Re: Einen Tisch wahrnehmen
Verfasst: So 16. Okt 2022, 12:32
Heidegger ein Katheder wahrnehmend:
fettgeschrieben von ahasver„Sie kommen wie gewöhnlich
in diesen Hörsaal um die gewohnte Stunde und gehen auf Ihren gewohnten Platz
zu. Dieses Erlebnis des Sehens Ihres Platzes halten Sie fest, oder Sie können
meine eigene Einstellung ebenfalls vollziehen: in den Hörsaal tretend, sehe ich
das Katheder […] was sehe ich? Braune Flächen, die sich rechtwinklig
schneiden? Nein, ich sehe etwas anderes: eine Kiste, und zwar eine größere, mit
einer kleineren darauf gebaut. Keineswegs, ich gehe zu dem Katheder, an dem
ich sprechen soll. Sie sehen das Katheder, von dem aus ich zu Ihnen gesprochen,
an dem ich schon gesprochen habe. Es liegt im reinen Erlebnis auch kein – wie
man sagt – Fundierungszusammenhang, als sähe ich zuerst braune, sich
schneidende Flächen, die sich mir dann als Kiste, dann als Pult, weiterhin als
akademisches Sprechpult, als Katheder gäben, sodaß ich das Kathederhafte
gleichsam der Kiste aufklebte wie ein Etikett. All das ist schlechte, mißdeutete
Interpretation, Abbiegung vom reinen Hineinschauen in das Erlebnis. Ich sehe
das Katheder gleichsam in einem Schlag, ich sehe es nicht nur isoliert, ich sehe
das Pult als für mich zu hoch gestellt. Ich sehe ein Buch darauf liegend,
unmittelbar als mich störend […] ich sehe das Katheder in einer Orientierung,
Beleuchtung, einem Hintergrund […]. In dem Erlebnis des Kathedersehens gibt
sich mir etwas aus einer unmittelbaren Umwelt. Dieses Urweltliche […] sind
nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter, Gegenstände, und
dazu noch aufgefaßt als das und das bedeutend, sondern das Bedeutsame ist das
Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein
Sacherfassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist
alles welthaft, es weltet“ (GA 56/57, 71-72).