Realismus - alt oder neu?

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Jörn Budesheim
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Mi 29. Apr 2020, 06:30

Armen Avanessian, in "Realismus | Materialismus | Kunst" hat geschrieben : Diese beiden philosophischen Grundannahmen – der skeptische Kant’sche Ausgangspunkt, dem zufolge das Reale grundsätzlich unzugänglich ist, und die idealistische hegelianische Annahme, der zufolge das Reale grundsätzlich mental oder geistig ist – werden in der jüngeren europäischen Philosophie und kritischen Theorie, die ansonsten versucht, über die Kant’sche Konfiguration hinauszugehen, beibehalten. In diesem intellektuellen Kontext wird der Realismus – die Ansicht, dass die Welt grundsätzlich unabhängig vom menschlichen Denken und Diskurs ist und in ihrer Unabhängigkeit erkannt werden kann – als naiv oder nutzlos abgetan.
Armen Avanessian, in "Realismus | Materialismus | Kunst" hat geschrieben : der Realismus [ist] die Ansicht, dass die Welt grundsätzlich unabhängig vom menschlichen Denken und Diskurs ist und in ihrer Unabhängigkeit erkannt werden kann
Ich will hier nicht Armen Avanessian in Haft nehmen, der ist sozusagen nur der Stichwortgeber. Oft wird das, was ich im zweiten Zitat hervorgehoben haben, auch unter dem Titel bewusstseinsunabhängige Welt oder Realität verhandelt. Über die Problematik des Begriffs der Welt haben wir an anderer Stelle bereits viel diskutiert. Hier möchte ich (noch mal) den Begriff "bewusstseinunabhängig" ins Spiel bringen. Wenn dieser Begriff sozusagen der "Goldstandard" (wie es der Philosoph Markus Gabriel ausdrückt) für Realismus oder für die eigentliche Realität sein soll, dann ergibt sich ein gravierendes Problem. Denn dann hat man bereits in seinem Voreinstellungen das Bewusstsein in irgendeiner Forum ausgeklammert.

Den Realismus, der vom Begriff der bewußtseinsunabhängigen Realität ausgeht, nennt Gabriel den alten Realismus. Diesen stellt er seinen neuen Realismus gegenüber. In einem Interview hat er dieses philosophischer Projekt so zusammengefasst:

"Erstens: Wir können die Wirklichkeit so erkennen, wie sie ist. Zweitens: Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist so wirklich wie alles andere auch. Drittens: Die Wirklichkeit ist kein singulärer Gegenstand, in einem Slogan ausgedrückt: »Die Welt gibt es nicht.« Es gibt also, wenn man so will, viele Wirklichkeiten und nicht eine. Das sind die Grundthesen des Neuen Realismus."

An anderer Stelle skizziert Gabriel, welche Form von Realismus ihm vorschwebt: "Die Wahrnehmung nimmt nicht nur Informationen auf, indem unsere Sinnesorgane Teil der Natur sind, die wir wahrnehmen. Sie ist auch selber Information. Dies liegt daran, dass die Wahrnehmung intern strukturiert ist und Unterschiede erschließt, so etwa den Unterschied zwischen rot und blau oder süß und sauer. Wenn wir etwas wahrnehmen, schauen wir nicht auf eine sinnliche Wirklichkeit, aus der wir ausgeschlossen sind. Wir blicken nicht von außen in die Wirklichkeit hinein oder hören mal kurz ins Universum. Das bedeutet, wir müssen uns nicht mittels der Wahrnehmung einer fremden Außenwelt annähern, sondern sind dank ihr bereits mit dem Wirklichen in Kontakt. Das nennen Hubert Dreyfus (1929–2017) und Charles Taylor (*1931) in ihrem Buch Die Wiedergewinnung des Realismus eine Kontakttheorie. Auch darin liegt ein Erbe des Aristoteles, der das Tasten, also das Haptische, mit dem Denken in Verbindung bringt."

Hubert Dreyfus und Charles Taylor verfolgen also ein ähnliches Projekt. Im Verlagstext zu ihren überaus lesenswerten Buch heißt es:

"Als René Descartes im 17. Jahrhundert die Erkenntnistheorie neu erfand, revolutionierte er mehr als eine philosophische Disziplin. Er begründete ein Denkschema, das das metaphysische und ethische Selbstverständnis der westlichen Moderne umfassend geprägt hat und uns – so Hubert Dreyfus und Charles Taylor – bis heute beherrscht. Da es aber auf falschen Voraussetzungen ruht, muss es final dekonstruiert werden. Dies ist das Ziel ihres Buches.

Dazu gilt es, Descartes' wirkmächtigste Idee vom Tisch zu nehmen. Sie lautet, dass wir nie in direkten Kontakt mit der Außenwelt treten, sondern stets vermittelt durch Vorstellungen in unserem Geist. Dreyfus und Taylor zeigen, dass diese Idee bis in die Gegenwart überlebt hat, sogar bei den Philosophen, die behaupten, sie überwunden zu haben. Und sie entwickeln eine Alternative in Rückbesinnung auf eine Traditionslinie, die von Aristoteles bis zu Heidegger und Merleau-Ponty reicht.

Anhand von Begriffen wie Dasein, Zeitlichkeit und Verkörperung skizzieren sie ein radikal neues Paradigma, das den Menschen als immer schon in direktem Kontakt mit der Welt begreift: einen robusten pluralen Realismus, der auch in ethisch-politischer Hinsicht einheitsstiftende Kraft hat. Es ist der endgültige Abschied von Descartes – souverän inszeniert von zwei der bedeutendsten Denker unserer Zeit."


Der alte Realismus, so könnte man vielleicht etwas zugespitzt sagen, teilt mit dem Konstruktivismus oder Antirealismus den Gedanken, dass die eigentliche Welt - wiederum in einer Formulierung von Markus Gabriel -"die Welt ohne Zuschauer" ist. Demgegenüber steht dann sozusagen "die Welt der Zuschauer". Und es stellt sich dann die Frage, wie die beiden überhaupt zusammen kommen. Der Realismus, so wie er Robert Dreyfus und Charles Taylor, aber auch Markus Gabriel und sicherlich vielen anderen vorschwebt, stellt diese Grund-Konstellation grundsätzlich infrage :)




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Jovis
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Fr 1. Mai 2020, 19:18

Ich würde ja gern etwas zu diesem Thema schreiben, denn das hört sich sehr interessant an. Aber irgendwie verstehe ich es noch nicht, habe noch keinen Ansatzpunkt gefunden, an den ich anknüpfen könnte. Ich fange mal bei deinem letzten Absatz an, vielleicht hilft das ja weiter:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 29. Apr 2020, 06:30
Der alte Realismus, so könnte man vielleicht etwas zugespitzt sagen, teilt mit dem Konstruktivismus oder Antirealismus den Gedanken, dass die eigentliche Welt - wiederum in einer Formulierung von Markus Gabriel -"die Welt ohne Zuschauer" ist. Demgegenüber steht dann sozusagen "die Welt der Zuschauer". Und es stellt sich dann die Frage, wie die beiden überhaupt zusammen kommen. Der Realismus, so wie er Robert Dreyfus und Charles Taylor, aber auch Markus Gabriel und sicherlich vielen anderen vorschwebt, stellt diese Grund-Konstellation grundsätzlich infrage :)
Welche beiden müssen da zusammenkommen? Welt und Zuschauer? Und das wäre dann der alte Realismus? Während es im neuen Realismus diese Trennung gar nicht gibt? :?




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Mai 2020, 06:46

Ich antworte mal brökchenweise :) vielleicht finden wir ja eine Stelle, wo du einhaken kannst.
Markus Gabriel hat geschrieben : Der alte Realismus ist die Annahme, dass es eine von unserem Denken, Sprechen, Handeln, Bewusstsein und unserer Geistigkeit unabhängige Wirklichkeit gibt. Der Grund, den man dafür anführt, ist, dass es denkende, sprechende, handelnde geistige und bewusste Lebewesen nicht immer gab. Daraus schließt man dann, dass die Wirklichkeit nicht identisch mit der Wirklichkeit sein kann, wie sie uns erscheint. Denn es gab Wirklichkeit auch schon vor uns, und es wird Wirklichkeit auch nach uns geben. Der alte Realismus gibt das als Goldstandard der Realität aus. Realismus im alten Sinne ist also die Verpflichtung darauf, dass es eine solche von unserem Denken, Handeln und Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit gibt und dass diese Wirklichkeit darüber entscheidet, was wirklich existiert.




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Mai 2020, 06:51

Jovis hat geschrieben :
Fr 1. Mai 2020, 19:18
Welche beiden müssen da zusammenkommen? Welt und Zuschauer? Und das wäre dann der alte Realismus? Während es im neuen Realismus diese Trennung gar nicht gibt? :?
Der alte Realismus hat - natürlich etwas holzschnittartig ausgedrückt - gleichsam strukturell das Problem, wie der Zuschauer und Welt zusammenkommen. Die Welt ist dann gewissermaßen bloß außen: die Außenwelt. Und es fragt sich in dieser Konstellation wie der Zuschauer da überhaupt hinein kommt und es fragt sich, ob sie wirklich existiert. "Die Außenwelt lässt sich nicht beweisen" heißt das dann.

Wolfgang Welsch, den ich jetzt nicht einfach zu den neuen Realisten zählen möchte, hat dafür den passenden Ausdruck gefunden, wir sind in dieser Sichtweise "Weltfremdlinge".

Hubert Dreyfus und Charles Taylor schreiben in "Die Wiedergewinnung des Realismus", dass uns ein Bild gefangen hält. hier ein Ausschnitt aus der Einleitung des Buches: "So schreibt Descartes in einem Brief: »Ich bin sicher, daß ich von dem, was außerhalb meiner selbst ist, keine Erkenntnis haben kann außer durch Vermittlung der Ideen in meinem Inneren.« Dieser Satz erhält seinen Sinn vor dem Hintergrund einer bestimmten Topologie von Geist und Welt. Die Wirklichkeit, die ich erkennen will, befindet sich außerhalb des Geistes; meine Erkenntnis dieser Realität ist im Inneren. Diese Erkenntnis besteht in geistigen Zuständen, die den Anspruch erheben, genau das, was draußen ist, darzustellen. Erkenntnis findet dann statt, wenn diese Zustände die Realität tatsächlich in richtiger und zuverlässiger Form wiedergeben. Zur Erkenntnis der Dinge gelange ich nur durch die Vermittlungsleistung (»par l'entremise«) dieser inneren Zustände, die wir als »Ideen« bezeichnen können.

Diese Form des Realismus schafft sich selbst Probleme, die er mit Bordmitteln nicht mehr lösen kann. Es geht also darum, dass grundlegende Bild, dass uns gefangen hält, zu kritisieren und letztlich loszuwerden.




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Mai 2020, 06:57

MATTHIAS ECKOLDT​

Genau in diesem Zusammenhang wird noch mal der erkenntnistheoretische Aspekt interessant, der ja unmittelbar mit der Erkennbarkeit der Außenwelt zusammenhängt. Beziehungsweise mit dem Begriff der Außenwelt, gegen den Sie sich ja auch immer wieder wehren. Aber da gibt es ja noch die Philosophie des »Als-ob«, sodass wir natürlich einen Begriff davon haben, was in uns ist und was da draußen ist. Das könnte ich erst mal vor- oder nachphilosophisch »Außenwelt« nennen. Wo fängt da für Sie das Problem an?

MARKUS GABRIEL​

Vorphilosophisch ist da erst mal kein Problem. Wenn ich mir unter »Innenwelt« vorstelle, wie ich mich gerade fühle, also, wenn jetzt die Innenwelt die Freude über das Schnitzel ist und die Außenwelt das Schnitzel, dann ist das vorphilosophisch kein Problem. Das ist keine Theoriebildung, und damit bin ich einverstanden. Wenn man hingegen Handkes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt nimmt, ergibt sich eigentlich auch noch kein Problem, es wird allerdings schon etwas schwieriger, weil Handke philosophisch vorbelastet ist. Schwierig wird es, wenn man aus Innenwelt/Außenwelt eine Theorie macht. Denn wenn man sagt, die Außenwelt ist außerhalb meines Bewusstseins, dann muss ich schon aussteigen, weil »in meinem BeBewusstsein« keine Ortsangabe ist, so wie »in Bonn«. In meinem Bewusstsein ist einiges und, außerhalb meines Bewusstseins etwas anderes. Jetzt hat man zwei ganz merkwürdige Orte, den einen, den man nur von innen anschauen kann, und den anderen, den man nur von außen anschauen kann. Damit beginnen lauter metaphysische Schwierigkeiten. Wenn man unter Innenwelt und Außenwelt nur eine Distinktion versteht, die ich auch mit einer völlig anderen Sprache machen kann – zum Beispiel: meine Gefühle und die Dinge –, habe ich »innen« und »außen« gar nicht verwendet. Das heißt, solange man den Ausdruck »Außenwelt« durch einen legitim verwendbaren Ausdruck ersetzen kann, bin ich mit ihm einverstanden. Meistens bedeutet »Außenwelt« aber die Welt außerhalb meines Bewusstseins. Das ist eigentlich immer damit gemeint in der Philosophie: die bewusstseinsunabhängige Außenwelt.




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Jörn Budesheim
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Sa 2. Mai 2020, 07:22

Nun ist allerdings der "neue Realismus" keineswegs ein Monolith. Maurizio Ferraris - z.b. - mit dem zusammen Markus Gabriel den Begriff für eine Konferenz bildet hat, "folgt" Gabriel keineswegs in allen seinen Ansichten und kritisiert ihn für seine spezielle Form von Pluralismus, wenn ich mich recht entsinne. Dazu muss ich aber die Quelle im Moment schuldig bleiben, ganz einfach weil ich das Buch nicht finde :) und auch in dem von Armen Avanessian herausgegeben im Buch "Realismus | Materialismus | Kunst" findet sich ein bunter Strauß verschiedener Realismen.




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Jovis
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Sa 2. Mai 2020, 15:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 29. Apr 2020, 06:30
An anderer Stelle skizziert Gabriel, welche Form von Realismus ihm vorschwebt: "Die Wahrnehmung nimmt nicht nur Informationen auf, indem unsere Sinnesorgane Teil der Natur sind, die wir wahrnehmen. Sie ist auch selber Information. Dies liegt daran, dass die Wahrnehmung intern strukturiert ist und Unterschiede erschließt, so etwa den Unterschied zwischen rot und blau oder süß und sauer. Wenn wir etwas wahrnehmen, schauen wir nicht auf eine sinnliche Wirklichkeit, aus der wir ausgeschlossen sind. Wir blicken nicht von außen in die Wirklichkeit hinein oder hören mal kurz ins Universum. Das bedeutet, wir müssen uns nicht mittels der Wahrnehmung einer fremden Außenwelt annähern, sondern sind dank ihr bereits mit dem Wirklichen in Kontakt. Das nennen Hubert Dreyfus (1929–2017) und Charles Taylor (*1931) in ihrem Buch Die Wiedergewinnung des Realismus eine Kontakttheorie. Auch darin liegt ein Erbe des Aristoteles, der das Tasten, also das Haptische, mit dem Denken in Verbindung bringt."
Gut, hake ich mal hier ein, bei der Sache mit Aristoteles und dem Haptischen. Normalerweise wird ja das Sehen als Hauptmetapher für das Denken verwendet - ich glaube, Nauplios hatte im anderen Forum dazu mal recht ausführlich Blumenberg referiert, Stichwort Aufklärung/Enlightenment. Sehen aber ist ein distanzierter Sinn, man muss einigen Abstand zum Objekt haben, um es scharf in den Blick zu bekommen. Dazu kommt noch, dass das Auge uns die Welt nicht zeigt, wie sie "wirklich" ist, sondern das Bild noch gedreht werden muss (eine Sache, die ich nie recht verstanden habe - welchen evolutionsbiologischen Nutzen hat das?).

Das Tasten findet dagegen nur statt, wenn man die Distanz überwindet. Ich komme dem Gegenstand/der Welt wirklich nahe oder sie kommt mir nahe, nur dann funktioniert das. Wenn man also das Tasten "mit dem Denken in Verbindung bringt" (was ja eine sehr vorsichtige Formulierung ist), so wäre ein "tastendes Denken" mittendrin, während ein "sehendes Denken" davor bleibt.

(Was folgt nun daraus?)




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Jovis
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Sa 2. Mai 2020, 16:03

Ich finde es irgendwie kurios, dass es immer wieder Versuche gibt, einen philosophischen Realismus zu verteidigen. Ich finde das einerseits zwar sehr "sympathisch", habe aber andererseits das Gefühl, dass man dabei höllisch aufpassen muss, dass das nicht zu naiv ausfällt. Oder zu "angelsächsisch-pragmatisch". Ich wünschte mir einen Realismus, der sich z.B. nicht in Gegensatz zu Kant stellt, sondern der Kant in sich "aufhebt" (im Hegelschen Sinne). Ohne dass ich gerade den blassesten Schimmer habe, wie das aussehen könnte. :D




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Alethos
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Jovis hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 16:03
Ich wünschte mir einen Realismus, der sich z.B. nicht in Gegensatz zu Kant stellt, sondern der Kant in sich "aufhebt".
Ein Slogan des Idealismus à la Kant in neorealistischer Pose würde anekdotisch in etwa so lauten: "Das Ding an sich ist uns immer in der Form von Erscheinungen gegeben. Ihr Gegebensein in dieser Form gehört zu seiner Realität als eben dieses Ding."

Mir ist vollkommen klar, dass das so rüberkommt, als wollte ich den Realismus auf dem Ideenmarkt par tout verhökern. :mrgreen:



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Jovis
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Sa 2. Mai 2020, 17:41

:lol: :lol: :lol:




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Jörn Budesheim
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Eine Position, die meint, wir können das Ding an sich nicht erkennen, ist mit einer, die das Gegenteil behauptet natürlich nicht so ohne weiteres zu versöhnen.




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Schimmermatt
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Sa 2. Mai 2020, 18:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 18:32
Eine Position, die meint, wir können das Ding an sich nicht erkennen, ist mit einer, die das Gegenteil behauptet natürlich nicht so ohne weiteres zu versöhnen.
Och, zum Preis einer unglaublichen Ungefährheit, vage bis zur Konturlosigkeit, als sprachliches Artefakt im Umdefinierungsprozess, da geht das!



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Jörn Budesheim
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Jovis hat geschrieben :
Do 30. Apr 2020, 16:03
Ein Insekt mag beim Anblick einer Blume andere Aspekte wahrnehmen als ich, aber daraus folgt meines Erachtens nur, dass die Blume eben ungemein vielfältig ist und viele Sichtweisen zulässt, die alle richtig oder wahr sind
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 17:05
Ein Slogan des Idealismus à la Kant in neorealistischer Pose würde anekdotisch in etwa so lauten: "Das Ding an sich ist uns immer in der Form von Erscheinungen gegeben. Ihr Gegebensein in dieser Form gehört zu seiner Realität als eben dieses Ding."
Markus Gabriel hat geschrieben : Meines Erachtens bestünde das angemessene Phänomenalisierungsmodell unter kantischen Prämissen genau darin, Erscheinungen als unproblematischen Zugang zu Aspekten von Dingen an sich aufzufassen. Erscheinungen wären nicht ein Aspekt neben anderen, sondern diejenigen Aspekte, unter denen uns Dinge an sich erscheinen. Dieses Modell wäre keine Zwei-Aspekte-Theorie, sondern eine Theorie, der zufolge Aspekte sich auf Dinge an sich unter einer bestimmten Beschreibung beziehen, weil sie schlichtweg Eigenschaften dieser Dinge sind.[30] Man gewinnt demnach keinen besseren Einblick in die Dinge an sich, wenn man von allen Beschreibungen abstrahiert, die an unsere Formen der Rezeptivität gebunden sind, weil unsere Formen bereits unproblematisch geeignet dafür sind, Dinge an sich aspekthaft zu erfassen. Dieses Modell wäre auch keine Zwei-Welten-Theorie, da Dinge an sich nicht zu einer Welt gehörten, die jenseits unserer kognitiven Reichweite läge. Dinge an sich hätten nicht weniger Eigenschaften als diejenigen, die wir mit artspezifischen Beschreibungen ausdrücken, sondern mehr Eigenschaften, als wir aufgrund unserer Endlichkeit – das heißt aufgrund unserer artspezifischen kognitiven Aussattung – erkennend erfassen können.




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So 3. Mai 2020, 05:43

Jovis hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 15:55
Tasten
Nun sind aber die Begriffe Tasten und Kontakt nicht synonym. Nach dieser bestimmten realistischen Sicht bringen uns alle Sinne im Kontakt mit Wirklichkeit. Das ist nicht auf diejenigen Gegenstände beschränkt, die wir ertasten können. Die Idee ist also, dass uns Wahrnehmungen generell in Kontakt mit den Gegenständen bringt. Das ist für Gabriel sogar die Definition von Wahrnehmung. (Wahrnehmung ist dabei übrigens der Oberbegriff, unter den auch das Denken fällt.)

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In der neuen "Information Philosophie" wird der (mir bisher völlig unbekannte) Phänomenologe Ohashi vorgestellt. Für ihn ist laut Information Philosophie der Tastsinn das Paradigma eines Sinnes. Alle Sinne sind Modifikationen des Tastsinns: "Ohashi sieht in den Fünfsinnen die Funktionen, die an den Spitzen der fünf Körperorgane Auge, Ohr, Nase, Zunge und Hände die Außenwelt berührt." "Fünfsinnen" - kein Schreibfehler, so wird es wirklich geschrieben bei Ohashi. Vielleicht um deutlich zu machen, dass die Sinne ein Team sind.

Der (wie ich finde äußerst schöne) Grundgedanke dabei ist offenbar, dass uns die Wirklichkeit berührt!




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Alethos
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So 3. Mai 2020, 09:20

Schimmermatt hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 18:45
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 18:32
Eine Position, die meint, wir können das Ding an sich nicht erkennen, ist mit einer, die das Gegenteil behauptet natürlich nicht so ohne weiteres zu versöhnen.
Och, zum Preis einer unglaublichen Ungefährheit, vage bis zur Konturlosigkeit, als sprachliches Artefakt im Umdefinierungsprozess, da geht das!
Vielleicht könntest du in einem Präzisierungsprozess erläutern, was in deinen Augen im Ungefähren bleibt. Idealerweise würdest du dies mit schön konturierten Begriffen tun, nicht etwa mit vagen.



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So 3. Mai 2020, 12:49

Alethos hat geschrieben :
So 3. Mai 2020, 09:20
Schimmermatt hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 18:45
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Mai 2020, 18:32
Eine Position, die meint, wir können das Ding an sich nicht erkennen, ist mit einer, die das Gegenteil behauptet natürlich nicht so ohne weiteres zu versöhnen.
Och, zum Preis einer unglaublichen Ungefährheit, vage bis zur Konturlosigkeit, als sprachliches Artefakt im Umdefinierungsprozess, da geht das!
Vielleicht könntest du in einem Präzisierungsprozess erläutern, was in deinen Augen im Ungefähren bleibt. Idealerweise würdest du dies mit schön konturierten Begriffen tun, nicht etwa mit vagen.
Markus Gabriel hat geschrieben :
Meines Erachtens bestünde das angemessene Phänomenalisierungsmodell unter kantischen Prämissen genau darin, Erscheinungen als unproblematischen Zugang zu Aspekten von Dingen an sich aufzufassen. Erscheinungen wären nicht ein Aspekt neben anderen, sondern diejenigen Aspekte, unter denen uns Dinge an sich erscheinen. Dieses Modell wäre keine Zwei-Aspekte-Theorie, sonderü Theorie, der zufolge Aspekte sich auf Dinge an sich unter einer bestimmten Beschreibung beziehen, weil sie schlichtweg Eigenschaften dieser Dinge sind.[30] Man gewinnt demnach keinen besseren Einblick in die Dinge an sich, wenn man von allen Beschreibungen abstrahiert, die an unsere Formen der Rezeptivität gebunden sind, weil unsere Formen bereits unproblematisch geeignet dafür sind, Dinge an sich aspekthaft zu erfassen. Dieses Modell wäre auch keine Zwei-Welten-Theorie, da Dinge an sich nicht zu einer Welt gehörten, die jenseits unserer kognitiven Reichweite läge. Dinge an sich hätten nicht weniger Eigenschaften als diejenigen, die wir mit artspezifischen Beschreibungen ausdrücken, sondern mehr Eigenschaften, als wir aufgrund unserer Endlichkeit – das heißt aufgrund unserer artspezifischen kognitiven Aussattung – erkennend erfassen können.

Da ist alles gesagt. Das Ding an sich wird flugs umdefiniert, so dass es das "Ding für mich" als Potenzial immer schon enthielt. Sauber, das Ding an sich bietet Milliarden Sichtpotenziale "an sich" an. Das ist natürlich nicht falsch, bloß ... Kapitulation durch Schwammigkeit. Schon wenn ich Sprache nutze, hebe ich, Du hast es selbst in die Debatte gebracht, Alethos, Dinge auf eine Metaebene, auf der wir es mit Begriffen und nicht den Dingen an sich zu tun haben. Mit einer Binse wie "Auch Sprache findet in der Realität statt" lässt sich der Dualismus von real und phänomenal nur unter Preisgabe von Differenzierung einebnen. Erscheinungen können eben nicht ohne Verkürzung als unproblematischer Zugang zu Aspekten des Dinges an sich aufgefasst werden, oft sind das Halluzinationen, Träume, Synästhesien, was auch immer. Wer will jetzt entscheiden, was dem Ding adäquat zugeordnet wird, also welche Erkenntnis die Richtige ist? Da reicht es eben nicht, zu sagen, objektiv sei etwas, wenn es wahr oder falsch ist (s.u.). An der Stelle will ich wissen, was hier konkret stimmt! Ich kann auch vage das Universum als Potenzial für alle Phänomene nennen, das ist auch nicht falsch - damit begebe ich mich aber in eine ähnliche Situation wie der Pantheist: wenn Gott in allem ist, dann ist er bedeutungslos, nichts. Ich verstehe nicht, wie man einen Markus Gabriel für diese Vulgärphilosophie so feiern kann. Das oben ist keine neue Synthese, sondern ein Rückschritt hinter Kants Differenzierung, die mal eine wirkliche Synthese war. Im Gegenteil: Gabriel schafft es offenbar, Anhänger durch einen realistischen Optimismus zu bekommen, dabei verbrämt er nur einen epistemologisch wenig aussagekräftigen Skeptizismus. "Objektivität als Potenzial des wahr oder falsch sein könnens", da will man nicht auf den guten Klang von "Objektivität" verzichten, kann aber die Postulate des ursprünglichen Objektivitätsbegriffes nicht einlösen. Versteht mich nicht falsch, irgendwie ist alle Erkenntnis den Potenzialen von Dingen geschuldet, bei Subjekten Erkenntnisse zu evozieren, klar. Nur: eine aussagekräftige Erkenntnistheorie bekomme ich damit über popper'schen Skeptizismus hinaus nicht hin.

Um die geforderte Kontur noch etwas zu schärfen: Mich erinnert dies an die Versuche in der Kulturgeschichte, gute Erzählungen gegen das Leid zu finden. So begann man in steinzeitlichen Höhlen gegen den Verlust des Todes Mystik zu erfinden, die die Vergänglichkeit erträglich machen sollten. Noch die jüdische und die katholische Theologie bieten dem Individuum viel an: ewiges Leben im paradiesischen Himmel. Im Laufe des philosophischen Diskurses schleift sich das ab, die Protestanten später versprechen dem Einzelnen schon weit weniger, kann auch sein, dass man eh verdammt ist. Noch modernere Theologie verspricht dem Individuum schon gar keinen Gott mehr: im marxistisch-leninistischen "Katechismus" heißt es, dass die Ersten den Tod, die Zweiten die Not und die Dritten das Brot haben, eine deutliche Hoffnungsreduktion. Neorealisten geben sich heute mit dürren Skeletten einstmals erhabener Begriffe wie "Objektivität" oder "Ding an sich" zufrieden, so ähnlich wie Marxisten christliche Erlösermetaphern nutzten, um wenigstens nicht den schönen Klang der Erhabenheit vermissen zu müssen, wenn man auch die ehedem intendierten Inhalte nicht erfüllen konnte. Zugeben, dass im Prinzip jedes Mal die Frage größer ist als die Antwort, will aber selbst nach dem schauerlichen Siegeszug des Skeptizismus in der Philosophiegeschichte kaum jemand.

Oder: wie kann ich wissen, dass mich Brot auch morgen nähren wird aka dass die Zukunft der Vergangenheit ähnelt, Herr Gabriel?



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Jörn Budesheim
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Schimmermatt hat geschrieben :
So 3. Mai 2020, 12:49
Ich verstehe nicht, wie man einen Markus Gabriel für diese Vulgärphilosophie so feiern kann.
Er wird keineswegs durchgängig gefeiert. Aber, das kann man sagen, er wird weltweit intensiv diskutiert. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Büchern, in denen Gabriels Position diskutiert wird und einige in denen Gabriel selbst darauf antwortet. Das zeigt, dass die Dinge keineswegs so einfach liegen, wie du denkst.




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Schimmermatt
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So 3. Mai 2020, 14:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 3. Mai 2020, 14:04

Er wird keineswegs durchgängig gefeiert. Aber, das kann man sagen, er wird weltweit intensiv diskutiert. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Büchern, in denen Gabriels Position diskutiert wird und einige in denen Gabriel selbst darauf antwortet. Das zeigt, dass die Dinge keineswegs so einfach liegen, wie du denkst.
Wirklich? Das zeigt das? Es zeigt eventuell eher, dass die Dinge nicht so liegen, wie Gabriel denkt. Abgesehen davon habe ich gar nicht gesagt, er würde durchgängig gefeiert. Ich sag so schon genug dumm Tüch, da kann man gern das attackieren, was ich sage, aber nicht das, was ich vermeintlich oder auch gar nicht sage.



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Jovis
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So 3. Mai 2020, 20:12

Ich weiß nicht, warum ich solche Schwierigkeiten mit diesem Thema habe. Ich glaube, das liegt daran, dass ich gar nicht weiß, was den "alten Realismus" eigentlich ausmacht und demnach das Neue am "neuen Realismus" nicht richtig einschätzen kann.

Ich versuche es mal ganz simpel: Der alte Realismus sagt, dass es eine Realität gibt, die unabhängig von unserem Bewusstsein existiert.* Diese Realität ist für uns prinzipiell erkennbar. Die Schwierigkeit ist nur, wie diese Erkenntnis vonstatten gehen soll, wenn die beiden doch unabhängig voneinander sind. Stichwort "Welt und Zuschauer".

Der neue Realismus sagt, dass es eine Realität gibt, von der wir ein Teil sind. Diese Realität ist für uns prinzipiell erkennbar, weil die Trennung zwischen "Welt" und "Zuschauer" durch die Teilhabe aufgehoben ist.

Soweit richtig?



*Das wird doch aber der Idealismus (das Gegenstück zum Realismus, wie ich dem Lexikon, zu dem ich in meiner Verzweiflung gegriffen habe, entnehme - ja ja, ich weiß, ich stelle mich an wie der erste Mensch :lol: ) nicht ernsthaft leugnen wollen, oder? Immerhin gibt es ja das Ding an sich. Es ist doch nur eine Frage der erkenntnistheoretischen Priorität, welchen Stellenwert diese Realität hat.




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