Affektiver und intentionaler Fehlschluss

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Jörn Budesheim
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Di 14. Nov 2017, 14:48

Affektiver und intentionaler Fehlschluss

Im Folgenden soll es um zwei verschiedene "Fehlschlüsse" gehen, die jedoch eng zusammen hängen. Gegenstand des Threads sind der affektive und der intentionale Fehlschluss. Die Begriffe, unten denen sie bekannt wurden, stammen von den Literaturtheoretikern William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley.

Ein affektiver Fehlschluss liegt vor, wenn sowohl die "Erschließung" als auch die Wertung eines Werkes sich wesentlich auf die subjektiven Reaktionen eines Lesers berufen. Der Grund dafür ist folgender: Wer sich in dieser Weise auf die subjektiven Wirkungen eines Werkes bezieht, betreibt keine Auseinandersetzung mit dem Werk selbst, sondern verwechselt dieses mit ebender subjektiven Wirkung.
Susan Sonntag (zitiert nach Ben Dupré, 50 Schlüssel-Ideen, Philosophie) hat geschrieben : Man muss die persönlichen Absichten des Künstlers nicht kennen. Sein Werk sagt alles.
Der intentionale Fehlschluss lässt sich ganz analog fassen: Ein intentionaler Fehlschluss liegt vor, wenn wiederum sowohl die "Erschließung" als auch die Wertung eines Werkes sich wesentlich auf die subjektiven Intentionen (die Absichten) des Autors berufen. Wer sich darauf bezieht, betreibt keine Auseinandersetzung mit dem Werk, sondern verwechselt es mit den Absichten des Autors; Wimsatt und Beardsley betrachten das als Sonderfall eines genetischen Fehlschlusses.

Darin drückt sich der Gedanke aus, dass das Werk selbst ist eine Realität eigener Ordnung ist, die man aus sich heraus erschließen und bewerten sollte, Wertung und Interpretation eines Werkes sollen immer auf das Werk als einem autonomen ästhetischen Gegenstand gerichtet sein. Diese Idee, die hinter dem "intentionalen Fehlschluss" steht, dürfte mit anderen antiintentionalistischen Konzepten verwandt sein, die gelegentlich unter dem Slogan vom Tod des Autors kursieren.




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Stefanie
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Mi 15. Nov 2017, 14:31

Ich habe eine Rückfrage zum intentionalen Fehlschluss und eine allgemeine Frage.

Auf was für ein Werkt bezieht sich das denn? Literatur, Musik, bildenden Kunst, malende Kunst?

Beim intentionalen Fehlschluss sind die subjektiven Absichten des Erschaffenden gemeint, nicht die Person des Erschaffenden? Zum letzten wird man ja manchmal verführt, wenn ein Roman oder ein Gedicht in "Ich-Form" geschrieben ist, und zudem der Lesende auch noch etwas die Biographie des Erschaffenden weiß.



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Jörn Budesheim
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Mi 15. Nov 2017, 14:46

Stefanie hat geschrieben :
Mi 15. Nov 2017, 14:31
Auf was für ein Werkt bezieht sich das denn? Literatur, Musik, bildenden Kunst, malende Kunst?
Der Begriff stammt zwar aus der Literatur, aber ich verstehe ihn ganz allgemein. Die Ich-Form dürfte nicht viel ändern, genau so wie du es auch selbst darstellst. Im Grunde heißt das, die berühmte Frage "Was wollte der Künstler damit sagen?" basiert ggf. auf einem Fehlschluss :-)




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Stefanie
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Mi 15. Nov 2017, 20:01

Ich verstehe den intentionalen Fehlschluss nicht.
Je mehr ich darüber lese, um so verwirrter werde ich.
Zum einen warum ist es ein Fehlschluss? Es ist eine andere Herangehensweise, als die bis dahin vorherrschende Meinung.

Die Auffassung wurde anhand von Gedichten entwickelt. Mir fällt schon schwer, es auf die Prosa, also Romane zu übertragen. Ein Roman enthält das wichtigste zum Verständnis, eine Sprache , die jeder kennt. Nicht verdichtet, wie im Gedicht. Das geschriebene Wort, das Lesen an sich, ermöglicht mir als Lesende beide Auffassungen anzuwenden, wenn ich will. Manchmal springen einem die Intentionen geradezu ins Gesicht.
Diese Fehlschluss Ansicht jetzt auf bildende, malende Kunst anzuwenden, verstehe ich nicht.
Es gibt Gemälde die sind schon ein intentionaler Fehlschluss. Ich denke da an Otto Dix trypchichon oder Guernica von Picasso.
Was will mir der Künstler damit sagen, bei den beiden Bildern sieht man es doch.
Um den Fehlschluss erst gar nicht aufkommen zu lassen, dürfte das Bild weder einen Titel haben, noch den Namen des Künstlers nennen, die Jahreszahl nicht, nichts, außer dem Bild.


Ich verstehe es nicht und raufe mir die Haare.



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Stefanie
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Mi 15. Nov 2017, 20:03

https://zuehaldogan.wordpress.com/2016/ ... hlschluss/

Huch, ich habe einen Link per Handy hinbekommen.



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Do 16. Nov 2017, 05:20

Stefanie hat geschrieben :
Mi 15. Nov 2017, 20:01
Es gibt Gemälde die sind schon ein intentionaler Fehlschluss.
Gemälde können keine intentionale Fehlschlüsse sein, nur Interpretation, Erschließung und Wertung können sich solch eines Fehlschlusses schuldig machen.




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Alethos
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Ich bin tatsächlich ein intentionaler Fehlschliesser.



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Selbsterkenntnis ist ja der erste Weg zur Besserung :-))




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Alethos
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Do 16. Nov 2017, 19:07

Ja, ich werde sicherlich alle Deutungsversuche unterlassen und nur noch das reine Objekt in Absehung des Künstlers anschauen :)

Aber ist es bei ästhetischen Fehlschlüssen auch so einfach, das Gefallen abzuziehen von aller Interpretation? Ist es überhaupt wünschenswert?



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Do 16. Nov 2017, 19:22

Alethos hat geschrieben :
Do 16. Nov 2017, 19:07
Ja, ich werde sicherlich alle Deutungsversuche unterlassen ...
Deutungsversuche sind doch für diese Sichtweise gar kein Problem ... wie kommst du um himmelswillen da drauf? Die Deutungsversuche* sollen sich halt auf die Arbeit beziehen, die sie zu deuten versuchen.

*Vielleicht machen wir noch einen Thread über "Against Interpretation" von Susan Sontag :mrgreen:




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Alethos
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Do 16. Nov 2017, 19:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 16. Nov 2017, 19:22
Alethos hat geschrieben :
Do 16. Nov 2017, 19:07
Ja, ich werde sicherlich alle Deutungsversuche unterlassen ...
Deutungsversuche sind doch für diese Sichtweise gar kein Problem ... wie kommst du um himmelswillen da drauf? Die Deutungsversuche* sollen sich halt auf die Arbeit beziehen, die sie zu deuten versuchen.
Naja, sie sind ein Problem, wenn man den Künstler in den Mittelpunkt der Deutungsversuche stellt, ganz so, als hätte er auf dem Werk gewisse Hinweise hinterlassen, die zu ihm führten. Aber die Hinweise führen, wenn man es ganz genau betrachtet, immer wieder zurück zum Objekt und zum Hin und Her zwischen Betrachter und Werk. Der Künstler bleibt aber immer anwesend in seiner Abwesenheit. Und mir erscheint der Künstler/die Künstlerin als latente Autorität am Objekt und um das Objekt selbst: Das ist ein wenig verrückt, ich weiss :)

Man sollte sich, wie ich schon einmal sagte, nicht zu sehr einschüchtern lassen von diesen Fantasmen. Eine Susan Sonntag Therapie wäre vielleicht gut :D



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Stefanie
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Do 16. Nov 2017, 20:10

Ich verstehe es nicht. Warum ist es ein Fehlschluss und nicht einfach eine weitere Herangehensweise an ein Kunstwerk, wie ein Roman oder ein Bild?

Das Bild ist nicht der Fehlschluss. Nur kommen manche Werke, sei es ein Gedicht , Roman oder ein Bild, mit ihrer Intention gleich einem Vorschlaghammer daher.

Weder die Kunsterschaffenden noch die Lesenden oder die, die ein Bild betrachten sind ein leeres, weißes Blatt Papier. Beide haben Wissen, Erfahrungen, die sich nicht einfach löschen lassen.

So viele Bilder in real habe ich noch nicht gesehen. Letztes Jahr in Dresden zum ersten mal Bilder von Gerhard Richter. Von diesem kannte ich die Bilder in der Ausstellung nicht, habe sie also zuerst nicht als Richter Bilder erkannt. Vor allem eine Bilderserie nicht. Da stand ich nun, und fragte mich, was da zu sehen ist und was das soll. Dann sah ich die Tafel an den Bildern auf der der Titel stand: Birkenau. Aha und schon ratterte es im Kopf. Wenn der Titel dort nicht gestanden hätte, würde ich da heute noch stehen und mich fragen, was ich mit den Bildern anfangen soll, außer das die schön sind.

Wie hätte ich jetzt schauen und werten sollen nach den beiden Fehlschluss Theorien? Mein Wissen nicht beachten, die Emotionen dazu nicht beachten? Darf ich nicht fragen, ob der Künstler das Thema Birkenau adäquat umgesetzt hat?



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Jörn Budesheim
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Do 16. Nov 2017, 20:15

Dann sah ich die Tafel an den Bildern auf der der Titel stand: Birkenau. Aha und schon ratterte es im Kopf. Wenn der Titel dort nicht gestanden hätte, würde ich da heute noch stehen und mich fragen, was ich mit den Bildern anfangen soll, außer das die schön sind.
Der Titel ist Teil der Arbeit und Teile der Arbeit Beachtung zu schenken ist sicher kein Problem :-)
Weder die Kunsterschaffenden noch die Lesenden oder die, die ein Bild betrachten sind ein leeres, weißes Blatt Papier. Beide haben Wissen, Erfahrungen, die sich nicht einfach löschen lassen.
Hier verstehe ich nicht den Zusammenhang mit der These?

Irgendwie scheinst du die These(n) in den falschen Hals zu bekommen, mir ist aber noch nicht klar wieso, weshalb, warum.

Meine eigene Einschätzung zu den beiden Fehlschlüssen: Ich neige eher dazu zu denken, dass es tatsächlich Fehlschlüsse sind, bin aber bei weitem nicht sicher. Was dran ist, kann die Diskussion zeigen. Die These ließe sich wahrscheinlich locker so paraphrasieren: Im Zentrum jeder Betrachtung muss das Werk selbst stehen, dort spielt die Musik.




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Stefanie
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Do 16. Nov 2017, 20:58

Als Ergebnis des intentionaler Fehlschluss habe ich verstanden, dass die Frage "Was wollte der Künstler damit sagen" nicht mehr gestellt werden darf, nicht mehr nach der Absicht, nicht mehr nach der Intention gefragt werden darf, und dies alles nicht beachtet werden darf. Gestern las ich noch, man soll den historischen Kontext bei der Erschließung und Wertung außer acht lassen. Ganz zu schweigen von der persönlichen Situation und Gefühlslage des Künstlers beim Erschaffen des Werkes.
Hält man sich nicht daran, begeht man eine Fehlschluss, und wertet das Werk nicht mehr als autonomes ästhetisches Objekt.

Ich halte es für menschlich unmöglich, all das auszublenden.



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Do 16. Nov 2017, 21:11

Erstaunlich, ich muss es in aller Regel nicht mal ausblenden ... hmm.




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Stefanie
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Do 16. Nov 2017, 21:45

Wenn ich als Betrachtende oder als Lesende um das oben genannte weiß. Das ist ja nicht immer der Fall. Die persönliche Stimmungslage des Künstlers weiß ich in der Regel nicht, wer weiß das schon. Die Biografie kenne ich manchmal, manchmal oft nicht.
Die Fehlschluss Ansicht kommt aus der Literatur. Seit Tagen überlege ich, wie ich Romane und Gedichte lese. Wohl nicht so, wie es die Begründer dieser Fehlschluss Theorie gerne hätten. : - )

Ich glaube, dieses Thema wird meine zweite Schrödingers Katze.



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Jörn Budesheim
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Fr 17. Nov 2017, 05:37

Stefanie hat geschrieben :
Do 16. Nov 2017, 21:45
Seit Tagen überlege ich, wie ich Romane und Gedichte lese. Wohl nicht so, wie es die Begründer dieser Fehlschluss Theorie gerne hätten. : - )
Mir geht es ähnlich, aber mit umgekehrten Ergebnis :) ich habe gestern im Geiste einige Ausstellungsbesuche Revue passieren lassen, um mich zu erinnern, ob ich jemals nach den Absichten des Künstlers geforscht hätte... Ich habe vor vielen Jahren bei der Documenta 11 mal einige meiner Bildbetrachtungen und Versuche niedergeschrieben.
https://sites.google.com/view/budesheim/d11/doris-salcedov hat geschrieben :
Doris Salcedo

Nur langsam finde ich Zugang zu dieser Arbeit – wie ein Affe, der ein Uhrwerk untersucht …

Was sehe ich?

Holzstühle. Besser: Metallene Abgüsse von Holzstühlen. Gut zwei Dutzend im ersten und ein weiteres gutes Dutzend in den beiden folgenden Räumen. Langsam erkenne ich, dass ich Abgüsse eines einzigen Stuhls sehe. Variationen und Mutationen? Ästhetische Fragestellungen? Spiel mit der Form? Nein.

Also, was sehe ich?

Ich sehe zwei Arten von Stühlen: Helle und dunkle, aus Edelstahl und Blei. (Vorsicht Vergiftungsgefahr) Allen fehlt die Lehne, was die Vorstellung, auf ihnen zu sitzen unangenehm macht. Die Hellen sind zerrissen, verbogen und deformiert.

Die Dunklen sind, trotz ihrer surreal verlängerten Extremitäten, kompakt. Die Hellen stehen einzeln oder in kleinen Gruppen, etwas links der Raumachse. Die Dunklen haben sich rechts orientiert, einen Raum ausgespart und den nächsten verbarrikadiert.

Die "hinteren Beine" der Hellen verlängern sich himmelwärts und werden blank und klingenscharf. Die Beine der Dunklen sind in die Tiefe gewachsen, weshalb sie nicht stehen, sondern kopfüber im Raum liegen. Sie sind stumpf und glanzlos.

Die Hellen sind "aussen". Die Dunklen sind "innen":

Zwei aufeinander folgende Räume im Museumsraum sind von den Dunklen besetzt. Davor stehen die Hellen – also draußen. Aber: In zwei Gruppen haben vier Helle sich über vier Dunkle gestülpt, wobei sie sich in strenger Symmetrie, rechtwinklig zum Raum gegenseitig den Rücken stärken.

Die Hellen haben dabei zwar jeden Bodenkontakt verloren, sind aber diesmal weder deformiert noch zerrissen, sondern streng formiert und verdoppelt.

Verbogen und gebeugt sind nun die Dunklen. Ihre Beine, die bisher quer zum Raum standen und den Boden kaum berührten, sind auf Normalmaß gestutzt und stehen jetzt fest auf dem Boden. Sie tragen die Hellen.

Eine Allegorie? Symbolismus?

Links/Rechts, Unten/Oben: Eine politische oder soziale Allegorie? Ich weiß nicht recht. Stühle als Symbole? Was tun Stühle? Nehmen Sie bitte Platz. Danke, ich stehe lieber. Stühle ordnen Räume. Schulräume sind anders bestuhlt als Konferenzräume. Eine Restaurant anders als ein Gerichtssaal … Stühle weisen Plätze zu. Schaffen Verhältnisse. Gesellschaftliche Verhältnisse.

Die Gesellschaft, die Salcedo uns zeigt, ist zerrissen. Es gibt Abhängigkeiten, Spiegel- besser Zerr-bilder: Eine alte, nicht mehr tragfähige Ordnung scheint durch – ich sehe noch, wie der Herr mit dem Knecht verbunden ist … Stühle rücken, hacken, schlagen … die neue Ordnung ist lange nicht gefunden. Wer findet hier wo seinen Platz. Nein, danke. Ich stehe lieber auf.

An den Wänden lese ich: "Wir können Sie verschwinden lassen." Leon Golub (siehe Bild rechts) schreibt das. Daneben zeigt mir Zarina Bhimji einen verwaisten Militärflughafen, einen Raum weiter sehe ich Gespenster, eine Etage höher die Tische von Victor Grippo – sie erzählen Geschichten von Menschen, die ich nicht sehen, aber imaginieren kann.

What u see is what u see? What u see is what u dont see!

Doris Salcedo folgt einer alten Kunsttradition und stellt das Undarstellbare dar. Die Menschen, um die es geht, sind nicht im Bilde. Sie haben ihren Platz verloren.

Aber um wen geht es? Die Angaben sind rar. Die Titel der Arbeit gibt mir zwei Daten: 06. und 07. November 1985 und das Wort Finsternis. Eine lange Zeit. November und Finsternis. Das scheint deutlich. Und undeutlich zugleich, denn die beiden Daten legen nahe, dass es sich um ein konkretes Ereignis handelt. Ein Ereignis, dass so traumatisch sein muss, dass Doris Salcedo es weder konkret zeigen noch konkret benennen will. Dieses Ereigniss mag der Ausgangspunkt der Arbeit sein, doch was sie zeigen will, scheint darüber hinaus Bedeutung zu haben… "Zeit der Anomie".

Doris Salcedo kommt aus Kolumbien. Sie lebt in Bogotá. Sechster November hat dort vielleicht den gleichen Klang wie elfter September hier …

Auch das weiß ich nicht. Ich brauche Nachhilfe:

In den 1970er Jahren wurde die Guerillagruppe M-19 ins Leben gerufen, die die Zukunft der Stadt und des Landes mitprägte. Die Regierung entschied sich, die Casa de Nariño zu bauen, den Sitz des Präsidenten, der ein für die Zeit übliches Beispiel von Luxus inmitten des verarmten Stadtzentrums darstellt. Am 30. April 1984 wurde der Justizminister Rodrigo Lara Bonilla durch die Drogenmafia im Norden der Stadt ermordet. Diese Tat führte zur Konfrontation des Staates mit den Kartellen des Drogenhandels im ganzen Land.

Der 6. November 1985 wurde zum tragischsten Tag in der Geschichte der Stadt seit dem Bogotazo. Die Guerillagruppe M-19 nahm den Justizpalast in Bogotá ein. Die darauf folgenden Auseinandersetzungen und die Wiedereinnahme durch die Staatsmacht kostete mehreren hundert Menschen das Leben.
(Wikipedia)

Doris Salcedo:

"Meine Skulpturen sind ein Geschenk an diejenigen, die ihre Präsenz in meiner Arbeit spürbar machen… Ich traf Menschen, die die Größe hatten, ihren Schmerz mit mir zu teilen. Schmerz wird ständig erneuert. Ich denke, das erlaubt es, eine andere Art der Beziehung zur Realität zu schaffen. Der Unterschied zwischen ihnen und mir verschwindet, indem ihr Schmerz auch mich ergreift, mein Zentrum übernimmt. Indem ich mich bemühe eine Arbeit zu machen, die sich in der Mitte der Gesellschaft bewegt, erfüllt ihr Schmerz auch den Kern dieser Gesellschaft. Die Opfer werden dann zu den Hauptprotagonisten."
(Foto: Wikipedia)

Haben Dinge ein Gedächtnis? Sind die Dinge, mit denen wir leben, ein Teil von uns? Was erzählt der Stuhl auf dem ich sitze von mir, wenn ich verschwinde …




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Jörn Budesheim
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Fr 17. Nov 2017, 05:57

So ähnlich verfahre ich auch heute noch, wenn ich mir Arbeiten etwa in unserer Kunsthalle anschaue. Ich erforsche die Struktur der Arbeit, versuche herauszufinden, was es zu sehen gibt. Dazu hole ich auch Hintergrundinformationen ein und führe Gespräche mit anderen, um zu sehen, was sie sehen und damit Dinge zu entdecken, die mir zuvor entgangen sind.




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Jörn Budesheim
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Siegel-Online hat geschrieben : Lausbubenstreich in San Francisco
Museumsbesucher halten Brille am Boden für Kunstwerk
Was will uns der Künstler damit sagen? Jugendliche haben in Kalifornien Museumsbesucher an der Nase herumgeführt, indem sie eine Brille auf den Boden legten. Besucher staunten andächtig über das Objekt.

Bild

Jugendliche haben sich im Museum of Modern Art (MoMa) in San Francisco einen Streich erlaubt: Der 17-jährige TJ Khayatan und seine Freunde legten eine Brille auf den Boden, positionierten sich ein Stück weiter, warteten...

http://www.spiegel.de/panorama/leute/mu ... iter lesen


Das ist vielleicht ein ganz gutes Beispiel. Ich vermute, TJ hatte eine gewisse Absicht mit dem "Kunstwerk" verbunden, er wollte sich über die Institution lustig machen, einfach gesagt. Er wollte vielleicht zeigen, dass der Kaiser nackt ist. Die Absicht gehört zur Handlungserklärung. Aber die Folge der Handlung ist jetzt öffentlich.

Möglichweise ist TJ nicht gut vertraut mit der Institution Kunst und weiß nicht wirklich, dass unveränderte Alltagsgegenstände bereits seit einem Jahrhundert in der Kunst eine gewichtige Rolle spielen und regelmäßig im Museum stehen. Dass diese Kunstwerke dabei von Nichtkunstwerken optisch nicht zu unterscheiden sind, gehört teilweise zwingend dazu. Auch die meisten Kommentatoren in der Presse haben diesen Umstand nicht ausreichend gewürdigt.

Die Besucher, die sich das Kunstwerk angeschaut haben (woher will man wissen, dass sie "andächtig waren?) haben völlig richtig gehandelt. Ich selbst hätte das auch getan. Ich finde sogar, dass es ein sehr amüsantes Kunstwerk geworden ist. Man könnte es als halbironischen und humorvollen Kommentar dazu lesen, dass Kunst ein Dialog ist, weil Kunstwerke selbst den Betrachter in irgendeiner Weise in den Blick zu nehmen scheinen ("denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht", Rilke) weitere Assoziationen (die man mit der ersten Idee sogar gut verknüpfen kann) bieten sich an – ich musste an einen verschwundenen Museumswärter denken …

Wenn die Absicht darin bestand, ein schlechtes Kunstwerk zu machen, dann ist sie misslungen. Wenn der Wert und die Bedeutung an der Absicht gemessen würde, wäre das Kunstwerk schlecht, weil es gut ist :-) Warum zeigt das Museum dann die Arbeit nicht einfach? könnte man fragen. Aber ein Gelegenheitskunstwerk - gleichsam ein Zufallstreffer - macht noch keinen ausstellungswürdigen Künstler :-)

Ein Künstler mag bei der Arbeit eine gewisse Absicht gehabt haben. Das kann, muss aber nicht sein, aber nachdem er das Kunstwerk in die Öffentlichkeit gegeben hat, hat er auch nicht mehr die hermeneutische Autorität darüber: das Kunstwerk ist dann "es selbst". Es kann, wie das Beispiel meines Erachtens zeigt, sogar Sinn und Wert gegen die Absicht des Künstlers haben. Ich zum Beispiel freue mich oft, wenn mir Leute bei Ausstellungen meine Bilder erklären. Das eröffnet mir (manchmal) Dimensionen, die ich zuvor selbst nicht gesehen habe.

Mir fällt in solchen Zusammenhängen immer bestimmtes Zitat von Julian Schnabel ein . Er meinte in einem Interview, dass sich sein Erfolg in dem Moment einstellt, als es ihm gelungen war, sich mit seinen Bildern selbst zu überraschen. Diese Überraschung tritt ganz oft genau dann ein, wenn der Künstler nicht einfach nur eine Absicht umsetzt … oder besser: Wenn das Kunstwerk mehr als jede Absicht ist und zeigt.




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Stefanie
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Fr 17. Nov 2017, 19:39

Jetzt bin ich völlig verwirrt.
Deine Beschreibung der Vorgehensweise beim Betrachten ähnelt sehr, wie ich einem Roman lese.
Zuerst eine reine Beschreibung, was da zu sehen ist, dann geht es über in eine Interpretation, in die auch Dein Wissen mit reinfließt: Herr und Knecht und das mit der Kunsttradition. Dann das nachgelesen, was Dir nicht bekannt war.

Im Fall mit der Brille ist es ähnlich. Hier kannst Du im Gegensatz zu mir auf Wissen und Erfahrungen bzgl. Kunst zurückgreifen.

Völlig verdutzt war ich, als ich in dem anderen Thread den schönen Text zu dem pfiffigen und schönen Objekt von Frau Olma las.

Bei allen drei Fällen dachte ich, Moment mal, denn ich hatte das so verstanden, dass, wenn man das so macht wie in den drei Fällen, man in die Falle des Fehlschlusses tappt und genau deshalb dass so nicht machen sollte.

Mir scheint, es hängt daran, was unter Absicht und Intention verstanden wird. Also die Frage "was will der Künstler damit sagen" .Bei Otto Dix ist das eindeutig, ich sehe eine Kriegsszene. Mehr erst mal nichts. Bei einem Notenblatt mit einer Briefmarke und einer Musik, deren Text ich nicht verstehe, und weder von der Künstlerin etwas weiß, noch irgendeinen Kontext kenne, ist das nicht eindeutig. Da erkenne ich ohne weitere Informationen noch nicht mal was ich sehe. Da stelle ich die o.g. Frage um überhaupt erst mal zu erkennen, was ich da sehe. Bei einer Absicht bin ich noch gar nicht.
In diesem Zusammenhang verstehe ich daher nicht, warum ich mein Wissen, sofern vorhanden, ausblenden soll, oder mir Wissen nicht holen darf. Verstanden habe ich daher auch nicht, warum neben jedem Kunstwerk der Titel steht, der auch ein Wissen ist, das unmittelbar vermittelt wird oder die Erklärzettel bei der letzten documenta.

Wie gesagt, die beiden Beiträge hier und der zu Frau Olma, haben mich jetzt völlig verwirrt.



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