Realismus – bisher vorschnell als »naiv« disqualifiziert – neu bestimmt.

In der zeitgenössischen Philosophie kommt es zu einer realistischen Wende. Durch den Versuch, das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft und von Metaphysik und Epistemologie neu zu denken, konstituiert sich ein zeitgenössischer Realismus, der eine neue Kommunikation zwischen den Spekulationen der »kontinentalen« Philosophie und den Aussagen der »analytischen« Philosophie erfordert.

Dieser Band versammelt internationale, aus verschiedenen Generationen stammende Autoren. Dadurch erschließt sich ein weites Spektrum unterschiedlicher Zugänge zur zeitgenössischen Philosophie, die – im Namen eines transzendentalen Realismus, einer objekt-orientierten Philosophie oder eines spekulativen Materialismus – die post-kantische Korrelation von Denken und Sein als kontinentale anti-realistische Doktrin zurückweist, die behauptet, die metaphysische Opposition zwischen Realismus und Idealismus überwunden zu haben.


Noch einen letztes Beispiel, das jüngeren Datums ist. Das Buch ist aus dem Jahr 2018:

Unaufgeregter Realismus

Unaufgeregter Realismus, Eine philosophische Streitschrift, Autor: Julian Nida-Rümelin

Der verbreitete zeitgenössische Anti-Realismus in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, in Kulturinstitutionen, Feuilletons und gebildeten Kreisen ist Ausdruck einer intellektuellen Krise. Der Realismus, für den Julian Nida-Rümelin plädiert, geht von lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten aus und bestimmt vor diesem Hintergrund die Rolle der Philosophie neu. So stellt sich dieses Buch gegen geistige Verwirrungen, die sich als Begleitphänomene einer intellektuellen Krise zeigen.

Das Erwachsenwerden ist Ergebnis der Auseinandersetzung mit der empirischen und der normativen Realität. Insofern hat der postmoderne Anti-Realismus, nämlich die Vorstellung, dass wir es sind, die in einem bestimmten kulturellen Kontext die Realität nach unserem Bild formen, etwas Kindliches.

In dieser Streitschrift nimmt der Autor eine umfassendere realistische Position ein: Als Teilhaber an der menschlichen Lebensform ist unsere Kommunikation stets auf einen unaufgebbaren Realismus angewiesen. Der systematische Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Realismus, meta-ethischem Realismus und einem umfassenden lebensweltlichen Realismus wird durch das Ethos epistemischer Rationalität gestiftet, also durch die Fähigkeit, sich von guten, auf unsere Alltagserfahrungen bezogenen Gründen überzeugen zu lassen. Die Philosophie setzt die lebensweltliche Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens fort, verallgemeinert und systematisiert diese und integriert einzelwissenschaftliche Methoden und Befunde zu einer stimmigen Weltsicht. Dieser Realismus ist unaufgeregt insofern, als er keine metaphysische Position umreißt und keine apriorischen Argumente ins Feld führt. Er verteidigt letztlich nur Trivialitäten gegen den in intellektuellen Diskursen häufig unternommenen Versuch, sich dieser zu entledigen.


Den neuen Realismus zeichnet also eine doppelte Frontstellung aus, wenn man es etwas martialisch formulieren will: einerseits wendet er sich ab vom Antirealismus/Konstruktivismus und da insbesondere von den antirealistischen Philosophien der Postmoderne. Ich denke das zeigen die Klappentexte recht anschaulich. Und andererseits eine
Frontstellung gegen den alten Realismus. Wobei dieser Aspekt keineswegs im Vordergrund steht und auch nicht von allen Autoren gleichermaßen vertreten wird.




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Jörn Budesheim
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Mo 4. Mai 2020, 06:51

Dabei geht es nicht nur um "metaphysische Spekulationen", wie ich finde. (Das zeigt sich in dem klappentext zu dem Buch von Julian Nida-Rümelin besonders deutlich.) Der in vielen Zirkeln immer noch dominante Diskurs hat nämlich keine Waffen im "Kampf" gegen Trump und Co anzubieten. Wer die Wahrheit prinzipiell verabschiedet hat, kann dessen Aussagen nicht ohne weiteres als Lüge entlarven. Dazu ein weiteres Zitat aus einem anderen Buch:

Susan Neiman, Widerstand der Vernunft, Ein Manifest in postfaktischen Zeiten

Schon 2004 hat der französische Philosoph Bruno Latour beschrieben, wie die Rechten postmoderne Theorien einsetzen:

»›Sollte die Öffentlichkeit zu dem Schluss kommen‹, schrieb ein republikanischer Stratege, ›dass die wissenschaftlichen Fragen geklärt sind, wird sich ihre Haltung zur Klimaänderung ändern. Also müssen (diejenigen, die gegen neue Regelungen sind) weiter die Abwesenheit wissenschaftlicher Gewissheit in den Vordergrund stellen.‹«

Latour fährt selbstkritisch fort:

»Dennoch gibt es ganze wissenschaftliche Institute, die Studenten beibringen, dass Fakten erfunden sind, dass es keinen natürlichen vorurteilsfreien Zugang zur Wahrheit gibt, dass wir stets von der Sprache gefangen sind, dass wir immer nur von einem bestimmten Standpunkt sprechen usw., während gefährliche Extremisten die gleichen Argumente benutzen, um feste Beweise zu zerstören, die unsere Leben retten könnten. Lag ich falsch, als ich zu diesen Studien beigetragen habe?«




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