Künstlerische Intelligenz

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Jörn Budesheim
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So 19. Mär 2023, 20:38

Die Vorstellung, dass die Betrachter:innen bestimmte "Empfindungen" haben sollen, nämlich die, "die der Künstler beabsichtigt", unterschätzt die aktive Rolle der Betrachter:innen. Kunstwerke können nicht generell als abgeschlossene und fertige "Produkte" betrachtet werden. Sie sind offen. Ihre Wirkung kann in der Regel auch nicht von den Künstler:innen kontrolliert werden. Sie sind offen für verschiedene (wenn auch nicht beliebige) Deutungen und Interpretationen der Betrachter:innen.

Zudem können sie nicht nur Empfindungen, sondern auch vieles andere bei den Betrachter:innen ansprechen und auslösen: Unverständnis, Irritation, Erstaunen, Faszination, Überwältigung, Schönheitsempfinden, Gefallen, Bewunderung, Träume, Nachdenken, Reflektieren, Erschrecken, Gefühle, Ahnungen, nicht genau wissen, worum es geht und so weiter und so fort.

Zur künstlerischen Intelligenz gehört wohl auch die Fähigkeit, sich von diesem offenen Spiel mitreißen zu lassen.




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METASUBJEKT
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So 19. Mär 2023, 21:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Mär 2023, 19:48
Ja, genau, wir können uns eine Malerin vorstellen, die einfach spontan anfängt zu malen, ohne irgendeine Vorstellung, ohne irgendein Ziel, die sich und das Bild einfach dem Prozess überlässt und improvisiert. Dabei muss sie auch nicht irgendeine Empfindung im Sinn haben, die sie bei sich und den (anderen) Betrachter:innen auslösen will. Alles kann offen sein.
"...sich einfach dem Prozess überlässt und improvisiert..."
Ok, darin findet sich tatsächlich keine Zielstrebigkeit.

Aber könnte es nicht sein, dass ihr gedankenloser Griff zum Pinsel aus einem
schon etablierten übergeordneten Bedürfnis hervorgeht, diese Werke zu schaffen und auf das sie
ihre Lebenspraxis schon längst eingestellt hat? Kann man ausschließen, dass sie ihre Arbeit
im Zustand eines "Flows" aufnimmt und wieder unterbricht, aufnimmt usw.

Was ja dem Wesen vieler Künstler entspricht.
Das Ziel des Künstlers ist so schon längst formuliert. Und
häufig auch in seiner Technik oder Thematik manifestiert.

Auch wenn ich davon absehe, dass ein Künstler immer seinen
Rezipienten im Auge hat, wenn er etwas fertigt. Bleibt die ästhetische
Wirkung nicht aussen vor.

Ob Musiker, Bildhauer, Poet, Choreograph oder Maler: woran orientieren sie
sich, wenn nicht an der Ästhetik ihrer Werke? Sofern sie Kunstwerke schaffen wollen.

Ein schiefer Ton oder Takt; ein misslungener Farbkontrast, der Aufbau des Werkes;
die verunglückte Wahl emotionalisierender Worte des Poeten;
die mangelhafte Synchronizität und Abfolge der Figuren beim Balett:
Jede dieser Störungen bringt den Künstler unter Umständen sogar in Rage.
Aber was ist das, was ihn so in Rage bringt?

Die Störung ist die ästhetische Wirkung seines Werkes wärend er noch in
der Schaffensphase ist. Er ist ja selbst Rezipient seiner Arbeit.
Es gibt deshalb auch dann einen Adressaten für die ästhetische
Wirkung, wenn es nicht die anderen Menschen sind. Aber mehrheitlich
sind es auch die anderen Menschen.

Fazit um mich zu korrigieren: Alle Kunstwerke entstehen unter dem Einfluß ihrer ästhetischen
Wirkung auf den Künstler, während ihres Schöpfungsprozesses. Aber nicht alle Kunstwerke
werden mit dem Ziel geschaffen, beim Rezipienten eine bestimmte ästhetische Wirkung zu erzielen.
Man darf aber annehmen dass es jedem Künstler darum geht, dass sein Werk zumindest irgend eine
ästhetische Wirkung auf dem Betrachter hat, wenn er diese anderen Menschen zur Schau stellt.
Mit dem Ziel, Anerkennung für sein Werk zu bekommen.




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Jörn Budesheim
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So 19. Mär 2023, 21:40

METASUBJEKT hat geschrieben :
So 19. Mär 2023, 13:52
Ästhetische Wirkungen eines Werkes zielen auf Empfindungen des Betrachters oder Rezipienten. Sie sollen nicht einfach bloß irgendwelche Empfindungen sein, sondern solche, die der Künstler zum Ziel hat.
Ich habe im Wesentlichen gegen diese Idee argumentiert. Ich weiß jetzt nicht genau, wie der Stand der Diskussion ist. Das heißt, ich weiß nicht, ob du diese Argumente akzeptiert hast, und von daher ist mir nicht ganz klar, wofür du in dem vorhergehenden Beitrag argumentieren wolltest. Vielleicht kannst du noch ein, zwei Zeilen dazu schreiben, dann kann ich vielleicht genauer auf die einzelnen Passagen eingehen.

Nachtrag: ich akzeptiere natürlich, dass Künstler oder Künstlerinnen ihre ersten Betrachter:innen sind. Mir ist nur nicht ganz klar, ob dieser Sachverhalt die obige These stützen soll oder was Du damit bezwecken willst.




Timberlake
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So 19. Mär 2023, 23:16

METASUBJEKT hat geschrieben :
So 19. Mär 2023, 21:05
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Mär 2023, 19:48
Ja, genau, wir können uns eine Malerin vorstellen, die einfach spontan anfängt zu malen, ohne irgendeine Vorstellung, ohne irgendein Ziel, die sich und das Bild einfach dem Prozess überlässt und improvisiert. Dabei muss sie auch nicht irgendeine Empfindung im Sinn haben, die sie bei sich und den (anderen) Betrachter:innen auslösen will. Alles kann offen sein.
"...sich einfach dem Prozess überlässt und improvisiert..."
Ok, darin findet sich tatsächlich keine Zielstrebigkeit.

Aber könnte es nicht sein, dass ihr gedankenloser Griff zum Pinsel aus einem
schon etablierten übergeordneten Bedürfnis hervorgeht, diese Werke zu schaffen und auf das sie
ihre Lebenspraxis schon längst eingestellt hat? Kann man ausschließen, dass sie ihre Arbeit
im Zustand eines "Flows" aufnimmt und wieder unterbricht, aufnimmt usw.

Weil gerade andernorts "heiß" diskutiert , dazu .. also zu dem Zustand eines "Flows" .. eine Anmerkung von Freud ..
  • Eine andere Technik der Leidabwehr bedient sich der Libidoverschiebungen, welche unser seelischer Apparat gestattet, durch die seine Funktion so viel an Geschmeidigkeit gewinnt. Die zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können. Die Sublimierung der Triebe leiht dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben. Die Befriedigung solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität, die wir gewiß eines Tages werden metapsychologisch charakterisieren können.
    Sigmund Freud .. Das Unbehagen in der Kultur
METASUBJEKT hat geschrieben :
So 19. Mär 2023, 21:05


Fazit um mich zu korrigieren: Alle Kunstwerke entstehen unter dem Einfluß ihrer ästhetischen
Wirkung auf den Künstler, während ihres Schöpfungsprozesses. Aber nicht alle Kunstwerke
werden mit dem Ziel geschaffen, beim Rezipienten eine bestimmte ästhetische Wirkung zu erzielen.
Man darf aber annehmen dass es jedem Künstler darum geht, dass sein Werk zumindest irgend eine
ästhetische Wirkung auf dem Betrachter hat, wenn er diese anderen Menschen zur Schau stellt.
Mit dem Ziel, Anerkennung für sein Werk zu bekommen.
.. eben deshalb, weil man durch einen Flow einen Lustgewinn verspürt , dürfte einem in diesem Zustand die "besagte" Außenwelt und damit die ästhetische Wirkung auf dem Betrachter übrigens aber auch so was von egal sein. Zumal von diesem Zustand aus , naturgemäß der Funke sehr viel leichter auf den Betrachter überspringt , als wenn man ein Kunstwerk allein mit dem Ziel erstellt , eine Anerkennung zu bekommen.




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Jörn Budesheim
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Mo 20. Mär 2023, 10:37



Gestern habe ich mal den Prozess des Zeichnens mit dem Handy aufgenommen. Herausgekommen ist eine Art Zombie 🙂 Es war nicht so geplant, aber jetzt ist es eben so.




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Mo 20. Mär 2023, 12:41

@Timberlake

"Wie bei allem , so gibt es auch im Ästhetik zweierlei Wirkungen . Eine Wirkung , die anzieht und als solches positiv besetzt ist und eine Wirkung , die abstößt und als solches negativ besetzt ist..."

Volle Zustimmung.
Ihr Argument zeigt darauf, dass ein Kunstwerk ohne
ästhetische Wirkung wie Anziehung oder Abstoßung
wie ein neutral empfundener Gegenstand wirkt.
So wie ein Einkaufswagen im Supermarkt.




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METASUBJEKT
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Mo 20. Mär 2023, 14:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 19. Mär 2023, 20:38
Zudem können sie nicht nur Empfindungen, sondern auch vieles andere bei den Betrachter:innen ansprechen und auslösen: Unverständnis, Irritation, Erstaunen, Faszination, Überwältigung, Schönheitsempfinden, Gefallen, Bewunderung, Träume, Nachdenken, Reflektieren, Erschrecken, Gefühle, Ahnungen, nicht genau wissen, worum es geht und so weiter und so fort.
Ich vermute unser Missverständnis darin, dass mein Kommentar
die ästhetische Wirkung, als Motiv des Künstlers in den
Vordergrund stellt. Deshalb war Dein Einwand hilfreich.

Ich hole das versäumte nach und schließe andere Motive
wie Provokation oder politische, religöse Botschaften usw. mit ein.
Trotzdem bin ich noch nicht überzeugt, dass diese die Ästhetik
als immanente Eigenschaft von Kunstwerken ersetzen könnten.

Macht Kunst als Begriff noch einen Sinn, wenn sie nicht als etwas
gedacht wird, das auf das ästhetische Empfinden ihres Rezipienten abzielt.
Und zwar durch etwas, das durch den Schöpfungsprozess im
Wesen eines Kunstwerkes liegt?

Die Annahme, dass Kunstwerke immer auch eine ästhetische Wirkung
haben, besagt noch nichts darüber, welcher Art sie sind.
Auch Häßlichkeit oder Ekel ist eine ihrer Erscheinungsformen.
Eine ästhetische Wirkung kann auch so schwach sein, dass dem Objekt
mit Gleichgültigkeit begegnet wird.

Und hier setzt meine Vorstellung eines gezielten Einsatzes von ästhetischen
Wirkungen an. Künstler haben in der Regel bestimmte Ausdrucksabsichten, so wie
auch Komponisten, Autoren, Redner, Performer usw. Und um diese realisieren
zu können, braucht es etwas, wofür man Deinen Ausdruck "Künstlerische Intelligenz"
verwenden könnte.
Soviel hierzu.

Du machst einen Unterschied zwischen:"Empfindungen" und:
"...Schönheit, wohlgeschmack, Erotische Anziehung,
Interessantes,..."


Diese Unterscheidung ist nicht hilfreich. Denn Du hast damit
eigentlich nur verschiedene Erscheinungsformen ästhetischer Empfindungen
genannt. Die Liste dieser Erscheinungsformen ästhetischer Empfindungen
ist quasie unendlich.

Ansonsten erkläre mir, "wie" sich denn eine "Empfindung" anfühlt?

Und wir haben zwei Arten von Empfindungen:
Die analytischen, die uns wahrnehmen lassen, "was" wir
empfinden. Und die ästhetischen, die uns erleben
lassen, "wie" wir etwas empfinden.

Während man die analytischen auch in Roboter mit Ki und
Sensorik simulieren könnte, kann man ästhetische Empfindungen
nicht künstlich herstellen.

Ein Roboter könnte mit seiner Sensorik einen Pfirsich oder
einen Rembrandt erkennen. Aber er würde keinen Appetit auf Pfirsiche
entwickeln oder sich davor ekeln. Und er würde vor dem Rembrandt
keine Begeisterung oder Ehrfurcht vor dessen Leistungen empfinden können.

Zumindest solange nicht, bis man biologische Roboter entwickeln kann.




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Jörn Budesheim
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METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 14:06
Künstler haben in der Regel bestimmte Ausdrucksabsichten
Woher weißt du das? Meine Erfahrung ist, dass das so allgemein nicht stimmt. Ich kenne Künstler:innen, die gerade den Begriff "Ausdruck" komplett ablehnen. Das, was man eventuell ausdrückt, sagen sie dann, ist Farbe aus der Tube :-) sonst nichts.




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Mo 20. Mär 2023, 14:16

METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 14:06
Macht Kunst als Begriff noch einen Sinn, wenn sie nicht als etwas gedacht wird, das auf das ästhetische Empfinden ihres Rezipienten abzielt.
Ja, natürlich. Ich störe mich im Wesentlichen an dem Begriff "Empfinden". Das ist mir zu einseitig. Zweifellos sind Empfindungen in der Kunst sehr wichtig. Aber auch viele andere Dinge. Man kann das Pissoir von Duchamp auch ganz kühl zur Kenntnis nehmen und sich mit dem Kunstbegriff von Duchamp auseinandersetzen. Es ist jedoch keine Empfindung, wenn ich über diesen Kunstbegriff nachdenke.




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Mo 20. Mär 2023, 18:19

METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 14:06
Künstler haben in der Regel bestimmte Ausdrucksabsichten
Hier hängt viel davon ab, wie man die Metapher "Ausdruck" verstehen will. Natürlich gibt es Künstlerinnen und Künstler, die etwas Inneres ausdrücken wollen. Das will ich gar nicht bestreiten. Und wahrscheinlich ist daran auch nichts falsch.

Aber für meine Arbeit würde ich das nicht ohne weiteres gelten lassen. Die Metapher, die mir vorschwebt - und damit bin ich nicht allein - geht nicht von innen nach außen, sondern eher den "umgekehrten" Weg: "Da draußen ist etwas, das aufs Papier drängt".

Es ist nicht wichtig, welche dieser beiden Richtungen man bevorzugt oder welche andere Möglichkeit einem einfällt. Wichtig ist nur, dass ich die folgende Aussage nicht für richtig halte: "Künstler haben in der Regel bestimmte Ausdrucksabsichten". Das mag auf einige zutreffen, vielleicht sogar auf viele, aber es trifft sicher nicht generell zu.




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Mo 20. Mär 2023, 18:27

METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 14:06
Du machst einen Unterschied zwischen: "Empfindungen" und: "...Schönheit, wohlgeschmack, Erotische Anziehung, Interessantes,..."

Diese Unterscheidung ist nicht hilfreich. Denn Du hast damit eigentlich nur verschiedene Erscheinungsformen ästhetischer Empfindungen genannt. Die Liste dieser Erscheinungsformen ästhetischer Empfindungen ist quasie unendlich.
Meine Aufzählung las sich allerdings anders: "Unverständnis, Irritation, Erstaunen, Faszination, Überwältigung, Schönheitsempfinden, Gefallen, Bewunderung, Träume, Nachdenken, Reflektieren, Erschrecken, Gefühle, Ahnungen, nicht genau wissen, worum es geht und so weiter und so fort."

Nicht alles, was dort steht, lässt sich unter dem Begriff der Empfindung fassen: Zumindest Denken und Reflektieren sind keine Empfindungen, auch wenn wir natürlich ohne Empfindungen nicht denken und reflektieren könnten.




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Mo 20. Mär 2023, 19:20

METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 14:06
Und wir haben zwei Arten von Empfindungen: Die analytischen, die uns wahrnehmen lassen, "was" wir empfinden. Und die ästhetischen, die uns erleben lassen, "wie" wir etwas empfinden.
Für mich ist in diesem Zitat nicht ganz klar, was du eigentlich mit ästhetisch meinst. Du unterscheidest zwischen dem Was und dem Wie. Wenn ich mir eine Nadel in den Finger steche, dann fühle ich etwas, also gibt es ein Wie. Das müsste also nach deiner Definition eine ästhetische Empfindung sein. Ist das richtig? Aber damit würden die ästhetischen Erfahrungen, die wir machen, in gewisser Weise nivelliert. Denn damit würde für mich eine wichtige Unterscheidung verloren gehen, nämlich die zwischen ästhetischen Erfahrungen und unseren Alltagserfahrungen. Sich mit einer Nadelspitze in den Finger zu stechen, wäre dann genauso eine ästhetische Erfahrung/Empfindung wie ein Gedicht zu lesen.




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Mo 20. Mär 2023, 20:07

Der Begriff "ästhetisch" hat eine Reihe von Bedeutungen, für mich vor allem zwei. Im Alltag wird er mehr oder weniger synonym mit dem Begriff "schön" verwendet.

Die philosophische Verwendung ist etwas anders. Ursprünglich kommt der Begriff "Ästhetik" vom altgriechischen aisthētos, was "sinnlich, wahrnehmbar" bedeutet. Die Verwendung hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, die philosophische Ästhetik bezieht sich in der Regel auf die Kunst. "Philosophische Ästhetik' in einem weiten und vagen Sinne kann jede Form philosophischer Reflexion über das Schöne und die Kunst genannt werden." (Stefan Majetschak).

Wenn wir also den Begriff "ästhetisch" nicht einfach im alltäglichen Sinne mit schön oder ähnlichem übersetzen, ist der Begriff der Kunst immer mit im Spiel, das ästhetische Spiel z.B. wäre dann vielleicht so etwas wie das künstlerisch/schöne Spiel. Wobei der Begriff schön in der Kunst auch eine etwas andere Bedeutung hat als im Alltag. In der Kunst wird schön oft (aber nicht immer) als Synonym für gelungen verwendet.




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METASUBJEKT
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Mo 20. Mär 2023, 20:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 19:20
METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 14:06
Und wir haben zwei Arten von Empfindungen: Die analytischen, die uns wahrnehmen lassen, "was" wir empfinden. Und die ästhetischen, die uns erleben lassen, "wie" wir etwas empfinden.
Für mich ist in diesem Zitat nicht ganz klar, was du eigentlich mit ästhetisch meinst. Du unterscheidest zwischen dem Was und dem Wie. Wenn ich mir eine Nadel in den Finger steche, dann fühle ich etwas, also gibt es ein Wie. Das müsste also nach deiner Definition eine ästhetische Empfindung sein. Ist das richtig? Aber damit würden die ästhetischen Erfahrungen, die wir machen, in gewisser Weise nivelliert. Denn damit würde für mich eine wichtige Unterscheidung verloren gehen, nämlich die zwischen ästhetischen Erfahrungen und unseren Alltagserfahrungen. Sich mit einer Nadelspitze in den Finger zu stechen, wäre dann genauso eine ästhetische Erfahrung/Empfindung wie ein Gedicht zu lesen.
Wenn Du Dir in den Finger stichst, dann läßt Dich die analytische
Empfindung den Schmerz und den Ort des Schmerzes wahrnehmen.
Dass und an welcher Stelle Du den Schmerz empfindest, kannst Du
nicht mit deinen äusseren Sinnesorganen wahrnehmen.

Aber erst die ästhetische Empfindung macht daraus ein unangenehmes
Erlebnis. Es ist auch möglich, dass Du Schmerz als Lustgefühl erleben könntest.

Um erklären zu können, wie es möglich ist, dass man den gleichen Reiz
in unterschiedlichen Situationen und Zeiten unterschiedlich bis sogar gegensinnig
erleben kann, muß man "Was" und "wie" als Wahrnehmungen betrachten
die man aus getrennten Kanälen bezieht.

Jede Art von Stellungnahme, wie man etwas erlebt ist eine ästhetische
Empfindung. Die bloße Beschreibung dessen ist hingegen analytisch.

Die Fähigkeit zu ästhetischen Empfindungen ist eine evolutionbedingte
überlebenswichtige Einrichtung, die wir auch mit anderen Lebewesen teilen.

Sie bestimmen, was wir als Nahrung zu uns nehmen. Und behüten uns davor,
uns zu vergiften. Indem z.B. bitteres als unangenehm vermieden wird.
Oder fauliges einen Ekel erzeugt. Dass etwas "bitter" ist, ist eine analytische
wahrnehmung. Sie als unangenehm zu empfinden ist ästhetisch.
Sie bestimmen die Wahl des Geschlechtspartners, indem dessen Anwesenheit
und Erscheinung angenehme Gefühle erzeugt. Und sie bestimmen auch,
in welchem Lebensraum wir als Lebensfeindlich oder lebensfreundlich
empfinden.

Der Eindruck, eine Person sei einem überlegen und gefährlich, kann
Furcht bewirken. Furcht ist eine ästhetische Empfindung. So wie
Glück, Lust, Empörung, usw.

Ästhetik ist immer dann im Spiel, wenn die Frage beantwortet wird, wie wir
das erleben, was wir gerade erleben. Dazu zählt auch depressive Gefühle.

Die Frage: "Wie geht es Dir?" wird nicht damit beantwortet, welche Kleidung man
trägt, was man gerade tut, oder wo man sich gerade aufhält
sondern wie man sich fühlt.
Wenn man es korrekt beantworten will.




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Di 21. Mär 2023, 01:06

METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 12:41
@Timberlake

"Wie bei allem , so gibt es auch im Ästhetik zweierlei Wirkungen . Eine Wirkung , die anzieht und als solches positiv besetzt ist und eine Wirkung , die abstößt und als solches negativ besetzt ist..."

Volle Zustimmung.
Ihr Argument zeigt darauf, dass ein Kunstwerk ohne
ästhetische Wirkung wie Anziehung oder Abstoßung
wie ein neutral empfundener Gegenstand wirkt.
So wie ein Einkaufswagen im Supermarkt.
@METASUBJEKT

Wobei allerdings in diesem Zusammenhang zu bemerken sei , dass man sein Einkaufswagen im Supermarkt vorzugsweise mit positiv Gegenständen bestückt. Insofern künstlerische Intelligenz sicherlich gut beraten ist , sich um eben jene anziehende ästhetische Wirkung zu bemühen.

Weil vor kurzem hier andernorst erwähnt ...


  • "Die negativen Urteile, die es nicht bloß der logischen Form, sondern auch dem Inhalte nach sind, stehen bei der Wißbegierde der Menschen in keiner sonderlichen Achtung; man sieht sie wohl gar als neidische Feinde unseres unablässig zur Erweiterung strebenden Erkenntnistriebes an, und es bedarf beinahe einer Apologie, um ihnen nur Duldung, und noch mehr, um ihnen Gunst und Hochschätzung zu verschaffen"
    Kant ... Kritik der reinen Vernunft


.. zur Bestätigung dessen würde auch sehr schön passen, was Kant hier zu den "negativen" Urteilen ausgeführt hat.

METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 20:32

Die Fähigkeit zu ästhetischen Empfindungen ist eine evolutionbedingte
überlebenswichtige Einrichtung, die wir auch mit anderen Lebewesen teilen.

Sie bestimmen, was wir als Nahrung zu uns nehmen. Und behüten uns davor,
uns zu vergiften. Indem z.B. bitteres als unangenehm vermieden wird.
Oder fauliges einen Ekel erzeugt. Dass etwas "bitter" ist, ist eine analytische
wahrnehmung. Sie als unangenehm zu empfinden ist ästhetisch.
Sie bestimmen die Wahl des Geschlechtspartners, indem dessen Anwesenheit
und Erscheinung angenehme Gefühle erzeugt. Und sie bestimmen auch,
in welchem Lebensraum wir als Lebensfeindlich oder lebensfreundlich
empfinden.
Gut möglich , dass die Ablehnung von negativen Urteilen gleichfalls auf diese Fähigkeit zu ästhetischen Empfindungen und damit auf eine evolutionbedingte
überlebenswichtige Einrichtung zurück zu führen ist.

  • Es ist aber wohl zu merken: daß ich in diesem zweiten Hauptteile der transzendentalen Kritik die Disziplin der reinen Vernunft nicht auf den Inhalt, sondern bloß auf die Methode der Erkenntnis aus reiner Vernunft richte. Das erstere ist schon in der Elementarlehre geschehen. Es hat aber der Vernunftgebrauch so viel Ähnliches, auf welchen Gegenstand er auch angewandt werden mag, und ist doch, so fern er transzendental sein soll, zugleich von allem anderen so wesentlich unterschieden, daß, ohne die warnende Negativlehre einer besonders darauf gestellten Disziplin, die Irrtümer nicht zu verhüten sind, die aus einer unschicklichen Befolgung solcher Methoden, die zwar sonst der Vernunft, aber nur nicht hier anpassen, notwendig entspringen müssen.
    Kant ... Kritik der reinen Vernunft
In dem .. so Kant .. ohne die warnende Negativlehre Irrtümer nicht zu verhüten sind , so wäre die Fähigkeit zu ästhetischen Empfindungen allerdings das ganze Gegenteil einer evolutionbedingten überlebenswichtige Einrichtung. ( Stichwort: Bittere Pille schlucken ) Vielleicht sollte sich ja auch die künstlerische Intelligenz , gleichsam der Vernunft , icht auf nicht auf den Inhalt, sondern bloß auf die Methode ( der Erkenntnis ) richten und uns auf diese Weise die bittere Pille quasi schmackhaft machen.( Beispiel: Guernica .. Picasso )




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METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 20:32
Die Fähigkeit zu ästhetischen Empfindungen ist eine evolutionbedingte überlebenswichtige Einrichtung, die wir auch mit anderen Lebewesen teilen.
Ich tue mich schwer mit dieser Verwendung des Begriffs "ästhetisch", aber was soll's. Hier in diesem Thread kann das leicht zu Verwirrung führen, weil das Thema ein anderes ist. Hier geht es, wenn es um Ästhetik geht, immer primär um Kunst.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Mär 2023, 09:08
METASUBJEKT hat geschrieben :
Mo 20. Mär 2023, 20:32
Die Fähigkeit zu ästhetischen Empfindungen ist eine evolutionbedingte überlebenswichtige Einrichtung, die wir auch mit anderen Lebewesen teilen.
Ich tue mich schwer mit dieser Verwendung des Begriffs "ästhetisch", aber was soll's. Hier in diesem Thread kann das leicht zu Verwirrung führen, weil das Thema ein anderes ist. Hier geht es, wenn es um Ästhetik geht, immer primär um Kunst.
Sorry, Du hast Recht, sonst landen wir irgendwann bei Darwin.




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Di 21. Mär 2023, 10:53

Ich hab diesen Aspekt mal ausgelagert: viewtopic.php?p=64038#p64038




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Di 21. Mär 2023, 10:55

Frage, ob Interesse besteht:

ChatGPT & Co sind zur Zeit der "heisseste Scheiss" in den Medien.
Würde ein extra Thread dazu akzeptiert werden?
Aber nicht hinsichtlich der technischen Details.
Und auch nicht die kritische Einordnung ins "Große Ganze".
Sondern nur um Erfahrungen und Beobachtungen von Anwendern zusammen zu tragen
und auch Anwendertips auszutauschen.
Ich habe schon damit rumgespielt und weiß noch nicht, ob ich erschrocken, fasziniert oder inspririert sein sollte.
Titel:
"Künstliche Intelligenz": Als Assistenzsysteme und verlängerte Werkbank der Kognition.




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Di 21. Mär 2023, 11:01

Es gibt hier einen Faden zu dem Themenfeld: viewtopic.php?f=56&t=1235&p=63817#p63817




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