Liegt Schönheit im Auge des Betrachters?

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Fr 21. Jul 2017, 13:15

IMPULSBEITRAG
Angst vor der Schönheit
(von Jörn Budesheim)

Ende 2016 habe ich im Rahmen einer Vortragsreihe (mit dem Titel "Die Dimension des Ästhetischen") einen kleinen Text verfasst, den ich hier zur Diskussion stellen möchte.

Der Vortrag dauerte ca. 45 Minuten und besteht aus wenigen Schritten. Es geht um die Frage, ob Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Das ist heute sicherlich der Mainstream. Oder sind die Dinge selbst schön, wie man über Jahrtausende glaubte und wie es unsere Erfahrungen nahelegen. Die vermeintliche Binsenweisheit “Schönheit liegt im Auge des Betrachters” lässt sich auf zwei Arten und Weisen lesen, die zwar eng zusammenhängen, die ich aber getrennt betrachten möchte. (Teil 1 beschäftigt sich mit dem Naturalismus, Teil 2 mit dem Relativismus.)

Dominant geworden ist diese Ansicht zusammen mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften im 17./18. Jahrhundert. Der schottische Philosoph David Hume hat es 1757 so formuliert: „Schönheit ist keine Eigenschaft, die den Dingen an ihnen selbst zukommt; sie existiert lediglich im Geiste dessen, der die Dinge betrachtet.” Franz von Kutschera drückt das etwas technischer so aus: „Alle rein wertenden ästhetischen Aussagen lassen sich in solche über subjektive Präferenzen übersetzen". Der Subjektivismus ist also eine naturalistische Position." Die naturalistische/materialistische Einstellung besagt, dass wir von nichts anderem als inneren Einstellungen sprechen, wenn wir von Schönheit sprechen und keineswegs von schönen Dingen.

Ich werde am Beispiel der Farben zeigen, mit welchen Problemen diese Weltanschauung belastet ist. (Teil 1)

Die Farben stehen dafür nur beispielhaft, aber sie eignen sich natürlich hervorragend - wir erinnern uns, Ästhetik stammt von aisthesis, was so viel wie Wahrnehmung heißt. Ziel ist, den Naturalismus abzuschütteln und zu einem Begriff der Welt zu kommen, der bunt und vielfältig ist.

Die nächsten Schritte (Teil 2) widmen sich den Relativismus. Findet nicht jeder Mensch etwas anders schön? Ist es nicht so, dass alle Kulturen und alle Zeiten anderes schön gefunden haben? Zeigt das nicht, dass Schönheit “subjektiv” bzw. “kuturrelativ” ist? Entgegen diesem gängigen Vorurteil, legen sehr viele Untersuchungen nahe, dass unsere Schönheitsempfindungen universeller sind als wir glauben oder zu glauben bereit sind.

Der Naturalismus besagt schlicht und ergreifend, dass es die Dimension des Ästhetischen in einem strengen Sinn gar nicht gibt. Was es laut dieser Sicht gibt, sind individuelle Präferenzen im Kopf jedes Einzelnen. Und jede Aussage über Schönheit lässt sich verlustfrei in eine Aussage über ebenjene individuelle Präferenzen übersetzen. Und diese lässt sich dann auf Hirnzustände oder dergleichen mehr zurück führen.

Schönheit ist dann wortwörtlich ein Hirngespinst.

Die Gegenposition, die ich vertreten werde, heißt dann einfach: Nicht alle wertenden ästhetischen Aussagen lassen sich in Aussagen über individuelle Präferenzen übersetzen. Unsere Vorlieben sollen uns natürlich nicht genommen werden. Doch mit den Vorlieben ist nicht das letzte Wort in der Ästhetik gesprochen. Schön sind nach meiner Einschätzung die Kunst und die Natur selbst.

Nochmal: Ich zweifle nicht an, dass jeder von uns einen individuellen Geschmack hat und dass dieser auch von großer Bedeutung ist. Das soll natürlich keinem genommen werden. Ich sage nur, dass nicht alle wertenden Urteile über Ästhetik sich "rückstandslos" in Aussagen über persönlichen Geschmack übersetzen lassen.

Schönheit?

Der Begriff der Schönheit ist verwoben mit vielen anderen Begriffen, teilweise mit Begriffen die sich sogar ausschließen. Er grenzt an den Begriff des Hübschen, überlappt sich mit dem Begriff des Interessanten, hängt zusammen mit dem Begriff des Erhabenen und kann auch Überlappungen mit dem Begriff des Kitsches aufweisen ...

Da es in der Kunst natürlich nicht nur um Schönheit geht, möchte ich den Begriff “Schönheit” hier sehr großzügig verstehen, gemeint ist “das gelungene Werk” in einem weiten Sinn. Ziel meines kleinen Vortrages ist nicht, den Begriff Schönheit zu präzisieren. Ziel ist, den weltanschaulichen Hintergrund zu klären, der dazu führt, zu glauben Schönheit sei grundsätzlich und ausschließlich “bloß” etwas Inneres.

Eng damit zusammen hängt natürlich der Relativismus: Er besagt, dass das Schöne grundsätzlich subjekt-, kultur-, etc.-abhängig ist. (Logisch - wenn Schönheit bloß im Kopf ist, dann fehlt ja das äußere Korrektiv.) In diesem zweiten und kürzeren Teil will ich einige empirische Befunde vorlegen, die die Ansicht, dass alle etwas anderes schön finden, zumindest in frage stellen. Befunde, die den Relativismus etwas relativieren.




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Fr 21. Jul 2017, 13:17

Naturalismus? (Teil 1)

Was heißt also Naturalismus? Der Philosoph Markus Gabriel definiert Naturalismus in seinem Bestseller “Warum es die Welt nicht gibt” so: “Naturalismus ist die Behauptung, dass es nur die Natur gibt und dass diese identisch mit dem Universum, dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften ist.“ Bei dem Philosophen Julian Nida Rümelin findet sich etwas ähnliches: “[Naturalismus ist die] Auffassung, dass alle Ereignisse im Prinzip naturwissenschaftlich erklärt werden können.” Mit anderen Worten, die Naturwissenschaften haben bei der Frage, was es tatsächlich gibt, das letzte Wort.

Metaphysik

In gewisser Hinsicht entscheidend für die Frage nach der Schönheit ist die Frage “Was gibt es?” Wenn es nur die Dinge gibt, von denen die Naturwissenschaften zu berichten haben, dann entpuppen sich alle Fragen um die Verbindlichkeit von Werten (ethischen wie ästhetischen) als veritable Hirngespinste. Dieter Sturma sagt daher in einem Aufsatz über die Objektivität von Werten sinngemäß: Letztlich geht es also um die Frage, wer sich besser darin auskennt, was es gibt.

Was gibt es? Das ist eine der Grundfragen der Metaphysik. Die Naturwissenschaftler gehen dieser Frage nach, indem sie (zum Beispiel) milliardenschwere Forschungsprogramme aufsetzen und mit hilfe von Teilchenbeschleunigern nach den letzten Elementen der Natur suchen. Zum Beispiel den sogenannten Gottesteilchen, den Higgs-Bosonen. Das ist ohne Frage sehr faszinierend und meiner Ansicht nach auf keinen Fall zu kritisieren. (Kritisch wird es erst, wenn man diese Perspektive zur allein seligmachenden verklärt.)

Künstler und Philosophen kommen in der Regel mit deutlich kostengünstigeren Versuchsanordnungen aus. Ich will dazu an Mathias Behrens erinnern, der sich bei seinem Vortrag vor uns stellte, mit Nachdruck die Füße auf den Boden der Tatsachen stellte und damit die Evidenz der eigenen Existenz demonstrierte. Viel preiswerter kann ein metaphysischer Selbstversuch nicht sein - und zudem für jeden leicht nachvollziehbar.

Für uns genügt es im Moment, die Augen zu öffnen. Denn wir werden gleich feststellen, dass das Sinnliche (und keineswegs das Übersinnliche) eine der größten Herausforderungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes ist.




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Fr 21. Jul 2017, 13:19

Farben

Wenden wir uns also den Farben zu. Am Anfang seines Vortrages in dieser Vortragsreihe “Kunst und Wissenschaft” erwähnte einer der anderen Redner den Blick in den Himmel. Ist er blau? Ist er wirklich blau?

Ich möchte diese Spur ein wenig verfolgen … Wir erinnern uns: der Titel der Vortragsreihe lautet “Die Dimension des Ästhetischen” Ästhetik stammt, wie Michael Evers schon erläutert hat von dem altgriechisch aísthēsis „Wahrnehmung“, „Empfindung“

Farben nehme ich im Folgenden als Statthalter des Sinnlichen, als Pars pro toto. Alles was man über die Farben sagt, könnte man in ähnlicher Weise über Gerüche, Töne, Geschmäcke, Taktiles, usw, ebenso sagen. Und ich werde geltend machen, dass für die Schönheit vergleichbares gilt. Farben sind uns einerseits das Nächste, denn wer könnte daran zweifeln, dass er das Blau des Himmels sieht. Doch andererseits scheinen sie ein seltsame ätherische Existenz zu fristen …

Der Veranstalter der Vortragsreihe erwähnte in seiner Einleitung, dass sie als das “untergeordnete Erkenntnisvermögen” galten und gelten. Aber im Grunde ist es noch viel schlimmer … Dazu möchte ich den Philosophen und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger und den Hirnforscher, Psychologen und Philosophen Manfred Spitzer zu Wort kommen lassen. Aus einem kurzen Radiofeature habe ich folgenden Ausschnitt entnommen >

“Der Himmel ist garantiert nicht blau!

Das weiß ja jeder - auch unsere Zuhörer - dass es keine Farben in der Welt gibt, sondern nur Wellenlängenmischungen …” (Metzinger)

Der Himmel ist nicht nur nicht blau - es ist garantiert nicht blau. Denn: Farben gibt es in der Welt gar nicht! Aber nicht nur Farben stehen zur Disposition, im nächsten Satz meldet sich der Kollege Manfred Spitzer mit skeptischem Unterton:

“Dann gibt es nur Frequenzen, aber die gibts natürlich auch nicht, dann gibt es nur Materie und Energie - und das sind letztlich nur Quarks - was gibt es dann? Quarks gibt es dann, 12 verschiedene Sorten.”

Das nennt man manchmal Mikro-Fundamentalismus und der deutsche Philosoph Gabriel hat es spöttisch Legozentrismus getauft, weil es uns dazu animiert, uns die Welt wie aus kleinsten Legosteinen zusammengesetzt vorzustellen.

Farben?

Farben gibt es also (angeblich) gar nicht. Der zeitgenössische Naturalismus hat hier keine besonders großen Fortschritt gegenüber antiken Positionen gemacht. Bereits vor zweieinhalb tausend Jahren meinte der griechische Philosoph Demokrit: Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum. Heute weiß man zwar, dass Atome noch nicht die Grenze nach unten darstellen, aber in Bezug auf die Farben ist man anscheinend noch nicht viel weiter als die Kollegen in Athen.

Das Problem ist: Verbannt man die Farben in den Bereich des Scheins, dann wird man sie dadurch ja nicht los. Wohin also mit den Farben? Metzinger fragt sich das in dem kurzen Radiofeature auch >

[Wenn Bläue oder Röte] keine Eigenschaften von physikalischen Dingen in der Außenwelt sind - und auch keine Eigenschaften von Hirnzuständen, dann muss man sich natürlich fragen: Was ist denn hier eigentlich blau? Vielleicht ist die Bläue ja gar nicht in der Welt drin?

Wow! > Vielleicht ist die Bläue ja gar nicht in der Welt drin?

Was heißt es, dass “Bläue” keine Eigenschaft von Hirnzuständen ist? Schaut man mit hilfe von Neuroscanner ins Gehirn, entdeckt man allerlei biochemische Vorgänge - aber natürlich keine “Bläue”. “Bläue” ist das, was wir erleben. Es ist - wie die Philosophen sich ausdrücken - nur aus der Perspektive der ersten Person zu erleben. Das, was die Scanner zeigen, entspricht in dieser Terminologie dem Blickwinkel der dritten Person.

“Der Ansatz der Naturwissenschaften ist, dass ich zähle und messe und das blau weglasse.” (Spitzer) An diesen Blickwinkel sind die Naturwissenschaften gebunden … und das ist im Grunde bis zu einem gewissen Grad auch gut so, solange man diese Perspektive nicht absolut setzt.




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Fr 21. Jul 2017, 13:22

Objektivität

Warum ist das gut und richtig? Dazu ein ganz simples Beispiel: Bekanntlich haben wir über lange Zeiten geglaubt, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Diese Vorstellung ist jedoch allein unserer Perspektive geschuldet und wie wir heute wissen, ist das natürlich falsch.

Wie also kommt man stattdessen zu einem objektiven Weltbild? Markus Gabriel erläutert diese bekannte Verfahrensweise in einem Vortrag über den modernen Nihilismus so:

“Man fragt sich, unter welchen Bedingungen können wir denn erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Da sagt man: Naja, eine scheinbar vernünftige Bedingung scheint die folgende zu sein: Ziehen Sie alle ihre möglichen Irrtumsquellen ab, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie erkennen, wie die Dinge an sich selbst sind, höher.” “Also streichen wir die perspektivischen Bedingungen, diese ganzen “Zugänglichkeiten” heraus und stellen auf “maximale Objektivität”. Das nennt man dann Wissenschaft oder das naturwissenschaftliche Weltbild. Und damit haben wir den hinreichenden Begriff von Objektivität.
Und nun haben wir das folgende geleistet: Der Mensch und alle seine Sinnanstrengungen sind aus dem Bild verschwunden.”

Der Mensch verschwindet

“Und nun haben wir das folgende geleistet: Der Mensch und alle seine Sinnanstrengungen sind aus dem Bild verschwunden.” “Mit anderen Worten: wir haben uns ein Bild gezimmert, indem wir nicht mehr vorkommen.” Das nennt Markus Gabriel > Die Welt ohne Zuschauer. Und das bestimmt bis heute noch unsere Vorstellung, was wissenschaftliche Objektivität ist. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Bild Ansichten über Schönheit nicht mehr objektiv sein können.
Wie soll auch die naturwissenschaftlichen Weltanschauung, die nicht einmal Platz für Farben hat, der angemessene Hintergrund sein, um über das Schöne nachzudenken?

Der Mensch und alle seine Sinnanstrengungen sind nun aus dem Bild verschwunden. Aber wohin dann mit den Farben? Wohin mit der Schönheit - sie passen in diesem Bild nur in den Kopf und lösen sich letztlich in Hirnfunktionen auf. Auf diese Weise lassen sich sich gewissermaßen domestizieren.




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Fr 21. Jul 2017, 13:23

Ist das das letzte Wort? Das Problem der Farben, der Farbwahrnehmungen hat viele Philosophen beschäftigt. Dazu gibt es sehr viele sogenannte Gedankenexperimente - mit denkenden Mühlen, lebenden Zombies und schwarzweißen Zimmern.

Was Mary (nicht) wusste

In diesem Beispiel zeigt der Philosoph Frank Jackson mit einem sehr einfachen, sehr kostengünstigen und sehr populären Gedankenexperiment, welche Probleme Farben dem Naturalisten bereiten.

Hier ist das Gedankenexperiment vereinfacht in Kurzfassung: Die große Farbenforscherin Mary wurde (aus irgendwelchen x-beliebigen Gründen) in einem schwarzweißen Raum geboren und großgezogen. Sie ist eine begabte Physikerin und lernt alles Physikalische, was es über das menschliche Gehirn in Bezug auf Farben zu wissen gibt.

Sie könnte zum Beispiel das Gehirn von mir oder sonst jemandem “scannen” und mit Hilfe der so gewonnenen Daten erkennen, dass ich gerade etwas rotes sehe, also ein “Roterlebnis” habe. Sie kennt jedes physikalische Detail der Farbwahrnehmung und irrt sich dabei nie. Nach Ansicht des Naturalisten weiß sie alles, was man über Farben wissen kann. Aber es ist offensichtlich, dass das nicht die ganze Wahrheit sein kann. Ihr Wissen ist unvollständig. Da sie in der besagten schwarzweißen Umgebung lebt, und selbst nie etwas rotes, gelbes, blaues gesehen hat, weiß sie nicht wirklich, was es bedeutet, Farben zu sehen. Eines Tages wird sie in die farbige Außenwelt entlassen (und zwar um des Vortrages willen) in ein Kunstmuseum. Sie tritt vor ein Bild von Yves Klein. Nun macht sie eine Erfahrung von der sie - trotz all ihrem Wissen über die physikalische Welt - zuvor nicht die geringste Ahnung hatte. Sie erlebt, wie es ist blau zu sehen. Sie erlebt, wie es ist ein Kunstwerk von Yves Klein zu sehen. So viel die Naturwissenschaften auch über die Welt wissen können, diese Perspektive - die Perspektive des “wie es ist” verfehlen sie. Mit anderen Worten: hier klafft eine Lücke, eine Wissenslücke.

Subjekt sein

In einem Aufsatz über Thomas Nagel, der nicht müde wird, diesen Punkt wieder und wieder stark zu machen, schreibt Markus Gabriel “Subjekt sein bleibt unvertretbar real.” Das ist eine der Lehren, die man aus diesem und anderen Gedankenexperimenten zu sollte.

Dazu noch ein weiterer, ähnlicher Aspekt: Im Museum Fridericianum in Kassel hat die Kasseler Philosophin Zhuofei Wang vor kurzem einen Vortrag gehalten über “Ökologische Ästhetik und das Konzept der Leiblichkeit.” Die Dimension der Leiblichkeit ist eng verwandt mit dem, worum es mir hier geht. Der Leib ist nicht dasselbe wie der Körper. Er ist nicht einfach das, was die Biologie untersucht. Der Leib ist immer der erlebte Leib, er ist an die Perspektive der ersten Person gebunden. Diese Erlebnisperspektive, diese eingebundene Perspektive bleibt dem naturwissenschaftlichen Blick von außen notwendig verborgen.

Subjekt sein ist unvertretbar real. Aber es erschöpft sich keineswegs in der “Ich-Perspektive”. Bewusstsein ist immer auch auf andere Bewusstseine bezogen und durch andere Bewusstseine konstituiert. Das gilt in vielerlei Hinsicht: für die Gefühle ebenso wie für die Vernunft und Fragen der gegenseitigen Anerkennung.

All das ist wie es Gabriel formuliert unvertretbar real. Es ist genauso real wie der physikalische Raum. Aber dieser phänomenale Raum, der Erlebensraum zeigt sich uns nur in der Teilnehmerperspektive und er ist nicht wesentlich kausal geordnet, es ist ein Bedeutungs- und Sinnraum. Von jenseits des Spielfeldes (aus der losgelösten Perspektive der dritten Person, sozusagen mit dem Scanner betrachtet) ist er nicht als er selbst zu erkennen, weil er eben unverbrüchlich an die Ich-, Du- und Wir-Perspektive gebunden ist.

Wer von einer eigenen Schönheitserfahrung glaubt, sie entstünde in seinem Auge, der steigt gewissermaßen aus diesem Lebens-Raum - der Lebenswelt wie man sagt - aus und betrachtet sich selbst “von der Seite” mit den Augen des Naturalisten.




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Fr 21. Jul 2017, 13:25

Weitere Probleme des Naturalismus

Farben sind also nicht das einzige Problem des Naturalismus. Dazu eine weitere Stimme, ein weiterer Zeuge: Julian Nida-Rümelin. Nida-Rümelin ist nicht nur Philosoph, er ist auch Physiker, war Kulturstaatsminister und ist der Sohn des Bildhauers Rolf Nida-Rümelin, der mir allerdings bis zur Vorbereitung auf diesen kleinen Vortrag unbekannt war. Diese Skulptur ist von ihm.

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch “Humanistische Reflexionen”, in dem er den Naturalismus streng zurückweist: “Intentionen, Qualia und Inferenzen, menschliches Handeln [...] und die objektiven logischen Relationen sprechen gegen die Plausibilität des zeitgenössischen physikalischen Naturalismus.”

Er legt damit eine weiter kleine Aufzählung von Aspekten der Welt vor, die nicht in das Universum des Naturalismus passen. Ich will kurz erläutern, worum es im Einzelnen geht:

Unter Intentionen (oder Intentionalität) versteht man in der Philosophie nicht nur unsere Absichten, sondern insbesondere die erstaunliche Tatsache, dass die Sätze, die wir äußern oder die Kunstwerke, die wir machen, manchmal von etwas handeln. Qualia ist der Fachterminus dafür, dass unsere Wahrnehmungen und unsere Gefühle sich irgendwie “anfühlen”. Ein Punkt, der sich besonders hartnäckig der “Naturalisierung” widersetzt.

Der Philosoph David Chalmers nennt dieses Problem daher das harte Problem. In “Bild der Wissenschaft” erklärt, was er damit meint: Zu den leichten Problemen der Bewußtseinsforschung zähle ich die Fragen: Wie unterscheidet das Gehirn Information, die es aus der Umgebung erhält? Wie wird diese Information verarbeitet und so integriert, daß das Gehirn Verhalten steuern kann? [...] Doch was ich als hartes Problem bezeichne, läßt sich damit nicht erklären: Warum gehen diese Bewußtseinsfunktionen mit einem subjektiven Innenleben einher? Warum funktioniert das Gehirn nicht auch ohne diese Empfindungen und Gefühle?

Warum sind wir also keine Bio-Maschinen? Das Leben des Naturalisten wäre um so vieles einfacher, wenn wir das wären.

Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben

Hier noch eine weitere Problem-Liste, die ich (stark modifiziert) einem Aufsatz von Nida-Rümelin entnommen habe.

Der zeitgenössische physikalistische Naturalismus ist reduktionistisch: Alles lässt sich (im Prinzip) physikalisch erklären. Chemie ist Physik, Botanik ist Physik, Zoologie ist Physik, Psychologie ist Physik, Logik ist Physik, Ethik ist Physik , Ästhetik ist Physik ...

Hier zeigt sich, dass der Reduktionismus des physikalistischen Naturalismus nicht ausschließlich die Bereiche “der humanen Lebensform” - also uns - umfasst, sondern auch die Gegenstandsbereiche anderer Wissenschaften.

Man kann diese Sicht auf folgende Gleichung bringen: Wissenschaft = Naturwissenschaft = Physik und der Rest ist Aberglaube - das soll (so oder so ähnlich) der Evolutionsbiologe Richard Dawkins gesagt haben. Im Grunde läuft das auf den Imperativ des Naturalisten hinaus: Du sollst kein anderes Wissen von der Welt neben mir haben.

Dazu ein Beispiel, wieder aus Kassel, wieder aus dem Fridericianum - Bei dem Symposium: nature after nature erläutert Cord Riechelmann, einer der Redner, im Anschluss an den Vortrag von Gabriel, dass er im Biologie-Studium zunächst einmal “lernte”, dass Biologie nicht wirklich eine harte Naturwissenschaft ist, das gilt nur für die Physik. Sowohl Riechelmann als auch Gabriel waren sich im übrigen völlig einig, dass Naturalismus - ich zitiere nur - eine dumme Form von Ideologie und Religion ist.




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Fr 21. Jul 2017, 13:26

Es bunt treiben

Was tun? Die Versuche, all die verschiedenen Bereiche auf einen grundlegenden Bereich (das Physikalische) zu reduzieren sind nach Ansicht vieler Philosophen gescheitert. Daher sollte man den Naturalismus verabschieden. Das schafft Platz für eine Weltsicht, die bunt und vielfältig ist. Alle Bereiche, die der Naturalist vergebens auf das Physikalische reduzieren will, sollten wieder als verschiedene Gegenstandsbereiche eigenen Rechts anerkannt werden.




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Fr 21. Jul 2017, 13:29

Realismus und Pluralismus

Das ist das Programm des “neue Realismus”: “[der “neue Realismus”] ist die doppelte These, dass wir erstens Dinge und Tatsachen an sich erkennen können, und dass zweitens Dinge und Tatsachen an sich nicht einem einzigen Gegenstandsbereich angehören.” (Markus Gabriel)

Wir erinnern uns, wie es zur naturalistischen Sicht kam: Bei dem Versuch, die Welt zu erkennen wie sie an sich ist, haben die Naturwissenschaften gleichsam auf maximale Objektivität gesetzt. Doch der Preis dafür war zu hoch. Noch mal Markus Gabriel: “Der Mensch und alle seine Sinnanstrengungen sind damit aus dem Bild verschwunden. Mit anderen Worten: wir haben uns ein Bild gezimmert, indem wir nicht mehr vorkommen.”

Wenn wir dieses Bild nicht akzeptieren (und die Argumente sprechen dafür) können und sollten wir eine Vielfalt tatsächlicher Bereiche annehmen. Auch die Dimension des Ästhetischen. Auf diese Weise können wir uns selbst wieder in das Bild der Welt einfügen. Ich will diesen Punkt noch einmal wiederholen:

Der Teil der Welt in dem wir selbst vorkommen

Wenn wir Dinge als schön empfinden und von der Schönheit sprechen, dann befinden wir uns in dem Teil der Welt, in dem wir selbst vorkommen. Wenn wir dem entgegen behaupten, Schönheit entstehe im Auge des Betrachters, dann versuchen wir diese Lebenswirklichkeit von außerhalb zu verstehen. Statt die eingebundene Perspektive gelten zu lassen, versuchen wir sie abzuschütteln und zu losgelösten Perspektiven kommen.
Weitere Zeugen

Ich will noch weitere Zeugen aufrufen ... Auch der amerikanische Philosoph John McDowell schlägt vor, Farben und Schönheit als Teil der objektiv erkennbaren Wirklichkeit zu betrachten. Ein Gegenstand der Erfahrung ist nach seinem Vorschlag dann “objektiv” wenn er dieser Erfahrung offensteht, im Unterschied etwa zu einer subjektiven Einbildung.

McDowell schlägt vor, dass “sich eine Erfahrung auf eine objektive Realität bezieht, wenn der Gegenstand unabhängig ist von dieser speziellen Erfahrung selbst” vorliegt. Wenn wir diesen Begriff der Objektivität akzeptieren, können wir auch Farben und Schönheit als objektive Beschaffenheiten der Gegenstände, an denen sie sich zeigen, verstehen.

Hier drei Zitate, verschiedener Philosophen, die auf das Gleiche aus sind:
  • “Dass die Welt manche ihrer Eigenschaften nur Lebewesen mit einer bestimmten sinnlichen und begrifflichen Ausstattung enthüllt, nicht jedoch anderen, steht nicht im Widerspruch zu der These, dass diese Eigenschaften den Dingen objektiv zukommen.” (David Lauer, Philosoph - über John McDowell)
  • Daß wir an gewissen Dingen ästhetisch Gefallen haben, liegt sicher auch an der Organisation unserer Wahrnehmung und unseres Gefühls. Das gilt aber ebenso für die Farbwahrnehmung. In beiden Fällen rechtfertigt das jedoch nicht die Behauptung, die fraglichen Eigenschaften kämen nicht den Dingen selbst zu. (Franz von Kutschera)
  • Der neue Realismus unterstellt, [dass es Wahrheiten gibt] die nur zugänglich sind, wenn gewisse Registraturen im Spiel sind. [...] Daraus folgt aber weder, dass diese Formen eine Art willkürlicher Halluzination [dass sie bloß im Kopf sind] sind oder dass sie irgendwie alle falsch sind. (Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt.)
Reiner Wein - objektiv

Zum Abschluss dieses Potpourris, ein kurzes Statement von Barry Smith, der sich der Philosophie des Weines widmet. Bis zur Vorbereitung auf diesen Vortrag war mir gar nicht bewusst, dass es so etwas überhaupt gibt. Dazu ein kurzer Ausschnitt aus einem Interview:

Frage: Wie können Sie tatsächlich richtig liegen in Bezug darauf, wie ein Wein schmeckt?

Barry Smith: Der Gedanke, dass wir nicht richtig [oder falsch] liegen können [dass also Geschmack im Gaumen des Trinkers liegt] und dass alles nur subjektiv ist, also in dem Sinne, dass etwas mir hier und jetzt nur so erscheint, ist falsch. Wir wissen doch alle, dass wir nicht den vollen Geschmack dieses edlen Cabernet Sauvignon [...] erfahren werden, wenn wir uns gerade die Zähne geputzt oder in eine Zitrone gebissen haben. Uns ist also bewusst, dass bestimmte Vorbedingungen erfüllt sein müssen, und natürlich auch hinsichtlich des Weins, damit man zu einem Ergebnis gelangt.

Das wäre schon einmal ein Anfang, um sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass es da nur meine Sinneswahrnehmung in diesem einen Moment gibt. [Wir sollten den Gedanken zulassen,] dass ein Geschmack etwas ist, das da draußen ist, etwas, was wir zu erreichen suchen, was wir nicht immer sofort auf der Zunge haben. Wir sollten daher nicht der Meinung sein, dass der Geschmack ausschließlich eine Sinneswahrnehmung ist, die in uns stattfindet.




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Fr 21. Jul 2017, 13:30

Relativierung des Relativismus (Teil 2)

Jetzt folgt der zweite Teil des Vortrages und die Frage nach dem Relativismus.

Die These, dass Schönheit allein im Auge des Betrachters liegt, ist wie gesagt durch zwei Vorstellungen motiviert. Im ersten Teil ging es um den Naturalismus und seine Probleme, nun soll es im zweiten Teil um die “augenscheinliche” Tatsache gehen, dass ein jeder was anderes schön findet.

Doch entgegen diesem gängigen Vorurteil, legen sehr viele Untersuchungen nahe, dass unsere Schönheits-Empfindungen universeller sind, als wir glauben. Zudem ist die Idee, Schönheit sei bloß subjektiv ziemlich jung, wie der Philosoph und Biologe Andreas Weber deutlich macht: “Lange Zeit, gewiss die meiste, seit es Menschen auf der Erde gibt, galt das Schöne als objektiver Bestandteil der Welt.” Man bedenke: Den Menschen gibt es seit ca. 400.000 Jahren. Die Idee, dass Schönheit allein im Auge des Betrachters liegt, ist demgegenüber erst seit wenigen hundert Jahren vorherrschend. Aufs Ganze gesehen ist das kaum mehr als ein Wimpernschlag …

Eine ganz kurze Geschichte der Schönheit

Der Philosoph Paul Liessmann fasst es in seinem Buch “Schönheit” so zusammen: “In der Geschichte des europäischen Denkens nimmt die Frage nach dem Schönen und die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Schönheit eine zentrale Rolle ein. Die moderne Ansicht, dass, Schönheit Ausdruck eines subjektiven Geschmacks sei, stand dabei allerdings nicht im Vordergrund, eher im Gegenteil.

Nach Auffassung des polnischen Ästhetikers Wladyslaw Tatarkiewz galt von der Antike bis zur Renaissance die von ihm so genannte „Große Theorie” des Schönen, die versuchte, die objektiven Kriterien zu bestimmen, die das Schöne konstituieren. Als diese galten Proportionalität, Harmonie und Symmetrie ...”

Erst im 18. Jahrhundert verlor die „Große Theorie" für viele Denker ihre Überzeugungskraft. Der schottische Philosoph David Hume hat dieser Wende 1757 (also vor kaum mehr als 250 Jahren) ihre klassische Formulierungen gegeben „Schönheit ist keine Eigenschaft, die den Dingen an ihnen selbst zukommt; sie existiert lediglich im Geiste dessen, der die Dinge betrachtet.” [Das geschieht natürlich mehr oder weniger Parallel zum Siegeszug der wissenschaftlichen Weltsicht.] (nach Paul Liessmann, Philosoph)




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Fr 21. Jul 2017, 13:33

Universelle Muster

Die Subjektivitätstheorie ist also sehr jung. Die Frage, ob Schönheit rein subjektiv ist, ob sie kulturell geprägt ist oder ob sie im Gegenteil “universell” ist, wurde natürlich auch empirisch erforscht.

Der Philosoph Wolfgang Welsch hat sich dieser Frage gewidmet und kommt zu folgendem Ergebnis:“Es gibt tatsächlich universale Muster des Schönheitsempfindens – ästhetische Präferenzen, die für Menschen in jeder Kultur gleichermaßen gelten. Alle Menschen schätzen Gegenstände, die diesen Mustern entsprechen, als schön ein.”

Drei Muster (nach Welsch)
  • Manche Landschaftstypen und manche Körpertypen
    • Man hat herausgefunden, dass alle Menschen savannenartige Landschaften schätzen – unabhängig davon, ob sie solche Landschaften aus ihrem Lebensraum kennen oder jemals durch Reisen kennengelernt haben. Die Einhelligkeit der Savannenpräferenz ist Kulturen- und Sozialschichtenübergreifend.
    • Was menschliche Körper angeht, so gelten ein betont symmetrischer Körperbau und Gesichtsschnitt als schön. Zudem werden makellose Haut und kräftiges, glänzendes Kopfhaar universell als schön eingestuft. Ferner gibt es Präferenzen, die Proportionen des Körperbaus betreffen. So hat eine Studie von Devendra Singh 1993 gezeigt, dass Männer weltweit bei Frauen eine Taille-Hüfte-Proportion von 7 : 10 als ideal ansehen.
  • Viele atemberaubend schöne Kunstwerke werden kulturübergreifend geschätzt. (Taj Mahal, Mona Lisa, Beethovens Neunte)
  • Formen “holistischer Selbstähnlichkeit”
Andere Untersuchungen ...

... kommen zu ähnlichen Ergebnissen, auch wenn so etwas natürlich nie unumstritten ist. Diese Befunde widerlegen zwar nicht die naturalistischen Sicht, das hatte andere Gründe, aber sie passen nicht gut zum damit verbundenen Relativismus.
  • Schön ist also für uns vermutlich was von mittlerer Komplexität und hoher Selbstähnlichkeit ist [...] Wir Menschen lieben Symmetrie, (Christoph Redies, Biologe)
  • [Es zeigt sich, dass die] Vorstellung, mit der ich noch aufgewachsen bin, also "Schönheit liegt im Auge des Betrachters", mittlerweile revidiert werden muss” (Karl Schawelka, Kunsthistoriker)
  • Schönheit liegt entgegen der allgemeinen Annahme nicht im Auge des Betrachters. Vielmehr sind die Kriterien für Schönheit [...] kulturunabhängig. Der wichtigste Bewertungsfaktor ist dabei die Symmetrie. (Ilka Lehnen-Beyel, Bild der Wissenschaft)
  • Auf der Ebene der ästhetischen Wahrnehmungen ist die Übereinstimmung nicht nur innerhalb eines Kulturkreises, sondern sogar weltweit sehr groß. Das wird durch Untersuchungen von Ethnologen, Psychologen und Biologen immer wieder bestätigt. (Dr. Christian Thies, Philosoph)




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Fr 21. Jul 2017, 13:34

Ein paar Argumente gegen den Relativismus

Neben diesen faktischen Übereinstimmungen im Schönheitsempfinden möchte ich noch kurz drei weitere Punkte andeuten, die gegen den Relativismus sprechen.

Diskurse: Wir reden und streiten über Kunst. Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich (Literarischen Quartett / Feuilleton, etc) Diese Praxis wäre ganz sinnlos, wenn man nicht voraussetzen würde, dass die Gründe pro und contra auch überzeugen können.

Doch solche Diskurse führen nicht immer zur Einigung. Stimmt. Aber aus der mangelnden Einigkeit folgt nicht die Relativität. Franz von Kutschera erläutert das an einem Beispiel: “Gibt es verschiedene Meinungen über das Bestehen eines Sachverhalts oder ändern sich die Meinungen darüber, so folgt daraus noch nicht, daß dieser Sachverhalt nicht objektiv wäre. Die Ansichten über die Entstehung der Erde haben sich in der Geschichte erheblich gewandelt und es gibt darüber auch heute verschiedene Theorien. Deswegen kann man aber nicht behaupten, es gäbe keine tatsächliche Entstehungsgeschichte der Erde.“

Wenn wir über zeitgenössische Kunst streiten, dann begeben wir uns gleichsam ins ästhetische Forschungslabor. Dann sollte man sich über Meinungsverschiedenheiten nicht wundern, sondern vermehrt damit rechnen. Das dürfte in den Naturwissenschaften kaum anders sein: Einen fröhlichen Relativismus kann man daraus aber nicht ableiten

Lernprozesse: Jeder Einzelne dürfte solche Prozesse schon durchgemacht haben, sowohl in Bezug auf die eigene Lebens- und Lerngeschichte als auch in Bezug auf Kunstwerke oder Kunstrichtungen. Läge Schönheit allein im Auge des Betrachters, dann wären solche Prozesse bloß zufällige Variationen, man würde mal dies mal das schätzen. Stattdessen beobachten wir eher gerichtete Prozesse, die sich als Lernprozesse verstehen lassen. (Eigenes Beispiel: Ensemble Modern)

Unterschied von “das gefällt mir” und “das ist schön”: Beispiel: Aktuelle Ausstellung von Imi Knoebel, Felix Droese und Blinky Palermo in der neuen Galerie > der ästhetischer Wert der Knoebel-Arbeiten leuchtet mir zwar "irgendwie" ein, ich mag sie aber trotzdem nicht. Das Recht hat natürlich jeder. Aber daraus, dass ich persönlich es nicht mag, folgere ich einfach nicht, dass es auch nix ist. Das sind halt Arbeiten, die mir nicht ganz zugänglich sind, davon geht die ästhetische Welt nicht unter.




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Fr 21. Jul 2017, 13:34

Am Ende

Was aber die Schönheit sei, daß weiß ich nit. (Albrecht Dürer)

Die Schönheit liegt nicht im Auge des Betrachters. Die Dimension des Ästhetischen steht der Erfahrung jedes Einzelnen offen und ist ebenso real wie die Legobausteine des Universums. Jeder Einzelne spielt in diesem Raum eine unvertretbare Rolle. Doch nicht alles, was es insbesondere in der Kunst zu erfahren gibt, erschließt sich unmittelbar. Kunst zu betrachten, ist oft selbst eine Form der Kunst, ein Geschäft der Freiheit. Freiheit heißt aber nicht Beliebigkeit. Wenn der Künstler scheitern kann, dann auch der Betrachter. Keiner von beiden ist von vornherein im Recht. Das hieße die Rechnung ohne den Wirt zu machen, ohne die Kunst selbst. Dass ein Werk oft seine eigenen Wege geht, weiß keiner besser als der Künstler. Diese Eigenständigkeit oder gar Widerständigkeit des Werkes - seine Wahrheit - sollte immer im Zentrum der Betrachtung stehen. Zwar holt die Kunst uns stets da ab, wo wir sind, nämlich bei unserem Menschsein. Aber dazu gehört immer auch das Nochmögliche, das Nochnichtverwirklichte, das ist das Menschenmögliche, das heißt: auch das, wo wir noch nicht sind.

(Jörn Budesheim)




Hermeneuticus
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Fr 28. Jul 2017, 10:35

Jörn Budesheim hat geschrieben : Der schottische Philosoph David Hume hat es 1757 so formuliert: „Schönheit ist keine Eigenschaft, die den Dingen an ihnen selbst zukommt; sie existiert lediglich im Geiste dessen, der die Dinge betrachtet.” Franz von Kutschera drückt das etwas technischer so aus: „Alle rein wertenden ästhetischen Aussagen lassen sich in solche über subjektive Präferenzen übersetzen". Der Subjektivismus ist also eine naturalistische Position. Die naturalistische/materialistische Einstellung besagt, dass wir von nichts anderem als inneren Einstellungen sprechen, wenn wir von Schönheit sprechen und keineswegs von schönen Dingen.
Hier stock' ich schon.
Die Gleichsetzung des ästhetischen Subjektivismus mit Naturalismus/Materialismus ist nicht richtig. Denn sie übergeht Kants Ästhetik. Kant war weder Naturalist noch Materialist, aber behauptete den grundsätzlich subjektiven Charakter von Geschmacksurteilen. (Liest man Kants Ästhetik im Zusammenhang, zeigt sich allerdings, dass er Schönheit keineswegs auf subjektive Empfindungen reduziert und seine Position mit "Subjektivismus" nicht treffend gekennzeichnet ist.)

Ein zweiter Einwand: Die Ansicht, dass Schönheit eine Eigenschaft der Dinge sei, die sich von uns wahrnehmen lasse wie andere sinnliche Eigenschaften (Masse, Größe, Proportionen, Farbe...), verträgt sich sehr gut mit dem Naturalismus. So gibt es ja durchaus naturalistische Erklärungsansätze für unsere Schönheitsempfindungen (Genetik, Evolutionsbiologie, Psychologie).

Deine Ausgangshypothese, dass ästhetischer Subjektivismus die Kehrseite von Naturalismus/Materialismus sei, ist also dubios. Mit Folgen für Deine argumentative Strategie:

1. Argumente gegen den materialistischen Naturalismus stützen nicht zwingend die Annahme, Schönheit sei eine Eigenschaft der Dinge (wiewohl eine solche, die mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erfasst werden könne).

2. Bei der Argumentation für die Objektivität des Schönen musst Du aufpassen, nicht selbst eine naturalistische Position zu vertreten.

Der Naturalismus besagt schlicht und ergreifend, dass es die Dimension des Ästhetischen in einem strengen Sinn gar nicht gibt. Was es laut dieser Sicht gibt, sind individuelle Präferenzen im Kopf jedes Einzelnen. Und jede Aussage über Schönheit lässt sich verlustfrei in eine Aussage über ebenjene individuelle Präferenzen übersetzen. Und diese lässt sich dann auf Hirnzustände oder dergleichen mehr zurück führen.

Diese Rückführung auf Hirnzustände ist aber eine objektivistische. Denn sie könnte im nächsten Schritt z.B. zeigen, dass unsere Gehirne so geschaltet sind, dass sie auf Reize mit den und den objektiven Eigenschaften mit angenehmen Empfindungen reagieren. Und das ließe sich problemlos vergleichen mit der Reaktion von Vogelweibchen auf das schöne Gefieder, den schönen Gesang, das schöne Balzverhalten der Vogelmännchen... :-)

Da es in der Kunst natürlich nicht nur um Schönheit geht, möchte ich den Begriff “Schönheit” hier sehr großzügig verstehen, gemeint ist “das gelungene Werk” in einem weiten Sinn. Ziel meines kleinen Vortrages ist nicht, den Begriff Schönheit zu präzisieren.
Das lässt dann allerdings viele argumentative Hintertürchen. Gerade wenn man zeigen möchte, dass Schönheit etwas Objektives ist, übernimmt man auch die Pflicht, die objektiven, "vorliegenden", "vorhandenen" Charakteristika des Schönen klar herauszustellen. Wenn das Schöne eine objektive Eigenschaft ist, dann muss sie doch auch leicht zugänglich, gut beschreib- und nachweisbar sein. - Behauptet man dagegen vollmundig, Schönheit sei etwas Reales, Sachhaltiges, vermeidet aber ihre sachliche Bestimmung, nimmt man der eigenen Argumentation viel Überzeugungskraft.




Hermeneuticus
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Fr 28. Jul 2017, 17:14

Der schottische Philosoph David Hume hat es 1757 so formuliert: „Schönheit ist keine Eigenschaft, die den Dingen an ihnen selbst zukommt; sie existiert lediglich im Geiste dessen, der die Dinge betrachtet.”
Ein zentraler Punkt, der hinter Kants Argumentation gegen objektive Schönheit steht, ist die Freiheit des Subjekts in seinem Urteil. Um dieser Freiheit des ästhetischen Geschmacks willen grenzt sich Kant auch von der Hume'schen Position ab. Denn man könnte ja der Auffassung sein, dass wir gegenüber unseren Vorlieben nicht frei seien - nach der Devise: "Wir sind frei zu tun, was wir wollen, aber nicht frei zu wählen, was wir wollen." So weit ich weiß, war das auch Humes Auffassung.

Wenn unsere Präferenzen natürlich bestimmt und festgelegt sind, dann sind unsere Präferenzen selbst etwas "Objektives", nämlich harte natürliche Fakten, die wir nur hinnehmen können und für die wir nicht verantwortlich zu machen sind. Indem wir solche natürlich bestimmten Vorlieben äußern, spricht aus uns gewissermaßen die Stimme der Natur. Ein solches Urteil wäre nur oberflächlich betrachtet ein Urteil des Subjekts, also ein selbstbestimmter, freier Akt.

Nun gibt es eine ganze Reihe von Geschmacksbekundungen bzw. ästhetischen Empfindungen, in denen wir in der Tat nicht frei sind, z.B. Ekel oder sexuelle Lust. Derartige Empfindungen "überkommen" oder "widerfahren" uns, und ihre Äußerung ist kein Urteil im Sinne eines logischen Aktes, für den wir Verantwortung übernehmen. - Kant grenzt sie darum unter der Kategorie des "Angenehmen" von der spezifisch ästhetischen Lust ab. Für letztere ist nach Kant charakteristisch, dass sie aus einer freien Zusammenstimmung aller unserer Erkenntnisvermögen, also auch der intellektuellen, resultieren.


Mir scheint, dass die Frage nach der Freiheit des urteilenden Subjekts DIE "metaphysische Klippe" ist, die ein Schönheitsobjektivismus zu umschiffen hat. Denn wenn Schönheit eine objektive Eigenschaft der Dinge ist (wie ihre Masse oder ihre Geschwindigkeit) und wenn unsere ästhetischen Vorlieben durch Naturkräfte (neuronale Verschaltungen, Endorphin-Ausschüttungen, Gene etc.) bedingt sind, so sind wir in unseren Schönheitsurteilen nicht frei.

Das ist gerade auch im Hinblick auf die Frage nach der "Wirklichkeit des Geistigen" ein zentraler Punkt. Die "Objektivität" der geistigen Welt muss sich in diesem Punkt signifikant von der Objektivität des Nicht-Geistigen unterscheiden, d.h. Freiheit darf nicht nur eine subjektive Einbildung sein, die uns z.B. von unserem Gehirn vorgespiegelt wird, sie muss zur Beschaffenheit der vom Geist geprägten Welt gehören - wenn man eben nicht in einen kruden Naturalismus verfallen will.




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iselilja
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Fr 28. Jul 2017, 23:24

Hermeneuticus hat geschrieben : Mir scheint, dass die Frage nach der Freiheit des urteilenden Subjekts DIE "metaphysische Klippe" ist, die ein Schönheitsobjektivismus zu umschiffen hat. Denn wenn Schönheit eine objektive Eigenschaft der Dinge ist (wie ihre Masse oder ihre Geschwindigkeit) und wenn unsere ästhetischen Vorlieben durch Naturkräfte (neuronale Verschaltungen, Endorphin-Ausschüttungen, Gene etc.) bedingt sind, so sind wir in unseren Schönheitsurteilen nicht frei.

Das ist gerade auch im Hinblick auf die Frage nach der "Wirklichkeit des Geistigen" ein zentraler Punkt. Die "Objektivität" der geistigen Welt muss sich in diesem Punkt signifikant von der Objektivität des Nicht-Geistigen unterscheiden, d.h. Freiheit darf nicht nur eine subjektive Einbildung sein, die uns z.B. von unserem Gehirn vorgespiegelt wird, sie muss zur Beschaffenheit der vom Geist geprägten Welt gehören - wenn man eben nicht in einen kruden Naturalismus verfallen will.
Ein interessanter Begriff, der mir allerdings auch ein wenig Kopfzerbrechen bereitet. Urteile tragen m.V.n. etwas verstandesmäßiges in sich, während Schönheit (oder etwas was wir als schön empfinden) ja eigentlich nicht wirklich durch ein "Urteil" zustande kommt. Hm. Urteile können irrtümlich sein, ich glaube aber unser Empfinden kann das nicht. Niemand kann etwas dafür, dies oder jenes als schön zu empfinden - ja meist kann er es nicht einmal mithilfe des Verstandes ändern. Etwa nach dem Motto "Oh ich habe mich geirrt.. es ist nicht schön" :-)

lg




Hermeneuticus
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Sa 29. Jul 2017, 00:44

iselilja hat geschrieben : Ein interessanter Begriff, der mir allerdings auch ein wenig Kopfzerbrechen bereitet. Urteile tragen m.V.n. etwas verstandesmäßiges in sich, während Schönheit (oder etwas was wir als schön empfinden) ja eigentlich nicht wirklich durch ein "Urteil" zustande kommt. Hm. Urteile können irrtümlich sein, ich glaube aber unser Empfinden kann das nicht. Niemand kann etwas dafür, dies oder jenes als schön zu empfinden - ja meist kann er es nicht einmal mithilfe des Verstandes ändern. Etwa nach dem Motto "Oh ich habe mich geirrt.. es ist nicht schön" :-)
Ja, der Status unserer - ich sag's erst einmal neutral - Schönheitsbekundungen ist durchaus fraglich. Handelt es sich einfach um den unwillkürlichen Ausdruck einer Empfindung - so wie bei den Ausrufen: "Aua!" oder "Geil!"? Oder sind dabei doch Reflexion und - ich sag's wieder möglichst neutral - intellektuelle Fähigkeiten mit im Spiel?

Kant hat seine drei Kritiken an drei unterschiedlichen rationalen Vermögen orientiert: dem Verstand, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft. Und die Art und Weise, in der diese Vermögen sich betätigen, sind nun einmal Urteile. Darum behandeln seine drei Kritiken drei unterschiedliche Arten von Urteilen.

Der "Verstand" ist nach Kant das "Vermögen der Regeln"; seine Betätigung besteht also darin, logische Regeln auf empirische Gegenstände anzuwenden - oder modern ausgedrückt: empirische Gegenstände zu klassifizieren.
Die "Vernunft" interpretiert Kant als das "Vermögen der Prinzipien". Prinzipien sind allgemeine und notwendige Regeln. Im logischen Schließen wirkt sich die Anwendung der Prinzipien dahingehend aus, dass wir das Besondere aus dem Allgemeinen ableiten, "deduzieren". Und in der Tat meint Kant, dass der kategorische Imperativ ein Vernunftprinzip sei, aus dem sich das richtige Handeln im einzelnen Fall ableiten lasse.

Die "Urteilskraft" nimmt nun eine besondere Stellung ein. Kant hatte ihr ursprünglich keine eigene "Kritik" widmen wollen, meinte aber nach dem Abschluss der beiden ersten Kritiken, dass er ihre systematische Bedeutung doch durch eine umfangreiche Abhandlung würdigen sollte. - Die Urteilskraft wird von Kant als unser Reflexionsvermögen aufgefasst, und im Kern kreist die Reflexion um die Frage, ob einzelne Fälle/Gegenstände unter eine Regel fallen oder nicht. In gewisser Hinsicht ist somit die Urteilskraft das elementare Vermögen, ohne die Verstand und Vernunft nicht zu objektiven Urteilen gelangen können. Denn in jedem einzelnen Urteil stellt sich immer wieder die Frage, ob der Gegenstand unter einen Begriff fällt oder nicht (oder ob dem Gegenstand das Prädikat zukommt oder nicht). Ohne Urteilskraft fänden wir für unsere Begriffe und Regeln keine Anwendung. - Das der Urteilskraft eigene Prinzip sieht Kant in der Zweckmäßigkeit, und so kommt es, dass die beiden genuinen Gebiete, auf denen die Urteilskraft autonom tätig wird, die ästhetischen Urteile und die teleologischen Urteile sind.

Darüber ließe sich noch viel mehr ausführen, und Kant tut das denn auch in seiner Einleitung zur "Kritik der Urteilskraft". Er lässt sich dort vor allem weitläufig über den zwischen Verstand/Natur und Vernunft/Freiheit vermittelnden Charakter der Urteilskraft aus. Aber ich verzichte hier darauf, das ausführlich zu referieren. Wichtig für den gegenwärtigen Zusammenhang ist aber, dass Kant unseren Geschmacksurteilen eine Zwischenstellung zwischen Verstandesurteilen und Vernunftgeboten einräumt. In der Erfahrung des Schönen, so Kant, halten sich Naturnotwendigkeit und praktische Freiheit die Waage; das Schönheitsurteil ist sinnlich - es wird durch wahrnehmbare Gegenstände ausgelöst - und doch intellektuell, weil unsere "oberen" Erkenntnisvermögen (Verstand, Vernunft) daran beteiligt sind. Es ist von Lustempfindungen begleitet, lässt uns aber doch eine gewisse Freiheit gegenüber diesen Empfindungen - anders als z.B. beim Angenehmen, beim Ekel- und Schmerzhaften. Das Schöne ist harmonisch, geordnet, proportioniert, lässt sich aber doch nicht abschließend unter eine bestimmte Regel, einen bestimmten Begriff subsumieren.

Kants Überlegungen sind sehr subtil, tiefsinnig und werden m.E. doch dem Phänomen - unserer tatsächlichen Schönheitserfahrung - verblüffend gerecht. Wenn man seinen Text liest, hat man manchmal den Eindruck, als ordnete er die Urteilskraft einfach in die schon bereitgestellten Fächer seiner Systemarchitektur ein; dabei sind seine Darlegungen doch stets nachvollziehbar im Blick auf die eigenen, persönlichen Schönheitserlebnisse...

Also, ich hoffe, der Hintergrund des Ausdrucks "Schönheitsurteil" ist nun etwas klarer geworden. Aber vermutlich wirst Du Kants Abgrenzung der ästhetischen Urteile von bloßen Bekundungen unwillkürlicher Empfindungen nicht so ohne Weiteres zugeben. :-)




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Jörn Budesheim
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Sa 29. Jul 2017, 07:46

Ein zweiter Einwand: Die Ansicht, dass Schönheit eine Eigenschaft der Dinge sei, die sich von uns wahrnehmen lasse wie andere sinnliche Eigenschaften (Masse, Größe, Proportionen, Farbe...), verträgt sich sehr gut mit dem Naturalismus. So gibt es ja durchaus naturalistische Erklärungsansätze für unsere Schönheitsempfindungen (Genetik, Evolutionsbiologie, Psychologie).
Den ersten Einwand hast du ja bereits selbst ad acta gelegt. Also gehe ich gleich zum zweiten Einwand. Dass man die SchönheitsEmpfindungen (aber nicht die Schönheit) mit Hilfe von Genetik, Evolutionstheorie und Psychologie erläutert, verträgt sich nicht nur sehr gut mit dem Naturalismus, es ist Naturalismus.

Wenn man, wie du an dieser Stelle, Schönheit und Schönheitsempfindungen einfach gleich setzt, dann setzt man jedoch bereits das als wahr, was ja eigentlich strittig ist.
Argumente gegen den materialistischen Naturalismus stützen nicht zwingend die Annahme, Schönheit sei eine Eigenschaft der Dinge (wiewohl eine solche, die mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erfasst werden könne).
Die Einwände gegen den Naturalismus spielen in dem Text jedoch eine andere Rolle, als du an dieser Stelle unterstellst. Wenn der Naturalismus wahr ist, dann ist meine Position falsch. Und wenn meine Position wahr ist, dass ich dann Naturalismus falsch. Die beiden Positionen schließen sich aus, und deshalb ist es zur Stützung meiner Position erforderlich Argumente gegen den Naturalismus vorzubringen.

Diese Rückführung auf Hirnzustände ist aber eine objektivistische.
Das ist richtig. Damit wird aber gerade nicht die Objektivität der Sphäre des ästhetischen behauptet. Sie wird stattdessen, wie du selbst sagst auf Zustände des Gehirns zurückgeführt. Das heißt, Schönheit wird auf innere Eigenschaften des Subjekts zurückgeführt. Das entspricht genau meiner Definition des Subjektivismus.

Gerade wenn man zeigen möchte, dass Schönheit etwas Objektives ist, übernimmt man auch die Pflicht, die objektiven, "vorliegenden", "vorhandenen" Charakteristika des Schönen klar herauszustellen.
Warum? Die Behauptung, dass unsere Urteile wahr sein können, verpflichtet uns keineswegs auf die Behauptung, dass man klare WahrheitsKriterien angeben können müsse. Meines Erachtens gibt es für keinen Bereich, sei es der theoretische, sei es der ethische, sei es der ästhetische oder sonst einer einfache, klare und allgemeine Wahrheitskriterien, die man auf jedem besonderen Fall anwenden kann.
Wenn das Schöne eine objektive Eigenschaft ist, dann muss sie doch auch leicht zugänglich, gut beschreib- und nachweisbar sein.
Ich sehe keinen Grund, warum objektive Eigenschaften zugleich auch leicht zugänglich, gut beschreibbar oder einfach nachweisbar sein sollten.




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Jörn Budesheim
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Sa 29. Jul 2017, 07:49

Tommy hat geschrieben :
Jörn Budesheim hat geschrieben : Der Mensch und alle seine Sinnanstrengungen sind nun aus dem Bild verschwunden.
Ich habe diesen Satz jetzt 12 Mal gelesen.
Egal wie, ich halte das was er aussagen will für völlig unmöglich.
Wir können das zwar versuchen, aber es ist schlicht nicht machbar.
Das sehe ich genauso.

Deine Bemerkung ist sehr kurz. Daher kann ich nur raten, worauf du hinaus willst. Ich schätze mal, dass du so etwas wie ein epistemisches Feld aufmachen willst. Das kann man natürlich machen, und das ist sicherlich auch sinnvoll. Meine Argumentation hat demgegenüber den Vorteil, schätze ich, dass sie auf Probleme des Naturalismus hinweisen kann, ohne in dieses Geschäft einsteigen zu müssen.




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Jörn Budesheim
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Sa 29. Jul 2017, 08:10

Niemand kann etwas dafür, dies oder jenes als schön zu empfinden - ja meist kann er es nicht einmal mithilfe des Verstandes ändern. Etwa nach dem Motto "Oh ich habe mich geirrt.. es ist nicht schön" :-)
Ich finde nicht, dass das stimmt. Meines Erachtens ist es durchaus möglich, dass man sich in seinen Urteilen über Kunstwerke irrt; ebenso wie es möglich ist, dass man in seinen Urteilen über Kunst lernt. Meines Erachtens geschieht das sogar recht häufig. Ich selbst konnte sicherlich vor meinem Kunststudium ein deutlich weniger fundiertes Urteil über viele Dinge, die zum fraglichen Objektbereich gehören, abgeben, als nach meinem Studium. Und zwar ganz genau in der Form die du oben angibst.

Ich sehe keinen Grund dafür, warum es nicht eine Schule des Sehens geben könnte, die einen dazu führt, die Dinge besser zu erfassen.




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Jörn Budesheim
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Sa 29. Jul 2017, 08:56

Wie sollte die Kunst der Raum der Freiheit sein, wenn sie ausschließlich der Raum unserer privaten oder idiosynkratischen Vorlieben wäre? Die Position, die ich tatsächlich vertrete, ist eigentlich vergleichsweise soft, wenn man sie mit dem vergleicht, wie sie hier streckenweise aufgenommen wurde: "Nicht alle wertenden ästhetischen Aussagen lassen sich in Aussagen über individuelle Präferenzen übersetzen."




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