Hegel hat geschrieben : Das Denken als [71] die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist. Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich.
(Unterstreichung von mir)
"Das Denken als Subjekt vorgestellt" - diese Formulierung deutet an, dass man sich das Denken nicht zwingend als Subjekt vorstellen muss. Tut man es, betrachtet man das Subjekt als das Wesen, das die Tätigkeit des Denkens ausübt. Das Denken wird ihm dann als seine Handlung zugeschrieben. Das Subjekt ist der Initiator und Vollzieher des Denkakts. Das Denken ist ihm gewissermaßen angeheftet, so dass es als sein "Träger" erscheint. Entfällt dieser Träger, so erlischt auch die Denktätigkeit, und es vergeht das Gedachte. So vorgestellt, sind das Denken und das Gedachte auf Gedeih und Verderb an das endliche Individuum und sein Tun gebunden. - Aber Hegel will eben darauf hinaus, dass das Denken nicht völlig an die vergänglichen Individuen und ihre zufälligen Denktätigkeiten gebunden ist. Ihm liegt daran, die "Un-Endlichkeit" des Denkens hervorzukehren und plausibel zu machen.
Wie lässt sich das verstehen? Wie soll man sich vorstellen, dass das denkende Individuum kraft seines Denkens das Endliche transzendiert und an "Unendlichkeit" partizipiert? Glaubt Hegel an so etwas wie eine göttliche, immaterielle Weltseele, deren Denken die ganze Welt durchdringt und zusammenhält, so dass auch die endlichen Subjekte zeitweise daran teilhaben können? Es gibt viele, die Hegel so oder ähnlich interpretieren, aber diese Interpreten haben vermutlich seine hartnäckige, ja geradezu penetrante Kritik am "vorstellenden Denken" nicht gründlich genug bedacht. Sonst würden sie mit ihrer Interpretation nicht selbst ein Paradebeispiel für bloß "vorstellendes Denken" liefern...
Auch in seiner Anmerkung zum § 20 kann sich Hegel die Kritik am vorstellenden Denken nicht verkneifen. Er charakterisiert dort Vorstellungen als ein Zwischending zwischen Sinnlichem und Gedanklichem. Einerseits liefern sinnliche Anschauungen den "Stoff" für Vorstellungen, andererseits gibt es auch Vorstellungen, die dem Denken entsprungen sind - z.B. die Vorstellungen "Recht", "Denken", "Gott". Dass diese Vorstellungen dem Denken entstammen müssen, ist insofern klar, als es sich um sinnlich nicht Wahrnehmbares handelt. Aber Vorstellungen haben mit dem Sinnlichen den Charakter der Einzelheit und des Nacheinanders gemeinsam. Sie lehnen sich also gewissermaßen ans Sinnliche, Anschauliche an. Obwohl sie nicht anschaulich sind, erscheinen Vorstellungen so als einzelne Quasi-Gegenstände, die separat voneinander "gegeben" sind und hübsch diskret nacheinander im Bewusstsein auftauchen. Bleibt das Denken dem Vorstellen verhaftet, so scheint es, als ob es diese vereinzelten "Gegenstände" oder "Gegebenheiten" erst nachträglich miteinander in Beziehung setzte - etwa dadurch, dass es ihnen Eigenschaften zu- oder abspricht oder sie logisch miteinander verknüpft.
Vorstellendes Denken ist wohl unausweichlich. Es ist gewissermaßen ein Faktum unseres Bewusstseinslebens, das sich durch Selbstbeobachtung leicht belegen lässt. Daran führt also kein Weg vorbei. Davon geht auch Hegel aus. Freilich müssen und dürfen wir nach Hegel beim vorstellenden Denken nicht stehen bleiben. Wir können es kraft unseres bestimmten, konsequenten Denkens hinter uns lassen und es als eine mangelhafte, endliche Vorstufe der Erkenntnis begreifen. Und genau darin sieht Hegel die Aufgabe der Philosophie in ihrer avancierten Form:
Der Unterschied von Vorstellung und von Gedanken hat die nähere Wichtigkeit, weil überhaupt gesagt werden kann, daß die Philosophie [73] nichts anderes tue, als die Vorstellungen in Gedanken zu verwandeln, – aber freilich fernerhin den bloßen Gedanken in den Begriff.
(Meine Unterstreichung)
Nach Hegels Verständnis war die gesamte traditionelle, vor-kantianische Metaphysik mit ihrem Apparat von Begriffen (Sein, Dasein, Substanz, Wesen...) und Gegenständen ein Ausbund des vorstellenden Denkens und einer Logik, die sich davon noch nicht losmachen konnte. Diese Metaphysik war - wie anders auch die Mythen und die Kunst - als Phase der menschlichen Bildungs- und Lerngeschichte unvermeidlich. Der menschliche Geist konnte sich eben nicht mit einem Schlag vom vorstellenden Denken befreien, es kostete ihn eine lange, mühselige "Arbeit des Begriffs". Aber diese führte ihn mit innerer Konsequenz letztlich darüber hinaus. Mit seiner "Wissenschaft der Logik" will Hegel diese Entwicklung rekonstruieren und ihre interne logische Notwendigkeit darlegen.
Und nun wird vielleicht auch verständlicher, wieso Hegel meinen kann, dass das Denken des endlichen Individuums doch etwas "Un-Endliches" sein könne. Denn als denkende Individuen stehen wir ja nicht isoliert in der Welt herum, wir sind alle unweigerlich in ein geschichtliches Kontinuum des Denkens, Forschens und Erkennens eingebunden, in das jedes Kind sich im Laufe seiner persönlichen Lerngeschichte einarbeiten muss. Wir denken mit den Begriffen, die schon unsere Vorfahren verwendeten, bauen auf die Erkenntnisse großer Entdecker und Denker auf, schlagen uns aber auch mit Problemen und Aporien herum, an denen bereits die Alten herumdokterten. Der Satz des Pythagoras, den jedes Kind in der Schule lernt, ist immer noch derselbe Gedanke, den schon Pythagoras gedacht hat. Er ist als Gedanke nicht mit ihm gestorben, er "lebt" in jedem weiter, der ihn aufs Neue versteht und anwendet.
Denken hat also, kraft seiner Allgemeinheit, seiner begrifflichen Bestimmtheit und seiner logischen Kohärenz, jederzeit das Potential, die Grenzen des individuellen Bewusstseins zu überschreiten. Es bleibt nicht in die Innerlichkeit des mit sich und seinen privaten Vorstellungen beschäftigten Ich eingesperrt. "Geist" ist mitnichten nur das, was wir in der "Introspektion" erleben, in der selbstreflexiven Nabelschau des "Ich denke". Geist prägt in seinen praktischen Anwendungen und Konsequenzen die wirkliche Welt, in der wir uns mit jeder Regung bewegen...