Armen Avanessian, in "Realismus | Materialismus | Kunst" hat geschrieben : Diese beiden philosophischen Grundannahmen – der skeptische Kant’sche Ausgangspunkt, dem zufolge das Reale grundsätzlich unzugänglich ist, und die idealistische hegelianische Annahme, der zufolge das Reale grundsätzlich mental oder geistig ist – werden in der jüngeren europäischen Philosophie und kritischen Theorie, die ansonsten versucht, über die Kant’sche Konfiguration hinauszugehen, beibehalten. In diesem intellektuellen Kontext wird der Realismus – die Ansicht, dass die Welt grundsätzlich unabhängig vom menschlichen Denken und Diskurs ist und in ihrer Unabhängigkeit erkannt werden kann – als naiv oder nutzlos abgetan.
Ich will hier nicht Armen Avanessian in Haft nehmen, der ist sozusagen nur der Stichwortgeber. Oft wird das, was ich im zweiten Zitat hervorgehoben haben, auch unter dem Titel bewusstseinsunabhängige Welt oder Realität verhandelt. Über die Problematik des Begriffs der Welt haben wir an anderer Stelle bereits viel diskutiert. Hier möchte ich (noch mal) den Begriff "bewusstseinunabhängig" ins Spiel bringen. Wenn dieser Begriff sozusagen der "Goldstandard" (wie es der Philosoph Markus Gabriel ausdrückt) für Realismus oder für die eigentliche Realität sein soll, dann ergibt sich ein gravierendes Problem. Denn dann hat man bereits in seinem Voreinstellungen das Bewusstsein in irgendeiner Forum ausgeklammert.Armen Avanessian, in "Realismus | Materialismus | Kunst" hat geschrieben : der Realismus [ist] die Ansicht, dass die Welt grundsätzlich unabhängig vom menschlichen Denken und Diskurs ist und in ihrer Unabhängigkeit erkannt werden kann
Den Realismus, der vom Begriff der bewußtseinsunabhängigen Realität ausgeht, nennt Gabriel den alten Realismus. Diesen stellt er seinen neuen Realismus gegenüber. In einem Interview hat er dieses philosophischer Projekt so zusammengefasst:
"Erstens: Wir können die Wirklichkeit so erkennen, wie sie ist. Zweitens: Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist so wirklich wie alles andere auch. Drittens: Die Wirklichkeit ist kein singulärer Gegenstand, in einem Slogan ausgedrückt: »Die Welt gibt es nicht.« Es gibt also, wenn man so will, viele Wirklichkeiten und nicht eine. Das sind die Grundthesen des Neuen Realismus."
An anderer Stelle skizziert Gabriel, welche Form von Realismus ihm vorschwebt: "Die Wahrnehmung nimmt nicht nur Informationen auf, indem unsere Sinnesorgane Teil der Natur sind, die wir wahrnehmen. Sie ist auch selber Information. Dies liegt daran, dass die Wahrnehmung intern strukturiert ist und Unterschiede erschließt, so etwa den Unterschied zwischen rot und blau oder süß und sauer. Wenn wir etwas wahrnehmen, schauen wir nicht auf eine sinnliche Wirklichkeit, aus der wir ausgeschlossen sind. Wir blicken nicht von außen in die Wirklichkeit hinein oder hören mal kurz ins Universum. Das bedeutet, wir müssen uns nicht mittels der Wahrnehmung einer fremden Außenwelt annähern, sondern sind dank ihr bereits mit dem Wirklichen in Kontakt. Das nennen Hubert Dreyfus (1929–2017) und Charles Taylor (*1931) in ihrem Buch Die Wiedergewinnung des Realismus eine Kontakttheorie. Auch darin liegt ein Erbe des Aristoteles, der das Tasten, also das Haptische, mit dem Denken in Verbindung bringt."
Hubert Dreyfus und Charles Taylor verfolgen also ein ähnliches Projekt. Im Verlagstext zu ihren überaus lesenswerten Buch heißt es:
"Als René Descartes im 17. Jahrhundert die Erkenntnistheorie neu erfand, revolutionierte er mehr als eine philosophische Disziplin. Er begründete ein Denkschema, das das metaphysische und ethische Selbstverständnis der westlichen Moderne umfassend geprägt hat und uns – so Hubert Dreyfus und Charles Taylor – bis heute beherrscht. Da es aber auf falschen Voraussetzungen ruht, muss es final dekonstruiert werden. Dies ist das Ziel ihres Buches.
Dazu gilt es, Descartes' wirkmächtigste Idee vom Tisch zu nehmen. Sie lautet, dass wir nie in direkten Kontakt mit der Außenwelt treten, sondern stets vermittelt durch Vorstellungen in unserem Geist. Dreyfus und Taylor zeigen, dass diese Idee bis in die Gegenwart überlebt hat, sogar bei den Philosophen, die behaupten, sie überwunden zu haben. Und sie entwickeln eine Alternative in Rückbesinnung auf eine Traditionslinie, die von Aristoteles bis zu Heidegger und Merleau-Ponty reicht.
Anhand von Begriffen wie Dasein, Zeitlichkeit und Verkörperung skizzieren sie ein radikal neues Paradigma, das den Menschen als immer schon in direktem Kontakt mit der Welt begreift: einen robusten pluralen Realismus, der auch in ethisch-politischer Hinsicht einheitsstiftende Kraft hat. Es ist der endgültige Abschied von Descartes – souverän inszeniert von zwei der bedeutendsten Denker unserer Zeit."
Der alte Realismus, so könnte man vielleicht etwas zugespitzt sagen, teilt mit dem Konstruktivismus oder Antirealismus den Gedanken, dass die eigentliche Welt - wiederum in einer Formulierung von Markus Gabriel -"die Welt ohne Zuschauer" ist. Demgegenüber steht dann sozusagen "die Welt der Zuschauer". Und es stellt sich dann die Frage, wie die beiden überhaupt zusammen kommen. Der Realismus, so wie er Robert Dreyfus und Charles Taylor, aber auch Markus Gabriel und sicherlich vielen anderen vorschwebt, stellt diese Grund-Konstellation grundsätzlich infrage :)