Einen Tisch wahrnehmen

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Jörn Budesheim
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Sa 15. Okt 2022, 10:31

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:23
Bei der Wahrnehmung eines Tisches setzen wir doch viele Sachen als selbstverständlich voraus, die in die Wahrnehmung hineinfließen. Es ist klar, dass der Tisch auf dem Boden steht und nicht in der Luft schwebt, zum Beispiel.
Das ist richtig und meines Erachtens ein bedeutsamer Punkt. Jede Wahrnehmung geschieht vor einem als selbstverständlich gesetzten Hintergrund.




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AufDerSonne
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Sa 15. Okt 2022, 10:32

Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:26
Und wenn ich in den Urwald gehe mit einem Indigenen, dann würde der mich im Grunde als dreiviertel blind verlachen.
Ja, das denke ich auch. Der Indigene nimmt wegen seinem vielen Wissen über den Urwald, diesen einfach anders wahr als wir.



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Sa 15. Okt 2022, 10:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:30
Angenommen der Tisch im Wohnzimmer würde einen Meter über dem Boden schweben. Meine Frau und ich betreten das Zimmer und ich würde mich dann heran machen, die Ursache zu erforschen. Ich glaube meine Frau würde dann (ganz zurecht) an meinem Geisteszustand zweifeln. Das hätte schon etwas kafkaeskes, wie Gregor Samsa, der sich in ein Ungeziefer verwandelt im Bett vorfindet und sich dann Gedanken darüber macht, ob er noch pünktlich zur Arbeit erscheinen kann.
:lol:
Ist das Kafka? Ist drum lustig!



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Jörn Budesheim
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Sa 15. Okt 2022, 10:39

Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:26
So etwas zu sehen setzt Wissen und Erfahrung voraus
Yepp. Das sehe ich ähnlich. Wissen und Erfahrung sind vorausgesetzt. (Aber natürlich noch vieles anderes, so z.b vermeintliches Wissen fehlgeleitete Erfahrungen, Ideologien, religiöse Systeme, Philosophie, Weltanschauungen, um nur einiges zu nennen ...)

Aber: sie müssen natürlich in die aktuelle Wahrnehmung eingehen können. Dafür ist das Vorstellungsvermögen, bzw die Fantasie, die entweder explizit oder hintergründig immer am Wirken ist, "verantwortlich". Das bedeutet im übrigen, dass jeder Versuch, eine Wahrnehmung aus den je aktuellen, schieren "Wahrnehmungsdaten" zu verstehen, verfehlt ist. Was wir in jedem Moment wahrnehmen, geht immer weit über das hinaus, was der "Input" bereitstellt. Hätten wir nur den Input, dann wären wir nahezu blind.




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Sa 15. Okt 2022, 10:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:39
Dafür ist das Vorstellungsvermögen, bzw die Fantasie, die entweder explizit oder hintergründig immer am Wirken ist, "verantwortlich".
Und die "Vorstellung", also was sie bei der Wahrnehmung für eine Rolle spielt, ist dann nach Russell ein Thema für sich.
Berkeley etwa, hatte da ganz andere Ideen (Idealismus) als andere Philosophen, zum Beispiel Hume oder so. Für Berkeley war sowieso alles "geistig". Auch ein materieller Gegenstand war für ihn letzten Endes geistig. Aber da weiß ich noch zu wenig darüber.
Zuletzt geändert von AufDerSonne am Sa 15. Okt 2022, 10:53, insgesamt 1-mal geändert.



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AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:34
Ist drum lustig!
Das ist irgendwie lustig, aber im Wesentlichen natürlich grotesk.

Es wirft zudem ein Licht auf das Bild, das man von sich selbst hat. Denn was hat man für ein Bild vom Menschen und damit von sich selbst, wenn man sich ihn sich als Erkenntnissubjekt ausmalt, das sich selbst in den krassesten Situation, in denen die Tische in der eigenen Wohnung zu schweben anfangen, als erstes ungerührt auf die Suche nach den Ursachen macht, so als sei er eine Erkenntnismaschine, die nichts wirklich betrifft. Wir haben da also diese Maschine, da fällt Licht hinein und die entsprechenden Daten werden dann sortiert - und das war es.




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Sa 15. Okt 2022, 10:56

Ja schon. Aber ein Ungeziefer im Bett, das sich Gedanken darüber macht, ob es noch pünktlich bei der Arbeit erscheinen kann, das ist lustig. :D



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Sa 15. Okt 2022, 10:59

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:52
Wir haben da diese Maschine, da fällt Licht hinein und die entsprechenden Daten werden dann sortiert - und das war es.
Das ist ein heikles Thema. Ist der Mensch eine komplizierte Maschine? (Descartes behauptete das, glaube ich).

Ich war früher immer der Meinung, der Mensch sei eine Maschine (Determinismus). Jetzt denke ich eher: Der Mensch ist keine Maschine!



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ahasver
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Sa 15. Okt 2022, 11:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:39
Dafür ist das Vorstellungsvermögen, bzw die Fantasie, die entweder explizit oder hintergründig immer am Wirken ist, "verantwortlich". Das bedeutet im übrigen, dass jeder Versuch, eine Wahrnehmung aus den je aktuellen, schieren "Wahrnehmungsdaten" zu verstehen, verfehlt ist. Was wir in jedem Moment wahrnehmen, geht immer weit über das hinaus, was der "Input" bereitstellt. Hätten wir nur den Input, dann wären wir nahezu blind.
Hierzu ist es auch spannend zu lesen was Kant dazu geschrieben hat. Siehe:

produktive Einbildungskraft

Bei Kants >produktiver Einbildungskraft< handelt es sich um ein Vermögen der Spontaneität, das das Mannigfaltige der Anschauung zur einheitlichen Wahrnehmung formt. Bin selbst kein Kantfan, werde aber nachlesen und berichten.

Nur am Rande: für mich ist Fantasie oder spontane, produktive Einbildungskraft ein magisches "Vermögen". Es ist maßgeblich an der Bildung von Welt als Phänomen beteiligt.



"Ich kann mich auch irren und nichts ist so sicher, als dass alles auch ganz anders ist."

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Sa 15. Okt 2022, 11:18

ahasver hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:13
Bei Kants >produktiver Einbildungskraft< handelt es sich um ein Vermögen der Spontaneität, das das Mannigfaltige der Anschauung zur einheitlichen Wahrnehmung formt. Bin selbst kein Kantfan, werde aber nachlesen und berichten.
Aber da habe ich jetzt ein Problem bei der Reihenfolge. Zuerst nehmen wir doch den Tisch wahr und dann machen wir die Anschauung und nicht umgekehrt?



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Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 10:26
So etwas zu sehen setzt Wissen und Erfahrung voraus
Hierzu noch eine weitere Anmerkung: das Wissen und die Erfahrung (etc.), die vorausgesetzt sind, sind natürlich nicht per se das Wissen und die Erfahrung des jeweiligen Menschen, der gerade in seiner Bruchbude den Tisch (kaum) wahrnimmt. In Rechnung stellen muss man da sowohl zumindest die Evolution und natürlich auch die Geistesgeschichte.

Bild

Denkt man an die Evolution, dann kann man sich ausmalen, wie die Szenen, die wir wahrnehmen, uns selbst und unserer Wahrnehmung die Form gegeben haben. Denkt man hingegen dabei zum Beispiel an die sexuelle Auslese, dann wird hingegen deutlich, dass die Wahrnehmung auch ihre Gegenstände geformt hat. Also ein ziemlich komplexes Gewebe, aber damit habe ich natürlich das Thema schon wieder verlassen ...




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Sa 15. Okt 2022, 11:35

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:18
ahasver hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:13
Bei Kants >produktiver Einbildungskraft< handelt es sich um ein Vermögen der Spontaneität, das das Mannigfaltige der Anschauung zur einheitlichen Wahrnehmung formt. Bin selbst kein Kantfan, werde aber nachlesen und berichten.
Aber da habe ich jetzt ein Problem bei der Reihenfolge. Zuerst nehmen wir doch den Tisch wahr und dann machen wir die Anschauung und nicht umgekehrt?
Damit hast du ja auch grundsätzlich recht. Allerdings kann dein Wissen deine Wahrnehmung bzw. dessen Resultat beeinflussen: Bevor etwas wie ein Tisch frei über dem Boden schwebt, wirst du genauer hinschauen und vielleicht den gläsernen Unterbau doch noch erkennen oder die sehr dünnen Stahlseile von der Decke herab, die den Tisch in der Höhe halten.
Anderes Beispiel: Wenn du auf dem Tisch einen Fleck siehst, denkst du leicht zuerst, den wegwischen zu wollen o.ä. Wenn der Fleck sich aber aufgrund von 6 oder 8 Beinen anfängt zu bewegen, revidiviert sich dein Wahrnehmungsergebnis auf einmal schnell.

Die oben genannte "Spontanität" ist dann nur der erste schnelle Eindruck, der oft genug stimmen mag, aber eben nicht immer.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
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Sa 15. Okt 2022, 11:51

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:18
Aber da habe ich jetzt ein Problem bei der Reihenfolge. Zuerst nehmen wir doch den Tisch wahr und dann machen wir die Anschauung und nicht umgekehrt?
Was verstehst du unter "Anschauung"??

Hier noch etwas ganz anderes, eine allgemeine Bemerkung. Das Problem ist, dass du in den meisten deiner Beiträge deine Wahrnehmung theoretisch betrachtest. Das heißt, du nimmst deine eigene Wahrnehmung wahr auf Basis (einseitig) bestimmter philosophischer Annahmen, etwa der von Bertrand Russell. Und immer zuerst als Erkenntnis-Vehikel. Daher ist für dich Wahrnehmung immer ein epistemisches Problem.




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Sa 15. Okt 2022, 12:23

Gegenstand dieses Fadens ist nicht (oder nicht an erster Stelle), welchen Beitrag die Wahrnehmung zur Erkenntnis liefert, sondern die Wahrnehmung selbst soll Gegenstand dieser Betrachtung hier sein.

Das kann durchaus "bloß" beschreibend sein.

Mich selbst interessiert dabei aber auch, was wir wahrnehmen. Und das Mindeste, was dabei vorausgesetzt ist, ist dass wir Tische (die es wirklich gibt) wahrnehmen können. Ich will hier also auf keinen Fall einen Skeptizismus-, Nihilismus-, Subjektivismus-Thread haben - davon haben wir schon genug.




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Sa 15. Okt 2022, 12:28

ahasver hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:13
Bei Kants >produktiver Einbildungskraft< handelt es sich um ein Vermögen der Spontaneität, das das Mannigfaltige der Anschauung zur einheitlichen Wahrnehmung formt. Bin selbst kein Kantfan, werde aber nachlesen und berichten.

Nur am Rande: für mich ist Fantasie oder spontane, produktive Einbildungskraft ein magisches "Vermögen". Es ist maßgeblich an der Bildung von Welt als Phänomen beteiligt.
Burkart hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:35
Die oben genannte "Spontanität" ist dann nur der erste schnelle Eindruck, der oft genug stimmen mag, aber eben nicht immer.




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Sa 15. Okt 2022, 12:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:51
Daher ist für dich Wahrnehmung immer ein epistemisches Problem.
Ist das gut oder schlecht?

Sollte ich mehr auf meine Gefühle achten bei der Wahrnehmung und nicht gleich immer mit dem Analysieren anfangen?



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Sa 15. Okt 2022, 12:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 12:28
ahasver hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:13
Bei Kants >produktiver Einbildungskraft< handelt es sich um ein Vermögen der Spontaneität, das das Mannigfaltige der Anschauung zur einheitlichen Wahrnehmung formt. Bin selbst kein Kantfan, werde aber nachlesen und berichten.

Nur am Rande: für mich ist Fantasie oder spontane, produktive Einbildungskraft ein magisches "Vermögen". Es ist maßgeblich an der Bildung von Welt als Phänomen beteiligt.
Burkart hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 11:35
Die oben genannte "Spontanität" ist dann nur der erste schnelle Eindruck, der oft genug stimmen mag, aber eben nicht immer.
Ich freue mich immer, wenn zwei (oder mehr) Zitate kommentarlos gegenüber gestellt werden... <Ironie Ende>
Ok, diesmal kann man sich immerhin denken, worauf du hinaus willst: Ja, für mich ist "magisches Vermögen" u.ä. nur die fehlende Idee, was hinter etwas wirklich steckt bzw. stecken kann, z.B. dass Fantasie nichts wirklich Magisches ist, sondern das Ergebnis von (auch) unbewusstem Denken.



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So 16. Okt 2022, 07:32

Heidegger hat geschrieben : wir [hören] nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad




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Welche Wissenschaft untersucht eigentlich Tische?




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So 16. Okt 2022, 09:54

Burkart hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 12:44
Ok, diesmal kann man sich immerhin denken, worauf du hinaus willst
Dir scheint der Gedanke fernzulegen, dass man sich bei kantianischen Begriffen wie "produktive Einbildungskraft / Vermögen der Spontaneität" erstmal wenigstens einigermaßen klug machen muss, um zu wissen, worum es dabei überhaupt geht.




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