Künstlerische Intelligenz

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
Timberlake
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Mi 21. Dez 2022, 22:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 21. Dez 2022, 19:10


Ein denkbarer Ausgangspunkt ist meines Erachtens ein alter Topos. Dazu habe ich mal ein paar Zitate aus dem Buch von Menke kopiert:

...

"Nach Sokrates ist Dichten »jedenfalls […] kein Wissen, kein Können, das über sich selbst und seine Wahrheit Rechenschaft zu geben vermöchte«

"Das Dichten, und generell das, was wir »Kunst« nennen, ist für Sokrates keine Kunst: nicht die selbstbewußte, kontrollierte Ausübung eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens. Dichten geschieht vielmehr in Besessenheit und aus Begeisterung. Daher ist auch der Dichter kein »Subjekt« im zuvor verwendeten Sinn des Ausdrucks: kein Könner; nicht jemand, der durch seine Vermögen etwas gelingen lassen oder ermöglichen kann. Im Dichten ereignet sich ein Verlust der Subjektivität."

Der Gedanke, dass Dichten kein Können ist im Sinne einer Regel geleiteten Fähigkeit, ist, wenn Menke recht hat, eine ganz alte Vorstellung. Kunst kommt nach diesem Bild wortwörtlich vom "Nichtkönnen". Da stellt sich natürlich die Frage, wie ist es dennoch möglich. Gemäß Menke hält Sokrates es für eine göttliche 'Gabe': "Nach Sokrates ist Dichten »göttlicher Wahnsinn und Besessenheit«."
Nach diesem Bild würde sich ein Künstler dadurch auszeichnen , dass er sich einem »göttlichen Wahnsinn und Besessenheit« nicht entziehen kann. Er kann seine Tätigkeit deshalb auch nicht , in Folge eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens , selbstbewußt und kontrolliert ausüben. Daher ist der Künstler auch kein Könner, im Sinne einer Regel geleiteten Fähigkeit.

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 20. Dez 2022, 18:08
AufDerSonne hat geschrieben :
Di 20. Dez 2022, 17:33
Viele Künstler(-Genies) wurden verrückt oder hatten schwere Depressionen (van Gogh). Also du meinst jetzt nur Maler, oder?
Musiker gibt es auch sehr gute. Ich glaube, die werden weniger schnell verrückt.
Worauf willst du damit hinaus? Was besagt das zum Thema künstlerische Intelligenz?
Somit wollte Menke bzw. Sokrates möglicherweise genau auf das selbe hinaus, wie @AufderSonne




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Jörn Budesheim
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Do 22. Dez 2022, 06:25

Henning Tegtmeyer referiert in seinem Buch "Kunst" neben vielem anderen auch einige Positionen von Kant, was nicht schon heißt, dass er ihm auch folgt:

[Kant] "begreift Genie von vornherein als genuin produktionsästhetisches Vermögen, dessen Aktualisierung die Herstellung von Werken der schönen Künste ist. „Schöne Kunst ist Kunst des Genies.“ Anders als Baumgarten unterscheidet Kant ferner scharf zwischen den Kompetenzen des Wissenschaftlers und denen des Künstlers. Während wissenschaftliche Erkenntnis und Darstellung die Grenzen der Erfahrung achten müsse, könne der Poet in den schönen Künsten alle der Erfahrung gezogenen Grenzen überschreiten. Dies müsse er auch, denn Genie ist für Kant das Vermögen der Darstellung erfahrungstranszendenter ästhetischer Ideen, die darzustellen das eigentliche Ziel der Kunst sei. Wissenschaftliche Erkenntnis- und Darstellungskompetenz ist lehr- und lernbar, künstlerisches Genie nicht. Dieses Vermögen wird aber von Kant durchaus ambivalent beurteilt. Der geniale Künstler ist gleichsam selbst Natur, sofern er, ohne selbst Regeln zu folgen, musterhafte Werke schafft, ohne selbst sagen zu können wie. Die Regeln der Kunst sind aus Kants Sicht weder lehr- noch lernbar.
...

Der Künstler - und nicht nur sein Publikum - bedarf für die rechte Ausübung seiner künstlerischen Naturbegabung des Geschmacks. Dieser ist Korrektiv überbordender Genialität. Dabei ist Geschmack bestimmt als ästhetische Urteilskraft, Genie als poetische Schaffenskraft ... Ein Überschuss an Genie bei gleichzeitigem Mangel an Geschmack führt nach Kant zu abgeschmackter Kunst, während das gegenteilige Ungleichgewicht die Herstellung eines Kunstwerks ganz verhindert. Künstlerische Produktivität verlangt die richtige Balance von Genie und Geschmack."


Wenn Tegtmeyer Kant richtig wiedergibt, dann ist anscheinend auch Kant der Ansicht, dass Kunst nicht einfach eine regelgeleitete Tätigkeit ist.




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Do 22. Dez 2022, 06:45

Timberlake hat geschrieben :
Mi 21. Dez 2022, 22:19
Nach diesem Bild würde sich ein Künstler dadurch auszeichnen , dass er sich einem »göttlichen Wahnsinn und Besessenheit« nicht entziehen kann. Er kann seine Tätigkeit deshalb auch nicht , in Folge eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens , selbstbewußt und kontrolliert ausüben. Daher ist der Künstler auch kein Könner, im Sinne einer Regel geleiteten Fähigkeit.
Damit hast du das, was du zitiert hast, inhaltlich aber erheblich abgeändert. Dass der Künstler sich der göttlichen Eingebung nicht entziehen kann, ist eine Hinzufügung von dir. Ebenso wie die Behauptung, er könne deshalb seine Tätigkeit auch nicht in Folge eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens, selbstbewusst und kontrolliert ausüben. Daraus, dass die künstlerische Tätigkeit nicht nur in der Befolgung von Regeln bestehen kann, folgt nicht, dass Künstler oder die Künstlerinnen keine Regeln befolgen können. Das einfache Abarbeiten eines Rezeptes macht zwar noch keine Kunst, das heißt aber nicht, dass Künstler:innen keine Rezepte abarbeiten können. Im Gegenteil: diese "Gefahr" besteht natürlich immer.

Und darüber hinaus: Regeln und natürlich auch zum Beispiel gewisse handwerkliche Fähigkeiten, die man durch Einübung erwerben kann, können auch in den Künsten eine gewisse Rolle spielen. Aber daraus folgt nicht, Künstler und Künstlerinnen einfach nur Regeln zu befolgen haben, um Kunst zu produzieren.




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Do 22. Dez 2022, 18:10

Nauplios hat geschrieben :
Mi 21. Dez 2022, 16:56
Wäre das eine Gegenposition zu Beuys Satz "Jeder Mensch ist ein Künstler"?
Vermutlich ja. Immerhin käme mir das zu Pass, weil ich diesen Slogan von Beuys ohnehin nicht mag.

Zur Erläuterung muss man verstehen, wie Beuys dieses Zitat vermutlich selbst verstanden hat. Ich habe mal ein Interview mit ihm gelesen, dort hat die Interviewerin eine Zeichnung gemacht, sie Beuys vorgeführt und ihn mit dem eigenen Spruch, "jeder Mensch ist ein Künstler" konfrontiert. Dazu meinte Beuys ziemlich lapidar, er hätte ja nicht gesagt, dass jeder Mensch ein Zeichner, ein Maler oder ein Bildhauer sei. Das ist also gar nicht gemeint. Was ist denn sonst gemeint? Ich vermute, Beuys meint damit kaum etwas anderes als, dass jeder Mensch ein kreatives Potenzial hat. In dieser Hinsicht hat Beuys meines Erachtens ohne Frage recht. Aber ein kreatives Potenzial haben und Künstler sein, das sind meines Erachtens einfach zwei verschiedene Schuhe. Zwar dürften jeder Künstler und jede Künstlerin ein kreatives Potenzial haben, aber nicht alle, die ein kreatatives Potenzial haben, sind Künstler:Innen.




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Do 22. Dez 2022, 18:45

Stefanie hat geschrieben :
Di 20. Dez 2022, 22:44
Vielleicht ist auch einfach so was gemeint wie "seinen Lauf lassen, einfach nur machen".
Ja, das ist sicherlich auch eine Möglichkeit, es zu verstehen. Manche verstehen es auch als eine Art flow :) aber ob es wirklich weiterbringt, kann ich nicht sagen, denn bei der Frage, wessen Lauf man lässt, den eigenen oder den das Bildes, werden sich die Geister schon wieder scheiden :)
Nauplios hat geschrieben :
Mi 21. Dez 2022, 16:47
das Kunstwerk bestimmt seine Regel, der Künstler setzt sie im Prozess des Schaffens um. Er wird zum dienstbereiten creator und curator einer Kreation, welche diese Dienstfertigkeit in Form einer "künstlerischen Intelligenz" einfordert.
Das wäre im Grunde der Idealfall. Für den Arbeitsprozess würde das bedeuten, dass immer die Arbeit (also das Kunstwerk) selbst bestimmt, welches die nächsten angemessenen Schritte sein können. Dem gerecht zu werden, ist natürlich sagenhaft schwierig, finde ich. Macht man das, was man tut, weil es dem Werk gerecht wird oder vielmehr, weil man in der Vergangenheit damit Erfolg hatte oder weil es eine gute Masche ist oder weil es in irgendeiner Form gefällig ist? Es ist oft ziemlich schwierig zu entscheiden, wer oder was einem die Hand führt oder welchen Einflüsterungen man ausgesetzt ist.

Noch mal etwas zu der Frage nach dem Können und dem Nicht Können: Mich erinnert das an eine Aussage einer Kollegin bei einem Künstlergespräch. Sie erzählte, wenn sie Lust hat zu zeichnen und sich dabei völlig entspannen will, da macht sie einfach ohne jeden Anspruch nur etwas, was nichts als handwerkliches Geschick erfordert. In meinen Worten also etwas, was nur Können und nicht das Können das Nicht Könnens verlangt. Denn Können ist bekanntlich leicht, wenn man es kann ;-)

(was natürlich nicht bedeutet, dass das maßlose Können manchen nicht auch leicht fällt. Es gibt ja auch Künstler oder Künstlerinnen, denen alles in den Schoß fällt, denen alles leicht fällt und die dennoch großartige Sachen machen. Das will ich auf keinen Fall bestreiten!)




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Do 22. Dez 2022, 21:05

Hier ist kurzer Vortrag von Christoph Menke zum Thema "Kunst - Experiment - Leben" von 2015. Darin geht es u.a. im grundlegende Fragestellungen im Bereich der Ästhetik.





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Fr 23. Dez 2022, 13:02

Ziemlich genau in der Mitte des Videos sagt er: "weil die Kunst die ästhetische Technik ist, kann sie über kein Wissen darüber verfügen, wie sie vorgehen oder verfahren muss ... Man kann nicht wissen, wie man Kunstwerke macht." Jedes Kunstwerk, so sagt er sinngemäß (wenn ich es richtig verstanden habe) fängt bei Null an mit einem ästhetischen Spiel. Das ästhetische Spiel, das hat er vorher erläutert, kennt keine externen Regeln, soweit okay. Aber auch keine internen Regeln. Und das ist der Punkt, wo ich noch nicht so richtig mitkomme. Denn, indem ich im Spiel dies tue und dann jedes folgen lasse, habe ich doch bereits eine Regel in die Welt gesetzt. Im Kunstwerk (was aus dem ästhetischen Spiel hervorgeht) ist es doch so, dass die Regel in der Art und Weise besteht, wie die Dinge darin "angeordnet" sind.

Die Idee, dass die künstlerische Intelligenz darin besteht, sich auf fraglichen Regellosigkeiten einlassen zu können, wird jetzt in diesem Video weder in Frage gestellt noch unterstrichen, schätze ich, oder?




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Jörn Budesheim
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Fr 23. Dez 2022, 16:25

Christoph Menke die Kraft der Kunst hat geschrieben : Kraft ist der ästhetische Gegenbegriff zu den (»poietischen«) Vermögen. »Kraft« und »Vermögen« sind die Namen zweier entgegengesetzter Verständnisse der Tätigkeit der Kunst [...] ​Vermögen zu haben heißt, ein Subjekt zu sein; ein Subjekt zu sein heißt, etwas zu können. Das Können des Subjekts besteht darin, etwas gelingen zu lassen, etwas auszuführen. Vermögen zu haben oder ein Subjekt zu sein bedeutet, durch Üben und Lernen imstande zu sein, eine Handlung gelingen lassen zu können.

[...]

Kräfte sind das Andere der Vermögen: – Während Vermögen durch soziale Übung erworben werden, haben Menschen bereits Kräfte, bevor sie zu Subjekten abgerichtet werden. Kräfte sind menschlich, aber vorsubjektiv. – Während Vermögen von Subjekten in bewußter Selbstkontrolle handelnd ausgeübt werden, wirken Kräfte von selbst; ihr Wirken ist nicht vom Subjekt geführt und daher vom Subjekt nicht gewußt.

Während Vermögen eine sozial vorgegebene allgemeine Form verwirklichen, sind Kräfte formierend, also formlos. Kräfte bilden Formen, und sie bilden jede Form, die sie gebildet haben, wieder um [...] Agenten, die keine Subjekte sind; aktiv, ohne Selbstbewußtsein; erfinderisch, ohne Zweck.




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Jörn Budesheim
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Fr 23. Dez 2022, 16:28

Wenn man sich unter Intelligenz vorstellt, bei einem intelligenztest das fehlende Wort einer logischen Reihe zu finden, dann ist der Begriff hier natürlich völlig fehl am Platz. Wenn zur Intelligenz aber auch zählen kann, bei einem Gedicht das treffende Wort zu finden, dann passt er sehr wohl.




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Sa 24. Dez 2022, 18:09

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 23. Dez 2022, 13:02

Jedes Kunstwerk, so sagt er [Christoph Menke] sinngemäß (wenn ich es richtig verstanden habe) fängt bei Null an mit einem ästhetischen Spiel. Das ästhetische Spiel, das hat er vorher erläutert, kennt keine externen Regeln, soweit okay. Aber auch keine internen Regeln. Und das ist der Punkt, wo ich noch nicht so richtig mitkomme. Denn, indem ich im Spiel dies tue und dann jedes folgen lasse, habe ich doch bereits eine Regel in die Welt gesetzt. Im Kunstwerk (was aus dem ästhetischen Spiel hervorgeht) ist es doch so, dass die Regel in der Art und Weise besteht, wie die Dinge darin "angeordnet" sind.
Nun hat ja Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode Grundlegendes zum Spiel in der Kunst geschrieben; inwieweit Christoph Menke dort anknüpft, kann ich nicht beurteilen, aber vielleicht bringen ein paar Gedanken von Gadamer etwas weiter.

Der etwas größer gefaßte Zusammenhang bei Gadamer ist das neuzeitliche Selbstverständnis des Subjekts; es geht hintergründig also um mehr als Kunst. Das wird auch schon dadurch deutlich, daß Gadamer das Spiel im Kapitel über die "Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst" behandelt.

Mit Kants Kritik der Urteilskraft und mit Schillers Rezeption Kants in seinen ästhetischen Schriften ist nach Gedamer nämlich eine Engführung verbunden: eine rein auf das Subjekt zugeschnittene Auffassung des Spiels, d.h. nur das Subjekt kann spielen. Dieses Spiel hat aber für Kant keine Relevanz im Hinblick auf Erkenntnis und Ethik. Kant und mit ihm Schiller betreiben eine radikale Subjektivierung der ästhetischen Grundbegriffe. Wirklichkeit und Schein sind durch eine Kluft voneinander getrennt; das Fiktive wird zu einem eigenen Bezirk, die Kunst zu einem Reich der Illusionen.

Demgegenüber fragt Gadamer nach der "Seinsweise des Kunstwerkes selbst". Diese Fragestellung nähert sich der Kunst damit nicht von der Subjektseite, sondern vom Kunstwerk aus. Denn Gadamer nimmt Anstoß daran, daß die Kunst als Reich des bloß Fiktiven von jedweden Erkenntnis- und Wahrheitsansprüchen entkernt wird. In der Nachfolge von Kant und vor allem Schiller wird die Kunst zwar zu einem autonomen Bezirk, aber dieser Bezirk ist allenfalls eine Traumwelt, die mit Wirklichkeit und Wahrheit nichts mehr zu tun hat. Das 19. Jahrhundert ist durchweg von dieser Vorstellung geprägt.

Nach Gadamer geht aber diese Sichtweise am Phänomen der Kunst vorbei, weil das Kunstwerk nurmehr ein ästhetisches Objekt wird, das einem Subjekt unverbindlich gegenüber steht. Dadurch wird aber das Kunstwerk als solches vernichtet.

Gadamers zentrale These an dieser Stelle: im Kunstwerk wird "eine Wahrheit erfahren, die uns auf keinem anderen Wege erreichbar ist." Durch die Erfolge der Naturwissenschaften und die Rationalität ihrer überprüfbaren Ergebnisse wird der Wahrheitsbegriff eingeschränkt auf die Wahrheit von Aussagen. Gadamer bezieht sich natürlich auf das Wahrheitsverständnis Heideggers (Wahrheit als Unverborgenheit); danach ist Aussagenwahrheit nur ein Spezialfall von Wahrheit, erschöpft und erfaßt aber den ursprünglichen Wahrheitsbegriff nicht.

Gadamer arbeitet an der Entmethodisierung der Wahrheitsthematik; die Kunst wird wieder zu einem Ort der Wahrheitserfahrung. "Wenn unsere Untersuchung sich – gegenüber der Subjektivierung der philosophischen Ästhetik – auf die Erfahrung der Kunst besinnt, zielt sie nicht nur auf eine Frage der Ästhetik, sondern auf eine angemessene Selbstinterpretation des modernen Denkens überhaupt, das immer noch mehr in sich schließt, als der neuzeitliche Methodenbegriff anerkennt.“ (Wahrheit und Methode; S.130)

Gadamer weist die starre Gegenüberstellung von erlebendem Subjekt und ästhetischem Objekt zurück. Und an diesem Punkt setzt er an mit einer Betrachtung des Spiels.




Nauplios
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Sa 24. Dez 2022, 18:44

Die Passagen in Wahrheit und Methode, die sich mit dem Spiel beschäftigen, will ich jetzt mal nur auf einen Punkt beschränken: spielen sieht Gadamer als genus verbi nach Art des griechischen Mediums an, zwischen Aktiv und Passiv. Zwar spielt der Spielende, aber es gibt auch das "Spiel der Farben", das "Spiel der Blätter", das "Wortspiel" u.ä. - Es wird gespielt!

"Immer ist da das Hin und Her einer Bewegung gemeint, die an keinem Ziele festgemacht ist, an dem sie endet. [...] Die Bewegung des Hin und Her ist für die Wesensbestimmung des Spieles offenbar so zentral, daß es gleichgültig ist, wer oder was diese Bewegung ausführt. Die Spielbewegung als solche ist gleichsam ohne Substrat. Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt. Das Spiel ist Vollzug der Bewegung als solcher.“ (Wahrheit und Methode; S. 109)

"So wählt die spielende Katze das Wollknäuel, weil es mitspielt, und die Unsterblichkeit des Ballspieles beruht auf der freien Allbeweglichkeit des Balles, der gleichsam von sich aus das Überraschende tut." (S. 111)

"Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird. Auch wenn es sich um Spiele handelt, in denen man selbstgestellte Aufgaben zu erfüllen sucht, ist es das Risiko, ob es ‚geht‘, ob es ‚gelingt‘ und ob es ‚wieder gelingt‘, was den Reiz des Spieles ausübt. Wer so versucht, ist in Wahrheit der Versuchte. Das eigentliche Subjekt des Spieles (das machen gerade solche Erfahrungen evident, in denen es nur einen einzelnen Spielenden gibt) ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst.“ (S. 112)

Die Ausführungen Gadamers zum Spiel, seinem Bezug zur Kunst und von dort aus zu einer "angemessenen Selbstinterpretation des modernen Denkens überhaupt" können hier nicht ausgebreitet werden; aber eines ist - vor allem im Hinblick auf viele Diskussionen im Forum, auch über künstliche Intelligenz - auffallend: sie sind von hochgradiger Aktualität; nicht nur in puncto der "Seinsweise des Kunstwerks", sondern weil es darüberhinaus um eine historische Weichenstellung geht (Wahrheit nur noch als Aussagenwahrheit ... Subjektivierung ... Verlust an Lebenswelt ...), die das Selbstverständnis des (modernen) Menschen betrifft. - Von einer Unterminierung des Menschenbildes war im Thread über künstliche Intelligenz kürzlich die Rede. Mal abgesehen davon, daß damit ja eigentlich ein status quo als authentisch angesetzt wird, der seinerseits womöglich bereits unterminiert war: die Frage nach der "künstlerischen Intelligenz" scheint mir von der Rückeroberung philosophischen Geländes motiviert und darin gar nicht unähnlich den Intentionen Gadamers in Wahrheit und Methode und auch Husserls in dessen Krisis-Schrift: ein reichhaltiges Menü für 2023. ;-)




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Sa 24. Dez 2022, 23:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 22. Dez 2022, 06:45
Timberlake hat geschrieben :
Mi 21. Dez 2022, 22:19
Nach diesem Bild würde sich ein Künstler dadurch auszeichnen , dass er sich einem »göttlichen Wahnsinn und Besessenheit« nicht entziehen kann. Er kann seine Tätigkeit deshalb auch nicht , in Folge eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens , selbstbewußt und kontrolliert ausüben. Daher ist der Künstler auch kein Könner, im Sinne einer Regel geleiteten Fähigkeit.
Damit hast du das, was du zitiert hast, inhaltlich aber erheblich abgeändert. Dass der Künstler sich der göttlichen Eingebung nicht entziehen kann, ist eine Hinzufügung von dir. Ebenso wie die Behauptung, er könne deshalb seine Tätigkeit auch nicht in Folge eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens, selbstbewusst und kontrolliert ausüben.
Ich habe mir das Zitat in einer quasi aus einer Not heraus abgeändert und zwar aus der Not heraus , dass mir auf diese Weise das Zitat überhaupt erst verständlich wurde . Nur mal mal zum Vergleich ..
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 21. Dez 2022, 19:10


Ein denkbarer Ausgangspunkt ist meines Erachtens ein alter Topos. Dazu habe ich mal ein paar Zitate aus dem Buch von Menke kopiert:

...

"Nach Sokrates ist Dichten »jedenfalls […] kein Wissen, kein Können, das über sich selbst und seine Wahrheit Rechenschaft zu geben vermöchte«

"Das Dichten, und generell das, was wir »Kunst« nennen, ist für Sokrates keine Kunst: nicht die selbstbewußte, kontrollierte Ausübung eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens. Dichten geschieht vielmehr in Besessenheit und aus Begeisterung. Daher ist auch der Dichter kein »Subjekt« im zuvor verwendeten Sinn des Ausdrucks: kein Könner; nicht jemand, der durch seine Vermögen etwas gelingen lassen oder ermöglichen kann. Im Dichten ereignet sich ein Verlust der Subjektivität."

Der Gedanke, dass Dichten kein Können ist im Sinne einer Regel geleiteten Fähigkeit, ist, wenn Menke recht hat, eine ganz alte Vorstellung. Kunst kommt nach diesem Bild wortwörtlich vom "Nichtkönnen". Da stellt sich natürlich die Frage, wie ist es dennoch möglich. Gemäß Menke hält Sokrates es für eine göttliche 'Gabe': "Nach Sokrates ist Dichten »göttlicher Wahnsinn und Besessenheit«."
Wie würdest denn du dieses "Nichtkönnen" interptieren, wenn nicht aus dem "Nichtkönnen" einer Regel geleiteten Fähigkeit? Wie wollte man sich auch eine solche Fähigkeit bewahren , wenn doch das Dichten nach Sokrates »göttlicher Wahnsinn und Besessenheit« ist. Ein göttlicher Wahnsinn und eine Besessenheit , das sich so ganz und gar nicht mit der selbstbewußten, kontrollierten Ausübung eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens verträgt.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 22. Dez 2022, 06:45
Daraus, dass die künstlerische Tätigkeit nicht nur in der Befolgung von Regeln bestehen kann, folgt nicht, dass Künstler oder die Künstlerinnen keine Regeln befolgen können. Das einfache Abarbeiten eines Rezeptes macht zwar noch keine Kunst, das heißt aber nicht, dass Künstler:innen keine Rezepte abarbeiten können. Im Gegenteil: diese "Gefahr" besteht natürlich immer.

Und darüber hinaus: Regeln und natürlich auch zum Beispiel gewisse handwerkliche Fähigkeiten, die man durch Einübung erwerben kann, können auch in den Künsten eine gewisse Rolle spielen. Aber daraus folgt nicht, Künstler und Künstlerinnen einfach nur Regeln zu befolgen haben, um Kunst zu produzieren.
In dem für dich der Gedanke, dass Dichten durch aus ein Können , im Sinne einer Regel geleiteten Fähigkeit ist , so hättest vielmehr du das Zitat inhaltlich erheblich abgeändert. Zumindest nach meinem Dafürhalten. Wo könnte man denn noch aus deiner Interpretation ein "Nichtkönnen" ableiten.

Ich denke mal diese "Nichtkönnen" von Menke sollten wir vielmehr als Provokation , als denn eine Überzeugung von Menke verstehen . Eine Provokation all jener , die (noch) Kunst aus dem "Können" ableiten. Was im Gegensatz zu Menkes "Nichtkönnens" übrigens meine Überzeugung ist . Künstler sind für mich , ganz im Gegenteil , Könner im Sinne einer Regel geleiteten Fähigkeit . Regeln , wie dem goldenen Schnitt , der Perspektive, den Harmonien , der Gramatik ..
  • Das Prinzip der Proportion

    Bereits in der Antike drückte man Harmonie in Zahlenverhältnissen aus, basierend auf den von PYTHAGORAS aufgestellten musikalischen Intervallen. Auch die geometrischen Figuren Quadrat, Dreieck und Kreis galten als „schön“.





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Timberlake hat geschrieben :
Sa 24. Dez 2022, 23:53
Wie würdest denn du dieses "Nichtkönnen" interptieren, wenn nicht aus dem "Nichtkönnen" einer Regel geleiteten Fähigkeit?
Das Nichtkönnen von dem Menke (übrigens nicht nur mit Sokrates, sondern auch mit Nietzsche sowie Gabriel und vielen mehr) spricht, ist nicht etwa das Nichtkönnen eines Dilettanten oder wie immer man es nennen mag. Es besteht also nicht bloß darin, dass das "Vermögen'' (=das Know-how/die Fähigkeit) der Regel zu folgen schlichtweg nicht vorhanden ist. Es ist kein bloßes Nichtkönnen der regelgeleiteten Fähigkeit. Im Gegenteil: wenn natürlich auch nicht immer, so ist doch in vielen Fällen dieses Können schlicht vorausgesetzt. Oft, wenn natürlich auch nicht immer, dürfte es sogar die Grundlage für das gewünschte Nichtkönnen sein. In etlichen Fällen, wenn natürlich auch nicht immer, dürfte es sogar so sein, dass der Wunsch, mehr zu können als der Regel zu folgen, erst geweckt ist, wenn Beherrschung der Regel kein Problem mehr darstellt. Etwas mechanisch könnte man das in einer Rangfolge darstellen, auch wenn man das natürlich mit einigen Körnchen Salz nehmen muss:
  • Nichtkönnen
  • Können
  • Können des Nichtkönnens
    (das klingt nur deshalb unlogisch bzw paradox, weil sich hier natürlich die Bedeutung der Ausdrücke etwas verschiebt)
oder
  • keine Regelbeherrschung
  • Regelbeherrschung
  • über die Regelbeherrschung hinausgehen, das schaffen, was sich nicht in der Regelbeherrschung erschöpft
Diese Steigerung ist allerdings kein begrifflich notwendiger Zusammenhang, allenfalls ein empirischer.
Menke hat geschrieben : Das ist die These, die in der Umwertung steckt, die Nietzsche an Sokrates’ Einsicht in die philosophische Unbegreifbarkeit der Kunst vorgenommen hat: Dichten ist nur deshalb möglich, kann nur deshalb ein Kunstwerk hervorbringen, weil es nicht die Form eines Machens hat, das wir so (und deshalb) verstehen können, daß es die Anwendung eines praktischen Wissens, die Ausübung übend erworbener Vermögen ist [...] Die künstlerische Tätigkeit geschieht aus Begeisterung; sie gelingt, das heißt: bringt ein Kunstwerk hervor, indem sie mit der Praxis selbstbewußten Machens bricht.
Um mit dieser Praxis zu brechen muss man sie zwar nicht beherrschen, aber genau das ist in vielen Fällen der Weg.




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So 25. Dez 2022, 10:02

Nauplios, Gadamer zitierend hat geschrieben :
Sa 24. Dez 2022, 18:44
"Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird. Auch wenn es sich um Spiele handelt, in denen man selbstgestellte Aufgaben zu erfüllen sucht, ist es das Risiko, ob es ‚geht‘, ob es ‚gelingt‘ und ob es ‚wieder gelingt‘, was den Reiz des Spieles ausübt. Wer so versucht, ist in Wahrheit der Versuchte. Das eigentliche Subjekt des Spieles (das machen gerade solche Erfahrungen evident, in denen es nur einen einzelnen Spielenden gibt) ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst.“ (S. 112)
Das "entspricht" mutatis mutandis - wenn ich mich nicht komplett täusche - doch so ziemlich genau dem (vergleichsweise gängigen) Gedanken, dass das Bild sich in einer gewissen Hinsicht selbst malt, bzw. das Kunstwerk sich selbst macht. "Hin und Her" gefällt mir auch gut.

Um noch mal zu meiner "These" zurückzukommen - sie muss aber keineswegs das Zentrum dieses Fadens ausmachen - dann bestünde die künstlerische Intelligenz (vielleicht unter anderem) darin, sich diesen "Hin und Her" zu "überlassen". (Da könnte man vielleicht noch eine bessere Formulierung finden.)




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So 25. Dez 2022, 13:38

Nauplios hat geschrieben :
Sa 24. Dez 2022, 18:09
Nun hat ja Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode Grundlegendes zum Spiel in der Kunst geschrieben; inwieweit Christoph Menke dort anknüpft, kann ich nicht beurteilen, aber vielleicht bringen ein paar Gedanken von Gadamer etwas weiter.
Christoph Menke, Die Kraft der Kunst hat geschrieben : Versteht man die Kunst oder das Ästhetische als Erkenntnis, als Politik oder als Kritik, so trägt dies nur weiter dazu bei, sie zu einem bloßen Teil der gesellschaftlichen Kommunikation zu machen. Die Kraft der Kunst besteht nicht darin, Erkenntnis, Politik oder Kritik zu sein.
Das klingt, zumindest auf den ersten Blick so, als stünden Gadamer und Menke in einem Gegensatz. Allerdings hängt hier natürlich alles daran, was Menke in diesem Zitat unter "Erkenntnis" verstanden haben will.




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So 25. Dez 2022, 17:26

44912479in.jpg
44912479in.jpg (64.15 KiB) 3098 mal betrachtet
"Die Weihnachtsgeschichte (sehr frei nach Giotto)." (Jörn Budesheim)

Ich vermute daß es sich im Hinblick auf Giotto um das Fresko der Geburt Christi in der Scrovegni-Kapelle in Padua handelt:

41_00240913_giotto-di-bondone_christi-geburt.jpg
41_00240913_giotto-di-bondone_christi-geburt.jpg (46.47 KiB) 3098 mal betrachtet

Es ist also ein Bildzitat mit Verfremdungseffekten. Giotto stellt die Geburtsszene als Teil eines Gemäldezyklus dar. Es ist jetzt nicht mehr eine Höhle wie auf byzantinischen Gemälden, in der sich das Geschehen abspielt, sondern eine Art Schuppen, ursprünglich gedacht zum Witterungsschutz für Nutztiere. Ochse und Esel befinden sich links, auf der rechten Seite Lämmer und eine Ziege. Am Himmel erscheinen Engel, die Hände zum Gebet gefaltet.

In Deiner Zeichnung füllt das Lamm den Unterstand aus. In der christlichen Ikonographie ist das Lamm das Symbol für Christus. Vermutlich kommt es hier darauf weniger an und das Lamm steht stellvertretend für eine Tierwelt, die in Teilen vom Aussterben bedroht ist und deren Nutztiere unter der Massentierhaltung leiden. (Eine Verbindung zur Passion Christi ließe sich herstellen.) - Der Himmel ist nicht mehr von lobpreisenden Engeln erfüllt; an ihm zeigt sich etwas Dunkles, das vielleicht ein Raubvogel ist. Die Form erinnert an einen Tarnkappenbomber. Der Himmel ist nicht länger Ort der Erlösung und göttlicher Fürsorge, sondern Bedrohungsszenario, gegen das die Hütte Schutz vor Sichtbarkeit bietet. (Anklänge an die Offenbarung des Johannes ließen sich hineinlesen.)

Die Zeichnung gewährt uns Einblick in eine veränderte Welt. Sie wählt bestimmte Motive aus und besetzt die Szene der Geburt Jesu neu. Durch Hervorhebungen und Weglassungen schärft sie unseren Blick auf die Wirklichkeit. Sie läßt sich natürlich nicht auf die Form einer propositionalen Aussage bringen. Und dennoch zeigt sie etwas, läßt etwas hervortreten, läßt etwas erkennen; vielleicht etwas, das sich einer Fehlinterpretation der Rezeption verdankt. Daß sich an und durch die Kunst etwas erkennen läßt, was ohne sie ungesehen, ungehört, unvernommen geblieben wäre, scheint mir fast schon selbstverständlich. ;-)




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So 25. Dez 2022, 17:59

Der Aspekt einer künstlerischen Intelligenz ließe sich vielleicht auch von seinem Negativ aus betrachten, der Abwesenheit dieser Intelligenz. In seiner Rede Leiden und Größe Richard Wagners von 1933 heißt es bei Thomas Mann:

"Tatsächlich und nicht nur oberflächlich, sondern mit Leidenschaft und Bewunderung hingeblickt, kann man sagen, auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden, daß Wagners Kunst ein mit höchster Willenskraft und Intelligenz monumentalisierter und ins Geniehafte getriebener Dilettantismus ist."

Hier ist die Intelligenz noch kein Schutz vor Dilettantismus, den Thomas Mann in der auf Nietzsche zurückgehenden Vereinigungsidee der Künste sah und die Wagner vorschwebte.




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Jörn Budesheim
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So 25. Dez 2022, 18:19

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Dez 2022, 17:26
In Deiner Zeichnung füllt das Lamm den Unterstand aus. In der christlichen Ikonographie ist das Lamm das Symbol für Christus. Vermutlich kommt es hier darauf weniger an und das Lamm steht stellvertretend für eine Tierwelt, die in Teilen vom Aussterben bedroht ist und deren Nutztiere unter der Massentierhaltung leiden. (Eine Verbindung zur Passion Christi ließe sich herstellen.)
Der Künstler oder die Künstlerin kann die Interpretation der eigenen Arbeit weder kontrollieren noch festlegen, denke ich. Aber ziemlich genau so, wie du es dargestellt hast, habe ich es mir gewünscht :) Dass das Lamm für Jesus steht, kann man heute leider nicht mehr als bekannt voraussetzen, aber ich habe gehofft, dass der eine oder die andere den Zusammenhang (er-)kennt - und somit auch die "Doppeldeutigkeit" der Darstellung sieht, die ansonsten ja menschenleer ist.

Die Zeichnung ist übrigens direkt aus diesem Faden entstanden. In dem Video zu der Blumenberg-Veranstaltung war die Erzählung von Hanno Millesi zu sehen, bzw. zu hören. Dort hat der Autor sich etwas abschätzig über Engel geäußert und das hat sofort meinen Widerspruchsgeist herausgefordert :) Auch wenn ich ziemlich strikter Atheist bin, so glaube ich doch sicher, dass religiöse Ikonographien in der Regel sprechend sind und etwas über unser Menschsein sagen/zeigen/erzählen können - und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob es Götter, Engel, Teufel und dergleichen "wirklich" gibt.

Das war der Ausgangspunkt. Aus diesem Grund wollte ich überhaupt einen Engel zeichnen.

Ich habe ohne größeres Kalkül begonnen und mit einem breiten Pinsel den Engel "gemalt". Bzw genauer genommen sollte das eigentlich nur die Kontur des Engels ergeben. Aber dann hat mich das "Ergebnis" (der erste Strich, der eigentlich nur die beiden Flügel zeigen/grundieren sollte) dazu gebracht, zu entscheiden, dass diese Form erst einmal, so wie sie war, stehen bleibt. (Sie hat sich dann auch tatsächlich nicht mehr verändert.)

Zuerst saß da also der "Schutzengel", der offenbar nicht mehr wirklich ein Schutzengel ist, auf dem Papier. Damit deutlich ist, dass er "fliegt" oder "irgendwie" "oben" ist und nicht rein aus kompositorischen Gründen platziert ist, hat die Zeichnung gewissermaßen nach einer Basis einem "unten" "verlangt". („Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe.“ — Friedrich Hölderlin.)

An dieser Stelle ist die Zeichnung gewissermaßen ins Stocken geraten und eine Zeitlang liegen geblieben. Ich wusste nicht mehr weiter. Das führt dann in der Regel zu einer Phase der Unruhe - bei der ich immer wieder zu dem Zwischenstand zurückkehre und mir die Zeichnung lange anschaue. Und manchmal mithilfe der sogenannten "Vorstellungskraft" die eine oder andere Möglichkeit durchspiele, bis irgendwann der Einfall kam, ein Lamm auf dem Blatt zu platzieren, schließlich ist Weihnachten :)

In solchen Fällen schaue ich immer gerne mal, was Giotto gemacht hat; er ist für mich oft eine wichtige Inspirationsquelle. ("Inspiration" ist im übrigen eine wichtige theologische Metapher, wenn es um die Frage geht, woher die Einfälle einfallen.) Und aus der Betrachtung des Bildes von Giotto - es war genau das, was du ausgewählt hast - hat sich dann sozusagen der Rest der Zeichnung "ergeben", um die Geschichte nicht ausufern zu lassen, schreibe ich "ergeben". (Irgendwo schwoben dann sicherlich auch eigene - teilweise auch explizit gedachte - Interpretation im Raum, die die Richtung sicher mit beeinflusst haben.)

Man kann also sagen, dass die Zeichnung aus vielen verschiedenen "hin und her" und Dialogen entstanden ist. Vielleicht wäre es besser zu sagen, dass das Zeichnen die vielen verschiedenen "hin und her" und Dialoge selbst war. Hier habe ich auf keinen Fall alleine die Regie geführt, denke ich :)




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Jörn Budesheim
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So 25. Dez 2022, 18:27

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Dez 2022, 17:26
Durch Hervorhebungen und Weglassungen schärft sie unseren Blick auf die Wirklichkeit. Sie läßt sich natürlich nicht auf die Form einer propositionalen Aussage bringen.
Ansonsten wäre sie natürlich auch überflüssig :) weil man sie dann besser durch die propositionale Aussage ersetzen würde.




Timberlake
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So 25. Dez 2022, 18:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Dez 2022, 09:09

Menke hat geschrieben : Das ist die These, die in der Umwertung steckt, die Nietzsche an Sokrates’ Einsicht in die philosophische Unbegreifbarkeit der Kunst vorgenommen hat: Dichten ist nur deshalb möglich, kann nur deshalb ein Kunstwerk hervorbringen, weil es nicht die Form eines Machens hat, das wir so (und deshalb) verstehen können, daß es die Anwendung eines praktischen Wissens, die Ausübung übend erworbener Vermögen ist [...] Die künstlerische Tätigkeit geschieht aus Begeisterung; sie gelingt, das heißt: bringt ein Kunstwerk hervor, indem sie mit der Praxis selbstbewußten Machens bricht.
Um mit dieser Praxis zu brechen muss man sie zwar nicht beherrschen, aber genau das ist in vielen Fällen der Weg.

Ich denke mal , weil auch in diesem Zitat von Menke der Begriff auftaucht , der Schlüssel zum Verständniss von Menkes Nichtkönnen liegt in der Begeisterung
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Dez 2022, 09:09
Timberlake hat geschrieben :
Sa 24. Dez 2022, 23:53
Wie würdest denn du dieses "Nichtkönnen" interptieren, wenn nicht aus dem "Nichtkönnen" einer Regel geleiteten Fähigkeit?
Das Nichtkönnen von dem Menke (übrigens nicht nur mit Sokrates, sondern auch mit Nietzsche sowie Gabriel und vielen mehr) spricht, ist nicht etwa das Nichtkönnen eines Dilettanten oder wie immer man es nennen mag.
Ein Dilettant oder wie immer man es nennen mag, wird das , was er erwiesener Maßen nicht kann , ganz sicher nicht mit Begeisterung tun.
Ein Künstler oder wie immer man es nennen mag, wird das , was er erwiesener Maßen nicht kann , mit Begeisterung tun.
  • Proportion und goldener Schnitt

    Bereits in vielen Kunstwerken der Antike und später dann der Renaissance kann man diese Auffassung wiederfinden und auch den goldenen Schnitt entdecken. So ist die „göttliche Proportion zur Vollkommenheit“ in der Statue der „Venus von Milo“, im Skizzenbuch „Livre de portraiture“ des VILLARD DE HONNECOURT (um 1230) wie in Gemälden von RAFFAEL (um 1511), LEONARDO DA VINCI (1452–1519) und ALBRECHT DÜRER (1471–1528) zu finden, manchmal aber erst mit ein wenig Übung.

    DA VINCI kamen während seiner Studien aber bald Zweifel, ob eine derartige Mathematisierung die Lösung des Schönheitsproblems bringen würde und rückte die natürliche Verschiedenheit in seinen Studienmittelpunkt:

    „Wer diese Verschiedenheit nicht berücksichtigt, der macht seine Gestalten immer nach der Schablone, als ob sie alle Geschwister seien, und das verdient strengen Tadel.“ (nach UHLMANN)
Ein Künstler wird zwar seine Gestalten auch nach der Schablone machen können , so als ob sie alle Geschwister seien . aber ganz sicher nicht Begeisterung. Die natürliche Verschiedenheit , so als ob die Gestalten Stiefgeschwister seien , das ist sein Metier, das Begeistert ihn. Stiefgeschwister , wo die Regeln , von den Menke spricht , zwar noch zu einem gemeinsamem Elternteil gehören , aber vom anderen Eltenteil her , als da wäre das Gestalterische , grundsätzlich verschieden sind.

Können und Nichtkönnen würde sich dem nach aus der Begeisterung für eine Tätigkeit ableiten.

Der Handwerker hingegen, der macht seine Gestalten immer nach der Schablone, als ob sie alle Geschwister seien, das ist sein Metier, das Begeistert ihn. Bei dem dürfte wiederum das Berücksichtigen der natürlichen Verschiedenheit strengen Tadel verdienen. Nur um einmal an Hand dieser "Geschwistermetapher" den Unterschied zwischen einen Künstler und einem Handwerker darzustellen.




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