"sehendes Sehen"

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Jörn Budesheim
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Di 26. Sep 2017, 13:44

Wojtek Skowron hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:05
Privatansichten
Friederike hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 13:05
"So ist es also, wenn man sieht". [...] Man müßte zwei unterschiedliche Wörter dafür haben.
Hat man :-) Die Theoretiker sprechen vom "wiedererkennenden Sehen" und vom "sehendes Sehen". Das erste rastet sozusagen immer gleich in das schon Gesehene, das Bekannte ein Das andere ist demgegenüber eine Art "Neusehen" - dabei oft auch ein Sehen, was das Sehen selbst mit thematisiert.




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Friederike
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Mi 27. Sep 2017, 14:32

In seinen "Privatansichten" (nebenan im "Mary"-Thread) war ich an diesem Satz von Wojtek hängengeblieben: "Um zu sehen muss man mit dem Universum uneins sein". Mir kommt der schreckliche Verdacht, daß die Tiefe, die Genauigkeit und die Vielfältigkeit des Sehenkönnens und die Entzweiung mit dem Universum einander ungefähr korrespondieren. Wenn man eins mit der Welt ist, das ist plausibel, dann gibt es niemanden, der sehen -im Sinne von "beobachten"- könnte. Wenn mir nun mein Sehen in Anbetracht der Fotos von Wojtek wie blind vorkommt, dann meine ich damit, daß ich gerade so viel von der Welt sehe, damit es genügt, um mich orientieren zu können. Grobe Umrisse, diffuse Farben, Oberflächenmuster. Allerdings, es setzt bereits ein Uneinssein mit der Welt voraus. Eine Grenze zwischen "ich" und "Welt" ist gezogen. Wenn ich jetzt anhand und aufgrund von Fotos feststelle, daß man detaillierter, intensiver, tiefer, schärfer "sehen" kann, dann scheint es mir ebenso plausibel, daß jeder Stufe des Vermögens sehen zu können einer Stufe des Entzweiens entsprechen muß ... vorsichtiger "müßte", weil es nichts weiter als eine Vemutung unter Zuhilfenahme meiner Vorstellungskraft ist.

Übrigens kreuzen sich diese Überlegungen auch mit einigen oder sogar vielen der Äußerungen im "Natur"-Thread. @Jörn, Du hattest Goethe zitiert: "eins mit der Natur". Das würde, wenn man es buchstäblich nimmt, zumindest "sehend eins zu sein" gar nicht möglich sein.




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Jörn Budesheim
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Mi 27. Sep 2017, 15:38

Wojtek hat geschrieben : Um zu sehen muss man mit dem Universum uneins sein.
Friederike hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2017, 14:32
... plausibel, daß jeder Stufe des Vermögens sehen zu können einer Stufe des Entzweiens entsprechen muß.
Goethe hat geschrieben : Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken.




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Jörn Budesheim
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Mi 27. Sep 2017, 16:17

Friederike hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2017, 14:32
@Jörn, Du hattest Goethe zitiert: "eins mit der Natur". Das würde, wenn man es buchstäblich nimmt, zumindest "sehend eins zu sein" gar nicht möglich sein.
Das war bloß www.goethe.de :-) Hier >> https://www.goethe.de/de/uun/akt/21066025.html




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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 22:33

Friederike hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2017, 14:32
In seinen "Privatansichten" (nebenan im "Mary"-Thread) war ich an diesem Satz von Wojtek hängengeblieben: "Um zu sehen muss man mit dem Universum uneins sein". Mir kommt der schreckliche Verdacht, daß die Tiefe, die Genauigkeit und die Vielfältigkeit des Sehenkönnens und die Entzweiung mit dem Universum einander ungefähr korrespondieren. Wenn man eins mit der Welt ist, das ist plausibel, dann gibt es niemanden, der sehen -im Sinne von "beobachten"- könnte. Wenn mir nun mein Sehen in Anbetracht der Fotos von Wojtek wie blind vorkommt, dann meine ich damit, daß ich gerade so viel von der Welt sehe, damit es genügt, um mich orientieren zu können. Grobe Umrisse, diffuse Farben, Oberflächenmuster. Allerdings, es setzt bereits ein Uneinssein mit der Welt voraus. Eine Grenze zwischen "ich" und "Welt" ist gezogen. Wenn ich jetzt anhand und aufgrund von Fotos feststelle, daß man detaillierter, intensiver, tiefer, schärfer "sehen" kann, dann scheint es mir ebenso plausibel, daß jeder Stufe des Vermögens sehen zu können einer Stufe des Entzweiens entsprechen muß ... vorsichtiger "müßte", weil es nichts weiter als eine Vemutung unter Zuhilfenahme meiner Vorstellungskraft ist.
Die Frage ist ja, wie ein solches Uneinssein mit der Welt überhaupt möglich ist. Bei Slavoj Žižek gibt es den Gedanken, dass die Entzweiung von Bewusstsein und Welt möglich ist, weil Entzweiung schon in der Welt selbst gegeben ist. Žižek geht sogar so weit, zu sagen, dass diese Entzweiung nicht nur eine Voraussetzung für ein Bewusstsein der Welt ist, sondern gleichzeitig eine Voraussetzung der Welt selbst: Eine materielle Welt gibt es nur, wenn es in der Materie bereits Diversität, Uneinigkeit, Entzweiung gibt.



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Alethos
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Di 3. Okt 2017, 22:46

Tarvoc hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 22:33
Die Frage ist ja, wie ein solches Uneinssein mit der Welt überhaupt möglich ist. Bei Slavoj Žižek gibt es den Gedanken, dass die Entzweiung von Bewusstsein und Welt möglich ist, weil Entzweiung schon in der Welt selbst gegeben ist. Žižek geht sogar so weit, zu sagen, dass diese Entzweiung nicht nur eine Voraussetzung für ein Bewusstsein der Welt ist, sondern gleichzeitig eine Voraussetzung der Welt selbst: Eine materielle Welt gibt es nur, wenn es in der Materie bereits Diversität, Uneinigkeit, Entzweiung gibt.
Dieses Konzept ist interessant und bereits über 2500 Jahre alt: Schon Empedokles
meinte, dass die ἀρχή der Widerstreit von Liebe und Streit sei. Alles füge sich und trenne sich in Wogen und diese Spannung erzeuge alles, was der Fall sei :)



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Tarvoc
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Di 3. Okt 2017, 22:54

Danke für den Hinweis. Ich werd' mir das mal anschauen.

Man kann womöglich auch ähnliche Denkfiguren bei Laozi ausmachen (auf den Žižek allerdings nicht gut zu sprechen ist). Vielleicht auch bei Heraklit. Also ja, dieser Gedanke ist nicht ganz neu.



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