Was heißt "denken"?

Drei wichtige philosophische Schulen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, welche die Philosophie europäischer und amerikanischer Provenienz mitgeprägt haben
Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Do 7. Sep 2017, 14:54

Es ist Zeit, den nächsten Schritt zu tun. Schon im letzten Beitrag zeichnete sich ab, dass Hegel bei aller Übereinstimmung mit Kant doch das denkende Ich nicht als Prinzip allen menschlichen Wissens begreift. Immer wieder hat er dieses Haltmachen am Standpunkt des Subjekts als unzureichend und inkonsequent kritisiert. An seiner eigentümlichen Formulierung aus dem § 20 der "Enzyklopädie" lässt sich auch schon andeutungsweise seine Begründung dafür absehen:
Hegel hat geschrieben : Das Denken als [71] die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist. Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich.

(Unterstreichung von mir)

"Das Denken als Subjekt vorgestellt" - diese Formulierung deutet an, dass man sich das Denken nicht zwingend als Subjekt vorstellen muss. Tut man es, betrachtet man das Subjekt als das Wesen, das die Tätigkeit des Denkens ausübt. Das Denken wird ihm dann als seine Handlung zugeschrieben. Das Subjekt ist der Initiator und Vollzieher des Denkakts. Das Denken ist ihm gewissermaßen angeheftet, so dass es als sein "Träger" erscheint. Entfällt dieser Träger, so erlischt auch die Denktätigkeit, und es vergeht das Gedachte. So vorgestellt, sind das Denken und das Gedachte auf Gedeih und Verderb an das endliche Individuum und sein Tun gebunden. - Aber Hegel will eben darauf hinaus, dass das Denken nicht völlig an die vergänglichen Individuen und ihre zufälligen Denktätigkeiten gebunden ist. Ihm liegt daran, die "Un-Endlichkeit" des Denkens hervorzukehren und plausibel zu machen.

Wie lässt sich das verstehen? Wie soll man sich vorstellen, dass das denkende Individuum kraft seines Denkens das Endliche transzendiert und an "Unendlichkeit" partizipiert? Glaubt Hegel an so etwas wie eine göttliche, immaterielle Weltseele, deren Denken die ganze Welt durchdringt und zusammenhält, so dass auch die endlichen Subjekte zeitweise daran teilhaben können? Es gibt viele, die Hegel so oder ähnlich interpretieren, aber diese Interpreten haben vermutlich seine hartnäckige, ja geradezu penetrante Kritik am "vorstellenden Denken" nicht gründlich genug bedacht. Sonst würden sie mit ihrer Interpretation nicht selbst ein Paradebeispiel für bloß "vorstellendes Denken" liefern...

Auch in seiner Anmerkung zum § 20 kann sich Hegel die Kritik am vorstellenden Denken nicht verkneifen. Er charakterisiert dort Vorstellungen als ein Zwischending zwischen Sinnlichem und Gedanklichem. Einerseits liefern sinnliche Anschauungen den "Stoff" für Vorstellungen, andererseits gibt es auch Vorstellungen, die dem Denken entsprungen sind - z.B. die Vorstellungen "Recht", "Denken", "Gott". Dass diese Vorstellungen dem Denken entstammen müssen, ist insofern klar, als es sich um sinnlich nicht Wahrnehmbares handelt. Aber Vorstellungen haben mit dem Sinnlichen den Charakter der Einzelheit und des Nacheinanders gemeinsam. Sie lehnen sich also gewissermaßen ans Sinnliche, Anschauliche an. Obwohl sie nicht anschaulich sind, erscheinen Vorstellungen so als einzelne Quasi-Gegenstände, die separat voneinander "gegeben" sind und hübsch diskret nacheinander im Bewusstsein auftauchen. Bleibt das Denken dem Vorstellen verhaftet, so scheint es, als ob es diese vereinzelten "Gegenstände" oder "Gegebenheiten" erst nachträglich miteinander in Beziehung setzte - etwa dadurch, dass es ihnen Eigenschaften zu- oder abspricht oder sie logisch miteinander verknüpft.

Vorstellendes Denken ist wohl unausweichlich. Es ist gewissermaßen ein Faktum unseres Bewusstseinslebens, das sich durch Selbstbeobachtung leicht belegen lässt. Daran führt also kein Weg vorbei. Davon geht auch Hegel aus. Freilich müssen und dürfen wir nach Hegel beim vorstellenden Denken nicht stehen bleiben. Wir können es kraft unseres bestimmten, konsequenten Denkens hinter uns lassen und es als eine mangelhafte, endliche Vorstufe der Erkenntnis begreifen. Und genau darin sieht Hegel die Aufgabe der Philosophie in ihrer avancierten Form:
Der Unterschied von Vorstellung und von Gedanken hat die nähere Wichtigkeit, weil überhaupt gesagt werden kann, daß die Philosophie [73] nichts anderes tue, als die Vorstellungen in Gedanken zu verwandeln, – aber freilich fernerhin den bloßen Gedanken in den Begriff.

(Meine Unterstreichung)

Nach Hegels Verständnis war die gesamte traditionelle, vor-kantianische Metaphysik mit ihrem Apparat von Begriffen (Sein, Dasein, Substanz, Wesen...) und Gegenständen ein Ausbund des vorstellenden Denkens und einer Logik, die sich davon noch nicht losmachen konnte. Diese Metaphysik war - wie anders auch die Mythen und die Kunst - als Phase der menschlichen Bildungs- und Lerngeschichte unvermeidlich. Der menschliche Geist konnte sich eben nicht mit einem Schlag vom vorstellenden Denken befreien, es kostete ihn eine lange, mühselige "Arbeit des Begriffs". Aber diese führte ihn mit innerer Konsequenz letztlich darüber hinaus. Mit seiner "Wissenschaft der Logik" will Hegel diese Entwicklung rekonstruieren und ihre interne logische Notwendigkeit darlegen.

Und nun wird vielleicht auch verständlicher, wieso Hegel meinen kann, dass das Denken des endlichen Individuums doch etwas "Un-Endliches" sein könne. Denn als denkende Individuen stehen wir ja nicht isoliert in der Welt herum, wir sind alle unweigerlich in ein geschichtliches Kontinuum des Denkens, Forschens und Erkennens eingebunden, in das jedes Kind sich im Laufe seiner persönlichen Lerngeschichte einarbeiten muss. Wir denken mit den Begriffen, die schon unsere Vorfahren verwendeten, bauen auf die Erkenntnisse großer Entdecker und Denker auf, schlagen uns aber auch mit Problemen und Aporien herum, an denen bereits die Alten herumdokterten. Der Satz des Pythagoras, den jedes Kind in der Schule lernt, ist immer noch derselbe Gedanke, den schon Pythagoras gedacht hat. Er ist als Gedanke nicht mit ihm gestorben, er "lebt" in jedem weiter, der ihn aufs Neue versteht und anwendet.

Denken hat also, kraft seiner Allgemeinheit, seiner begrifflichen Bestimmtheit und seiner logischen Kohärenz, jederzeit das Potential, die Grenzen des individuellen Bewusstseins zu überschreiten. Es bleibt nicht in die Innerlichkeit des mit sich und seinen privaten Vorstellungen beschäftigten Ich eingesperrt. "Geist" ist mitnichten nur das, was wir in der "Introspektion" erleben, in der selbstreflexiven Nabelschau des "Ich denke". Geist prägt in seinen praktischen Anwendungen und Konsequenzen die wirkliche Welt, in der wir uns mit jeder Regung bewegen...




Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Fr 8. Sep 2017, 01:08

Gottlob Frege hat geschrieben : Ist der Gedanke eine Vorstellung? Wenn der Gedanke, den ich im pythagoreischen Lehrsatz ausspreche, ebenso von andern wie von mir als wahr anerkannt werden kann, dann gehört er nicht zum Inhalte meines Bewußtseins, dann bin ich nicht sein Träger und kann ihn trotzdem als wahr anerkennen. Wenn es aber gar nicht derselbe Gedanke ist, der von mir und der von jenem als Inhalt des pythagoreischen Lehrsatzes angesehen wird, dann dürfte man eigentlich nicht sagen „der pythagoreische Lehrsatz”, sondern „mein pythagoreischer Lehrsatz”, „sein pythagoreischer Lehrsatz”, und diese wären verschieden; denn der Sinn gehört notwendig zum Satze. Dann kann mein Gedanke Inhalt meines Bewußtseins, sein Gedanke Inhalt seines Bewußtseins sein. Könnte dann der Sinn meines pythagoreischen Lehrsatzes wahr, der seines falsch sein?

(...)

Wenn jeder Gedanke eines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte er gehört, so ist er Gedanke nur dieses Trägers, und es gibt keine Wissenschaft, welche vielen gemeinsam wäre, an welcher viele arbeiten könnten; sondern ich habe vielleicht meine Wissenschaft, nämlich ein Ganzes von Gedanken, deren Träger ich bin, ein anderer hat seine Wissenschaft. Jeder von uns beschäftigt sich mit Inhalten seines Bewußtseins. Ein Widerspruch zwischen beiden Wissenschaften ist dann nicht möglich; und es ist eigentlich müßig, sich um die Wahrheit zu streiten, ebenso müßig, ja beinahe lächerlich, wie es wäre, wenn zwei Leute sich stritten, ob ein Hundertmarkschein echt wäre, wobei jeder von beiden denjenigen meinte, den er selber in seiner Tasche hätte, und das Wort „echt” in seinem besonderen Sinne verstände. Wenn jemand die Gedanken für Vorstellungen hält, so ist das, was er damit als wahr anerkennt, nach seiner eigenen Meinung Inhalt seines Bewußtseins und geht andere eigentlich gar nichts an. Und wenn er von mir die Meinung hörte, der Gedanke wäre nicht Vorstellung, so könnte er das nicht bestreiten; denn das ginge ihn ja nun wieder nichts an.

(G. Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung. Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 2 1918-1919, S. 68f.)
Hat Frege etwa Hegel studiert? Man möchte es fast glauben, denn sein hier vorgetragenes Argument gegen den logischen Psychologismus scheint unmittelbar anzuknüpfen an Hegels Ausführungen über Vorstellungen und Gedanken, über das Meinen und das Allgemeine.




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Fr 8. Sep 2017, 23:58

Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 7. Sep 2017, 14:54
Hegel hat geschrieben : Das Denken als [71] die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist. Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich.

(Unterstreichung von mir)

"Das Denken als Subjekt vorgestellt" - diese Formulierung deutet an, dass man sich das Denken nicht zwingend als Subjekt vorstellen muss. Tut man es, betrachtet man das Subjekt als das Wesen, das die Tätigkeit des Denkens ausübt. Das Denken wird ihm dann als seine Handlung zugeschrieben. Das Subjekt ist der Initiator und Vollzieher des Denkakts. Das Denken ist ihm gewissermaßen angeheftet, so dass es als sein "Träger" erscheint. Entfällt dieser Träger, so erlischt auch die Denktätigkeit, und es vergeht das Gedachte. So vorgestellt, sind das Denken und das Gedachte auf Gedeih und Verderb an das endliche Individuum und sein Tun gebunden. - Aber Hegel will eben darauf hinaus, dass das Denken nicht völlig an die vergänglichen Individuen und ihre zufälligen Denktätigkeiten gebunden ist. Ihm liegt daran, die "Un-Endlichkeit" des Denkens hervorzukehren und plausibel zu machen.

Wie lässt sich das verstehen? Wie soll man sich vorstellen, dass das denkende Individuum kraft seines Denkens das Endliche transzendiert und an "Unendlichkeit" partizipiert?
Welches Subjekt meint Hegel, wenn er das Denkende als Subjekt vorstellt? Das Individuum als Einzelnes kann nicht gemeint sein, denn sonst wären 'historische Denkakte' nicht möglich. Der Satz des Pythagoras wäre, wie Hegel schreibt, ein je immer neu gedachter Satz des Pythagoras. Wenn ich diesen Satz lerne, so denke ich diesen Satz aber nicht neu, ich vollziehe ihn nach. Ich habe zunächst eine Vorstellung des Satzes, ich denke ihn nicht neu, sondern nehme ihn erstmal zur Kenntnis und in meinen persönlichen Wissensbestand auf. Wenn ich ihn verstehe, dann habe ich ihn mitgedacht und ihn in mein Denken überführt. Er bleibt aber historisch immer derselbe Satz, der durch nichts erweitert wird als durch sein Gedachtsein durch mich. Durch diesen Vorgang habe ich als Individuum Teil an einem historischen Bestand, der unabhängig von meinem individuellen Zugang zu ihm weiter existiert und leiste einen Beitrag an sein Gedachtsein. Ich nehme einen Faden auf, der schon lange vor mir gesponnen wurde und auch ohne mich gesponnen werden wird durch ein Ich, das mehr ist als mein individuelles Ich.

Die Vorstellung vollzieht sich allein in einem individuellen Ich und die Überführung dieser Vorstellungen ins Denken und von da in den Begriff vollzieht sich auch nur im Individuum. Gedacht werden kann es aber nur durch ein Ich, das sich historisiert, also durch ein Subjekt, das seine individuellen Grenzen überdauert.

Die 'Weltseele' zeigt sich so als ein Diskurs, welchen dieses Subjekt mit sich selbst führt. Als einen ewigen Dialog des denkenden Subjekts, das seine zeitliche Begrenzheit abstreift und in einem philosophischen Sinne erst wirklich lebt, wenn es sich an sich selbst beteiligt.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
novon
Beiträge: 358
Registriert: Mo 7. Aug 2017, 01:01

Sa 9. Sep 2017, 03:05

Friederike hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2017, 10:34
"Ich" ist einerseits jeder und zugleich gibt es niemanden außer mir, die "Ich" ist.
Correct. Kollektivistische Ideologien basteln sich das gerne so zurecht. *g




Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Sa 9. Sep 2017, 11:48

Alethos hat geschrieben :
Fr 8. Sep 2017, 23:58
Welches Subjekt meint Hegel, wenn er das Denkende als Subjekt vorstellt? Das Individuum als Einzelnes kann nicht gemeint sein, denn sonst wären 'historische Denkakte' nicht möglich.
Allerdings wäre die Vorstellung, dass das denkende X ein anderes Wesen sein könnte als das Individuum aus Fleisch und Blut, sicher nicht im Sinne Hegels. Es können nur lebendige Individuen denken. Bei "geistigen" Individuen macht freilich das Denken einen erheblichen "Teil" ihrer Lebendigkeit aus. Hegel würde statt "Teil" eher von einem "Moment" sprechen, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine separate Entität handelt (wie z.B. bei der auswechselbaren Komponente eines Motors), sondern um etwas, das sich zwar sinnvoll begrifflich unterscheiden lässt, aber nicht unabhängig vom Rest des Ganzen existiert.

Hegel charakterisiert das Denkende - "das Ich" - außerdem als ein Abstraktum und die reflexive Beziehung auf sich selbst, die sich im "Ich denke" ausspricht, als abstrakte Beziehung. Das bedeutet: In der Selbstbezüglichkeit solcher Sätze wie "Ich denke x" oder "Ich bin ich" oder "Ich denke, also bin ich" abstrahiert das denkende Wesen von seiner konkreten Individualität und hebt nur diesen einen Aspekt seiner gesamten Existenz heraus. Aber da es genau dies kann: abstrahieren und sich denkend auf sich selbst beziehen, ist diese Tätigkeit kein bloßes Phantasma; sie ist ein Moment seiner Wirklichkeit, seiner konkreten individuellen Existenz.

Auch "historische Denkakte" werden selbstverständlich von konkreten Individuen vollzogen. Nur die Produkte, die mitteilbaren und überlieferten Gehalte der Denkakte übersteigen den Lebenskreis des Individuums. Sie haben dann ein von ihm abgelöstes "Nachleben". Und das nicht nur in einem rein gedanklichen Sinne, da ja die Individuen, die sich solche "historischen" Gedanken aneignen, damit auch in ihrem eigenen Leben etwas anfangen, das reale Folgen hat. Durch die Individuen, die sich "historische" Gedanken zu eigen machen, verändern diese Gedanken die wirkliche Welt.

Der Satz des Pythagoras wäre, wie [Frege] schreibt, ein je immer neu gedachter Satz des Pythagoras. Wenn ich diesen Satz lerne, so denke ich diesen Satz aber nicht neu, ich vollziehe ihn nach. Ich habe zunächst eine Vorstellung des Satzes, ich denke ihn nicht neu, sondern nehme ihn erstmal zur Kenntnis und in meinen persönlichen Wissensbestand auf. Wenn ich ihn verstehe, dann habe ich ihn mitgedacht und ihn in mein Denken überführt. Er bleibt aber historisch immer derselbe Satz, der durch nichts erweitert wird als durch sein Gedachtsein durch mich. Durch diesen Vorgang habe ich als Individuum Teil an einem historischen Bestand, der unabhängig von meinem individuellen Zugang zu ihm weiter existiert und leiste einen Beitrag an sein Gedachtsein. Ich nehme einen Faden auf, der schon lange vor mir gesponnen wurde und auch ohne mich gesponnen werden wird durch ein Ich, das mehr ist als mein individuelles Ich.
Ja. Allerdings kann, wie gesagt, dieser Gedanke auch Dein Leben verändern. Nämlich wenn Du ihn nicht nur in einen rein theoretischen "Wissensbestand" aufnimmst, ihn also nicht bloß irgendwie "abspeicherst", sondern mit ihm "arbeitest", ihn praktisch anwendest, Dich mit seiner Hilfe orientierst usw. Man kann sich auf diese Weise Gedanken, die einen aus irgendwelchen Gründen schwer beeindruckt haben, buchstäblich "einverleiben". Ich möchte z.B. gar nicht so genau wissen, wie viele pubertierende Teenager sich Textzeilen aus Liebesliedern "einverleiben" und damit ihre Gefühlswelt und ihre ersten erotischen Gehversuche modellieren... :P ("Smells like teen spirit...")
Die Vorstellung vollzieht sich allein in einem individuellen Ich und die Überführung dieser Vorstellungen ins Denken und von da in den Begriff vollzieht sich auch nur im Individuum. Gedacht werden kann es aber nur durch ein Ich, das sich historisiert, also durch ein Subjekt, das seine individuellen Grenzen überdauert.
Ja. Und der lebendige Gesamtzusammenhang, der durch alle diese praktisch-theoretischen Transfers zwischen den denkfähigen Individuen entsteht, ist das, was Hegel "Geist" nennt. Der "Geist" des Individuums - also Geist im Sinne von "mind" oder "Bewusstsein" - ist trotz seiner historischen Situierung und Individuierung letztlich nicht völlig losgelöst von diesem Gesamtzusammenhang zu verstehen.
Die 'Weltseele' zeigt sich so als ein Diskurs, welchen dieses Subjekt mit sich selbst führt. Als einen ewigen Dialog des denkenden Subjekts, das seine zeitliche Begrenzheit abstreift und in einem philosophischen Sinne erst wirklich lebt, wenn es sich an sich selbst beteiligt.
Ich würde - zusammen mit Hegel - nicht sagen, dass dieser Diskurs einer ist, den "dieses Subjekt mit sich selbst führt". Da sehe ich doch immer auch den gesamten historischen Diskurs mit, an dem viele Individuen auf ihre eigene Weise beteiligt waren und sind. Dieser Diskurs ist am selbstbezüglichen Diskurs des einzelnen Subjekt immer mehr oder weniger ausdrücklich beteiligt - allein schon durch die Begriffe, in denen das Subjekt denkt und die es sich über die sprachliche Tradition angeeignet hat.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Sa 9. Sep 2017, 19:22

Hermeneuticus hat geschrieben : [...] Und der lebendige Gesamtzusammenhang, der durch alle diese praktisch-theoretischen Transfers zwischen den denkfähigen Individuen entsteht, ist das, was Hegel "Geist" nennt. Der "Geist" des Individuums - also Geist im Sinne von "mind" oder "Bewusstsein" - ist trotz seiner historischen Situierung und Individuierung letztlich nicht völlig losgelöst von diesem Gesamtzusammenhang zu verstehen.
Ich habe vorhin das Kant'sche Traktat "Was heißt: sich am Denken orientieren? gelesen und möchte eine Stelle daraus zitieren:
Kant/§ 280 hat geschrieben : Der Freiheit zu denken ist erstlich der bürgerliche Zwang entgegengesetzt. Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen, oder zu schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann.
Der Punkt, auf den es mir hier ankommt, weil ich darin eine Übereinstimmung mit Hegel sehe, ist der, daß das Denken öffentlich ist oder besser noch, daß das Denken überhaupt nur in Gestalt des Öffentlichen denkbar :lol: ist. "Wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken" ... das erinnert an die "Privatsprache" Wittgensteins. Ein privates Denken ist un-möglich. Wenn ich Dein Zitat, Hermeneuticus, mit dem von mir Zitierten vergleiche, dann denke ich, mit dem Begriff der "Öffentlichkeit" ist exakt das erfaßt, was Hegel "Geist" nennt. Abgesehen davon, daß der Geistbegriff bei Hegel noch anderes und mehr meint.




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Sa 9. Sep 2017, 21:40

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 9. Sep 2017, 11:48
Allerdings wäre die Vorstellung, dass das denkende X ein anderes Wesen sein könnte als das Individuum aus Fleisch und Blut, sicher nicht im Sinne Hegels. Es können nur lebendige Individuen denken. Bei "geistigen" Individuen macht freilich das Denken einen erheblichen "Teil" ihrer Lebendigkeit aus. Hegel würde statt "Teil" eher von einem "Moment" sprechen, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine separate Entität handelt (wie z.B. bei der auswechselbaren Komponente eines Motors), sondern um etwas, das sich zwar sinnvoll begrifflich unterscheiden lässt, aber nicht unabhängig vom Rest des Ganzen existiert.

Hegel charakterisiert das Denkende - "das Ich" - außerdem als ein Abstraktum und die reflexive Beziehung auf sich selbst, die sich im "Ich denke" ausspricht, als abstrakte Beziehung. Das bedeutet: In der Selbstbezüglichkeit solcher Sätze wie "Ich denke x" oder "Ich bin ich" oder "Ich denke, also bin ich" abstrahiert das denkende Wesen von seiner konkreten Individualität und hebt nur diesen einen Aspekt seiner gesamten Existenz heraus. Aber da es genau dies kann: abstrahieren und sich denkend auf sich selbst beziehen, ist diese Tätigkeit kein bloßes Phantasma; sie ist ein Moment seiner Wirklichkeit, seiner konkreten individuellen Existenz.
Es ging mir übrigens nicht darum zu unterstellen, dass das Denken ein Vorgang des "historischen Subjekts" alleine wäre, sondern vielmehr darum einen Unterschied zu machen zwischen dem individuellen Denkvorgang und der Beschäftigung mit dem Denken als historische Gesamtleistung eines historischen Subjekts. Das "Ich denke" von Descartes ist ein anderes Subjekt als jenes, das hier diese Zeilen schreibt.

Also ja, mir scheint die Bedingung für jeglichen Denkakt auch ein lebendiges Individuum zu sein, eines aus Fleisch und Blut. Dieser denkende Agens in seiner seienden Einzelheit als Individuum kann sein denkendes Tätigsein zum Gegenstand seines Denkens machen. Er kann sich selbst reflektieren und dadurch sein persönliches Ich begründen. Diese Rückwendung des Geistes auf sich selbst (ἐπιστροφή) als eine Zugewandtheit zu sich selbst konstituiert ein Selbstbewusstsein, mithin ein Ich. Das liegt wohl auf der Linie Hegels?

Dieses selbstbewusste Denken ist ein Vorgang im Individuum und durch das Individuum. Ohne dieses wäre Denken überhaupt gar nicht denkbar, weil mit dem Wegfall der individuellen Tätigkeit des Denkens sozusagen die eine Seite der Brücke abgeschlagen würde, die das Denken des Denkens zu sich selbst schlägt. Aber in dieser Selbsttätigkeit zeigt sich das Denken auch als Privatheit.
Friederike hat geschrieben :
Sa 9. Sep 2017, 19:22
Ein privates Denken ist un-möglich.
Meine Intuition ist darum eine etwas andere :) Ich glaube, dass die reine Denktätigkeit ein im individuellen Subjekt stattfindender Vorgang ist, der sich selbst trägt und selbst antreibt. In diesem Sinne ist die reflexive Kraft privat. Davon unterschieden ist das subjektive Denken in einem philosophischen Sinne. Dieses ist öffentlich, da es sich nicht auf sich selbst direkt bezieht, sondern einen Rückgriff auf Bestehendes macht. Der "Satz des Pythagoras" ist darum nicht mein oder dein oder sein Satz des Pythagoras, sondern stets unser Satz des Pythagoras. Das "Denken als Wissenschaft seiner selbst" abstrahiert von seiner individuellen Gedachtheit und absolutiert sich. Dieses absolute Ich ist komplett von diesem persönlichen Ich abstrahiert, wie mir scheint.

Es gibt also ein Denken, das über sich selbst nachdenkt, nachgedacht hat und nachdenken wird, so dass ein ganz historisches Selbstbewusstsein entsteht, an dem man als Individuum teilhaben kann. Dieses umfassende Subjekt ist doch das, was wir Weltseele nennen? Und diese kann nie privat sein, sondern ist das "Zuhause" unserer ganzen Geschichtlichkeit, in der wir gemeinsam aufgehoben sind.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 9. Sep 2017, 11:48
Die 'Weltseele' zeigt sich so als ein Diskurs, welchen dieses Subjekt mit sich selbst führt. Als einen ewigen Dialog des denkenden Subjekts, das seine zeitliche Begrenzheit abstreift und in einem philosophischen Sinne erst wirklich lebt, wenn es sich an sich selbst beteiligt.
Ich würde - zusammen mit Hegel - nicht sagen, dass dieser Diskurs einer ist, den "dieses Subjekt mit sich selbst führt". Da sehe ich doch immer auch den gesamten historischen Diskurs mit, an dem viele Individuen auf ihre eigene Weise beteiligt waren und sind. Dieser Diskurs ist am selbstbezüglichen Diskurs des einzelnen Subjekt immer mehr oder weniger ausdrücklich beteiligt - allein schon durch die Begriffe, in denen das Subjekt denkt und die es sich über die sprachliche Tradition angeeignet hat.
Ja, da hast du ganz bestimmt recht. Der denkende Akt ist durchlässig und bezieht sich gerade nicht auf sich selbst allein, sondern es ist ein polyphones Gespräch von Subjekten, das eine Tradition begründet.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Mo 11. Sep 2017, 14:25

Alethos hat geschrieben :
Sa 9. Sep 2017, 21:40
Das "Ich denke" von Descartes ist ein anderes Subjekt als jenes, das hier diese Zeilen schreibt.
Unbestritten. Und doch bleibt (mit Hegel) zu konstatieren, dass der Satz "Ich denke" einen allgemeinen Sachverhalt ausdrückt, an dem die Unterschiede zwischen den Individuen, die ihn denken oder aussprechen, keinerlei Spuren hinterlassen haben. Mit "ich" kann jeder Beliebige gemeint sein, der "ich" sagen kann. Damit sind natürlich die faktischen Unterschiede zwischen den Individuen, die da "ich" sagen, nicht bestritten. Es ist auch unbestreitbar, dass es stets nur sprach- und denkfähige Individuen sein können, die eine sprachliche Handlung vollziehen können:
Dieses selbstbewusste Denken ist ein Vorgang im Individuum und durch das Individuum. Ohne dieses wäre Denken überhaupt gar nicht denkbar, weil mit dem Wegfall der individuellen Tätigkeit des Denkens sozusagen die eine Seite der Brücke abgeschlagen würde, die das Denken des Denkens zu sich selbst schlägt. Aber in dieser Selbsttätigkeit zeigt sich das Denken auch als Privatheit.
Völlig einverstanden. Es geht Hegel auch gar nicht darum, die Individualität der einzelnen Denkvollzüge und der denkenden Subjekte zu leugnen. Er will vielmehr das Spannungsfeld zwischen Individualität und Allgemeinheit aufzeigen, in dem sich das Denken bewegt.

Bei Kant wird diese innere Spannung nicht thematisiert. Kant legt den Fokus ganz auf die "transzendentale" Einheit DES Subjekts überhaupt, die er als das Prinzip aller menschlichen Erkenntnis bezeichnet. Wie dieses allgemeine Prinzip sich zu den individuellen Subjekten verhält, interessiert ihn dabei nicht. Ihm liegt nur am Nachweis, dass die Einheit des Subjekts, die sich im "ich denke" ausspricht, keine empirische Einheit ist. Damit handelt er sich besonders in der praktischen Philosophie erhebliche Probleme ein, wo es gilt, die Freiheit des Subjekts konkret, nämlich in der empirischen Realität auszubuchstabieren. So kann Kant Freiheit nur als ein metaphysisches Postulat konzipieren, das sich mit der leiblichen Existenz der vernunftbegabten Individuen nicht recht vermitteln und versöhnen lässt.

Die fast beiläufige Umakzentuierung, die Hegel in seiner Paraphrase von Kants "Ich" vornimmt, ist also überaus folgenreich. Denn Hegel geht es um einen Subjektbegriff, mit dem sich das Allgemeine und das Individuelle miteinander vermitteln lassen, mit dem sich das Subjekt als "konkretes" Ganzes begreifen lässt. Dabei ignoriert er keineswegs die innere Spannung zwischen diesen "Momenten". Ja, er betont ihr logisches und praktisches Konfliktpotential sogar. Aber er will mit jeder Wendung seines philosophischen Denkens geltend machen, dass die wirkliche, lebendige Vernunft selbst in sich widersprüchlich sei, dass somit Einheit oder Ganzheit stets als Einheit von Widersprüchen, als Identität im Differenten zu denken sei. - Aus diesem Grund charakterisiert er das Allgemeine des Denkens als "abstrakt", obwohl er zugleich die Macht des Allgemeinen hervorkehrt ("...in der Logik wird es sich zeigen, daß der Gedanke und das Allgemeine eben dies ist, daß er er selbst und sein Anderes ist, über dieses übergreift und daß nichts ihm entflieht").

Ich glaube, dass die reine Denktätigkeit ein im individuellen Subjekt stattfindender Vorgang ist, der sich selbst trägt und selbst antreibt. In diesem Sinne ist die reflexive Kraft privat.
Der eine fragliche Begriff in dieser Aussage ist "individuelles Subjekt". Du sagst, dass die Denktätigkeit "im" individuellen Subjekt stattfinde. Aber was meinst Du genau? Ist das individuelle Subjekt eine räumliche Einheit? Ist es der Körper, von dem sich sinnvoll sagen lässt, dass etwas "in" ihm vorgeht? Ist "Geist" also auch etwas, das innerhalb der räumlichen Grenzen des Organismus vonstatten geht und das also selbst räumlich verfasst ist? Ist Denken ein organischer Vorgang?
Der andere fragliche Ausdruck ist "reine Denktätigkeit". Was meinst Du mit "rein"? Gibt es auch ein nicht-reines Denken? Und gibt es eine "Tätigkeit", die nicht auf irgendeine Weise mit leiblichen Vorgängen vermittelt ist?

Ich frage nur, um die Schwierigkeiten anzudeuten, die es aufwirft, das Subjekt als zugleich geistiges und leiblich-individuelles Wesen begrifflich zu fassen.
Davon unterschieden ist das subjektive Denken in einem philosophischen Sinne. Dieses ist öffentlich, da es sich nicht auf sich selbst direkt bezieht, sondern einen Rückgriff auf Bestehendes macht. Der "Satz des Pythagoras" ist darum nicht mein oder dein oder sein Satz des Pythagoras, sondern stets unser Satz des Pythagoras. Das "Denken als Wissenschaft seiner selbst" abstrahiert von seiner individuellen Gedachtheit und absolutiert sich. Dieses absolute Ich ist komplett von diesem persönlichen Ich abstrahiert, wie mir scheint.
Aber da ja auch Wissenschaft immer von handelnden und denkenden Individuen getrieben wird - nicht von einem leiblosen Super-Subjekt -, muss man zwingend diesen Individuen das Vermögen zu einer solchen Abstraktion zugute halten. Das individuelle, denkende Subjekt ist also zu begreifen als ein Wesen, das kraft seiner individuellen Denkakte dazu fähig ist, von seiner Individualität völlig abzusehen...
Es gibt also ein Denken, das über sich selbst nachdenkt, nachgedacht hat und nachdenken wird, so dass ein ganz historisches Selbstbewusstsein entsteht, an dem man als Individuum teilhaben kann. Dieses umfassende Subjekt ist doch das, was wir Weltseele nennen?
Tun wir das? :shock: Ich hätte damit erhebliche Probleme. Zwar gehört es zu unseren alltäglichen Redeweisen, von Abstrakta wie "Staat", "Volk", "Wissenschaft", "Stadt" usw. so zu sprechen, als seien es Subjekte, die Handlungen vollziehen können wie Du und ich. "Die Wissenschaft hat festgestellt, dass..."; "Das deutsche Volk hat Merkel zur Kanzlerin gewählt" usw. Aber dabei ist uns doch eigentlich bewusst, dass das eine übertragene Redeweise ist, die wir nur behelfsmäßig verwenden, weil wir die komplexen Vermittlungen hinter solchen "Akten" nicht immer ausbuchstabieren können. In einer Theorie der Gesellschaft könnten wir diese Redeweise nicht einfach übernehmen und Abstrakta als handelnde Personen auftreten lassen.




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Di 12. Sep 2017, 23:57

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 14:25
Alethos hat geschrieben :
Sa 9. Sep 2017, 21:40
Das "Ich denke" von Descartes ist ein anderes Subjekt als jenes, das hier diese Zeilen schreibt.
Unbestritten. Und doch bleibt (mit Hegel) zu konstatieren, dass der Satz "Ich denke" einen allgemeinen Sachverhalt ausdrückt, an dem die Unterschiede zwischen den Individuen, die ihn denken oder aussprechen, keinerlei Spuren hinterlassen haben. Mit "ich" kann jeder Beliebige gemeint sein, der "ich" sagen kann. Damit sind natürlich die faktischen Unterschiede zwischen den Individuen, die da "ich" sagen, nicht bestritten. Es ist auch unbestreitbar, dass es stets nur sprach- und denkfähige Individuen sein können, die eine sprachliche Handlung vollziehen können
Man kann es so deuten, dass ein descart'eches 'Ich denke' auf alle denkenden Individuen Anwendung findet, denn es ist ja nicht von einem spezifischen Ich die Rede, sondern von einem allgemeinen Sachverhalt, der auf das Denkende als dieses Ich Bezug findet. Soweit einverstanden. Und doch ist dieser Satz von Descartes ein ganz konkretes, für sich stehendes Diktum. In dieser spezifischen Form ist es eben nicht ein 'Ich denke' im Allgemeinen, sondern Teil eines geschichtlichen Denkprozesses, an dem viele mitgewirkt haben. Es steht in einer geschichtlichen Tradition und stellt eines von vielen 'Kondensaten' eines überindividuellen Denkprozesses dar, den wir Denkgeschichte nennen. Diese setzt sich nicht aus den Denkprozessen aller Individuen als deren Summe zusammen, sondern zeigt sich als Diskurs der Vielen in der Einheit der Zeit. Denn, wenn man so will, handelt es sich bei diesem Denkprozess um einen überindividuellen, überzeitlichen Vorgang, darin das Endliche der Zeit aufgehoben wird in einem stetigen, unaufhörlichen Prozess. Und ich meine, wenn es einen Zugang des individuums zu so etwas wie dem Ewigen gibt, so doch in seiner Teilhabe an diesem geschichtlichen Denkvorgang?

Mir geht es darum das Denken, welches wir als Individuen vollziehen und jenes, welches wir als Wir vollziehen, zu unterscheiden. Denn, das Subjekt, das denkt, kann doch auch ein Wir sein? Vielleicht meinen wir dasselbe, wenn du schreibst:
Er will vielmehr das Spannungsfeld zwischen Individualität und Allgemeinheit aufzeigen, in dem sich das Denken bewegt.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 14:25
Alethos hat geschrieben :
Sa 9. Sep 2017, 21:40
Ich glaube, dass die reine Denktätigkeit ein im individuellen Subjekt stattfindender Vorgang ist, der sich selbst trägt und selbst antreibt. In diesem Sinne ist die reflexive Kraft privat.
Der eine fragliche Begriff in dieser Aussage ist "individuelles Subjekt". Du sagst, dass die Denktätigkeit "im" individuellen Subjekt stattfinde. Aber was meinst Du genau? Ist das individuelle Subjekt eine räumliche Einheit? Ist es der Körper, von dem sich sinnvoll sagen lässt, dass etwas "in" ihm vorgeht? Ist "Geist" also auch etwas, das innerhalb der räumlichen Grenzen des Organismus vonstatten geht und das also selbst räumlich verfasst ist? Ist Denken ein organischer Vorgang?
Der andere fragliche Ausdruck ist "reine Denktätigkeit". Was meinst Du mit "rein"? Gibt es auch ein nicht-reines Denken? Und gibt es eine "Tätigkeit", die nicht auf irgendeine Weise mit leiblichen Vorgängen vermittelt ist?
Mit diesen Fragen stösst du natürlich zielgenau ins Feld der Geist-Seele-Problematik vor.

Zu meiner vielleicht etwas eigentümlichen Begriffsverwendung: Unter dem individuellen Subjekt verstehe ich das sterbliche Individuum, dessen Zeit begrenzt ist und dessen Möglichkeiten sich auf seine Lebensspanne beschränken. Das individuelle Denken findet in uns statt, wir sind kraft unserer sinnlich-apperzeptiven, logisch-begrifflichen Fähigkeiten zum Denken befähigte Wesen. 'Reines Denken' bezieht sich hier nicht auf den kantischen Begriff der reinen Verstandestätigkeit, als vielmehr auf die Fähigkeit aus eigener Kraft Rechenschaft über das eigene Dasein und das Sein überhaupt ablegen zu können. Mir scheint, dass wir diese angeborene Denkkraft in uns als Anlage vorfinden, d.h. es findet im Bewusstsein statt, nicht nur im Hirn, sondern in der Totalität unseres Daseins als Mensch und damit in allen unseren Regungen. Das meine ich mit 'in uns' finde das Denken statt. Das Denken als eine schöpferische Kraft ist ein körperlich-seelischer Vorgang im Individuum in seiner autopoietischen Selbstverfasstheit. Hier erschöpft es sich aber nicht, sondern greift immer schon aus auf das Denken anderer, das Denken ist immer ein Lernen von anderen und ein Mitdenken mit anderen. In dieser intersubjektiven Konstitution unseres Denkens zeigt sich die Durchlässigkeit des individuellen Denkvorgangs für das Allgemeine, das es umgibt und überdauert, mehr noch, das es immer schon mitformt. Denken ist deshalb nicht einfach eine Privatangelegenheit, sondern immer schon geprägt durch das Allgemeine, das ihm Begriffe gibt. Darum halte ich es nicht für ergiebig zu sagen, das Denken finde in einem Organismus statt, sondern es wird vielmehr von Individuen betrieben, die sich gegenseitig rückversichern können. Das Denken in dieser Betrachtungsweise zeigt sich als Gemeinschaftsleistung, die weder Ort noch Zeit hat, sondern nur Selbstzugewandtheit. Das bedeutet mitnichten, dass das Denken nur sich selbst zum Objekt hat, sondern konkrete ontologische Phänomene vergegenwärtigen kann.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 14:25
Alethos hat geschrieben :
Sa 9. Sep 2017, 21:40
Es gibt also ein Denken, das über sich selbst nachdenkt, nachgedacht hat und nachdenken wird, so dass ein ganz historisches Selbstbewusstsein entsteht, an dem man als Individuum teilhaben kann. Dieses umfassende Subjekt ist doch das, was wir Weltseele nennen?
Tun wir das? :shock: Ich hätte damit erhebliche Probleme. Zwar gehört es zu unseren alltäglichen Redeweisen, von Abstrakta wie "Staat", "Volk", "Wissenschaft", "Stadt" usw. so zu sprechen, als seien es Subjekte, die Handlungen vollziehen können wie Du und ich. "Die Wissenschaft hat festgestellt, dass..."; "Das deutsche Volk hat Merkel zur Kanzlerin gewählt" usw. Aber dabei ist uns doch eigentlich bewusst, dass das eine übertragene Redeweise ist, die wir nur behelfsmäßig verwenden, weil wir die komplexen Vermittlungen hinter solchen "Akten" nicht immer ausbuchstabieren können. In einer Theorie der Gesellschaft könnten wir diese Redeweise nicht einfach übernehmen und Abstrakta als handelnde Personen auftreten lassen.
Nun, als Abstraktum verstehe ich Weltseele ja gerade nicht, sondern als ein Mitwirken von Individuen an etwas sie Überdauerndes. Vielleicht ist es auch eine zu romantische Vorstellung, die bei mir durch die Beschäftigung mit den Sokratikern und den hellenischen Philosophen beeinflusst ist. Vielleicht gibt es keinen Weltgeist, das mag sein.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Philosophist
Beiträge: 136
Registriert: Sa 12. Aug 2017, 20:01

Mi 13. Sep 2017, 10:32

Ich würde gern hier noch eine weitere Spielart dieses Themas hinzufügen:

Was heißt es "dichterisch zu denken" bzw. was ist "dichterisches Denken" (Heidegger)?

Weder Kant noch Hegel sprechen meines Erachtens von dieser Form des Denkens, und das hat Heidegger glaube ich neu in den philosophischen Diskurs eingeführt, also die Betonung des Zusammenhangs von Dichten und Denken. Hegel hat sich zwar in seiner Ästhetik mit der Dichtung (in seiner Sprache : der "Poesie") auch befasst, aber im Gegensatz zu Heidegger , spricht er glaube nicht von einem "dichterischen Denken". Oder irre ich mich da? :roll:

Es gibt sogar Gedichte über das Denken bei Heidegger..(was im anderen Thread diskutiert wird), was glaube ich kaum bei anderen Denkern zu finden ist (oder?)



φιλοσοφος και σοφιστες

"(...) sondern weil die Philosophie wesentlich eine menschliche, d.h. endliche Möglichkeit ist, deshalb steckt in jedem Philosophen ein Sophist." (Heidegger ,Gesamtausgabe, Band 27, S.24)

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23566
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Sa 23. Sep 2017, 06:19

„Ich verstehe unter Gedanken nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein. (Frege)
Weiter oben gab es vielleicht schon ähnliches, ich wollte aber nicht versäumen, dieses prägnante Zitat hier zu posten.




Antworten