Sind Kunstwerke tote Materie?

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Jörn Budesheim
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So 2. Feb 2020, 11:10

Ich würde sagen, dass "an sich" der Kunst ist ihr "für uns". Die Aufführung jedes Kunstwerkes ist ein Teil von ihm. Und diese Aufführungen können nur wir machen.




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Alethos
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So 2. Feb 2020, 13:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 2. Feb 2020, 11:10
Ich würde sagen, dass "an sich" der Kunst ist ihr "für uns". Die Aufführung jedes Kunstwerkes ist ein Teil von ihm.
Ja, aber man kann sich doch zurecht fragen, ob die Aufführung in jedem Fall die Existenzialbedingung für Kunst ist. Dass Kunst etwas Gemachtes ist, auch etwas Zelebriertes und Aufgeführtes, das bestreite ich nicht, nur, dass Kunst erst in der Form des 'für uns' in ihrem 'an sich' bestehen kann. Es ist, wie du sagst, lediglich ein Teil.

Es mag sein, dass "Zeichen allein tot scheinen", und sie erst mit dem Gebrauch durch uns zu sinnvollen Zeichen verbunden werden. Aber nicht wir geben ihrer Verbindung einen Sinn und einen Inhalt, sondern wir einigen uns darauf, dass sie einer Bedeutung Ausdruck verleihen dürfen. Dass ein H und ein A und ein U und ein S verbunden das Wort 'Haus' ergeben und dieses etwas bezeichnet, das bewohnbar ist, das mag Konvention sein und es mag durch unseren Gebrauch sein, dass sich die Buchstaben zu etwas Sinnvollem verbinden. Soweit hat Wittgenstein recht, aber der Schluss darf nicht lauten, dass sich das Sinnvolle aus dem Gebrauch ergebe, weil er selbstgenügsam in der Tatsache besteht, dass es da etwas Sinnvolles gibt.

Und so ist es doch bei der Kunst: Es mag sein, dass Kunst uns nur in der Gegebenheit erscheint. Sie ist in ihrem an sich stets für uns. Aber dass sie in ihrem Ansichsein bezüglich ihrer Bedeutung wie tote Buchstaben sei, die nichts bedeuten, wenn wir sie nicht zusammenfügen, das erscheint mir falsch. So falsch, wie wenn wir behaupteten, das Haus gäbe es nicht ohne das entsprechende Wort.



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Jörn Budesheim
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So 2. Feb 2020, 14:29

Nehmen wir mal ein Beispiel: eins von Yves Kleins blauen Bildern. Wir könnten versuchen eine vollständige physikalische Beschreibung eines solchen Bildes zu machen. Darin käme nicht vor, dass das Bild blau ist. Darin käme auch nicht vor, dass es ein Bild ist! Denn dazu braucht es eine ganze Reihe von Zusammenhängen, denn Kunst ist eine menschliche Praxis.

Ein Teil dieser Praxis ist, dass Menschen vor so einem Bild stehen und es betrachten. Das ist die Aufführung. Das macht aus dem Bild, nach meinem Verständnis, keine Konstruktion, denn alles, was hier von Belang ist, gibt es an sich selbst.




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Alethos
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So 2. Feb 2020, 15:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 2. Feb 2020, 14:29
Nehmen wir mal ein Beispiel: eins von Yves Kleins blauen Bildern. Wir könnten versuchen eine vollständige physikalische Beschreibung eines solchen Bildes zu machen. Darin käme nicht vor, dass das Bild blau ist. Darin käme auch nicht vor, dass es ein Bild ist! Denn dazu braucht es eine ganze Reihe von Zusammenhängen, denn Kunst ist eine menschliche Praxis.

Ein Teil dieser Praxis ist, dass Menschen vor so einem Bild stehen und es betrachten. Das ist die Aufführung. Das macht aus dem Bild, nach meinem Verständnis, keine Konstruktion, denn alles, was hier von Belang ist, gibt es an sich selbst.
Aber wie passt denn die Aussage, dass blau im Bild nicht vorkommt zur Aussage, dass alles, was von Belang ist, an sich selbst vorkommt?



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Jörn Budesheim
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So 2. Feb 2020, 15:30

Das Blau nicht vorkommt, habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, es kommt in einer physikalischen Beschreibung nicht vor.




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Jörn Budesheim
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So 2. Feb 2020, 19:41

User bei Facebook hat geschrieben hat geschrieben : Diese vielfältigen Versuche, die Malerei zu anthropomorphisieren ( was für ein schöner Begriff ), könnte jetzt mit Fug & Recht als Wiederkehr von Aberglauben, Animismus oder Magie abgetan werden. Man hätte vermutlich gar nicht so Unrecht damit. Schliesslich sind Kunstwerke tote Materie und keine Lebewesen.
Sehr gängig ist ja die Idee, dass die Dinge nicht so sind wie sie uns scheinen. Beispiel: Die Wiese ist in Wahrheit nicht grün und der Himmel ist nicht blau. (Das vertrete ich nicht, das sind nur Beispiele für diese Idee.) Das muss sich nicht auf Farben beschränken, auch die mittelgroßen Gegenstände unserer Lebenswelt stehen stets im Verdacht nicht wirklich so zu sein, wie sie uns erscheinen.

Im Grunde kann man wohl vereinfacht sagen, dass mindestens seit 2000 Jahren in manchen Strömungen der Philosophie die Erscheinungen gewissermaßen in Verdacht stehen bloßer Schein zu sein. Sodass es hinter dem, was uns erscheint, noch eine weitere, wirklichere Wirklichkeit geben soll.

Diese Unterscheidung ist bei der Kunst in der Regel sinnlos. Es wäre bei Yves Kleins Bild sinnlos zu sagen, dass es in Wahrheit gar nicht blau ist, sondern bloß eine bestimmte Wellenlänge des Lichtes reflektiert. Es wäre sinnlos zu sagen, dass die Skulptur zwar hart aussieht, dass das aber nur aufgrund der Gitterstruktur der Atome so ist. Das liegt daran, dass das, was bei diesen Dingen "für uns" ist, eben die Kunst ist. Falls man den Unterschied zwischen Schein und Sein akzeptiert, dann müsste man eben sagen, dass der "Schein" das Sein der Kunst ist.

Kunstwerke gehören daher meines Erachtens nicht zur toten Materie. Wohin gehören sie denn? Wo ist denn das Blau auf Yves Kleins Bild? Zur physikalischen Welt, also zur Welt der toten Materie, gehört es nicht, soviel ist sicher.




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So 2. Feb 2020, 21:15

Wenn jemand ein Buch liest, "wo" ist die Kunst dann? Ist es die Druckerschwärze auf dem Papier? Wohl kaum! Im Gehirn der Leserin wird man jedoch auch nichts finden, dort findet man biochemische Prozesse, aber nicht Bouvard und Pécuchet. Wo befindet sich die Literaturgeschichte, die schließlich auch dazu gehört - unter dem Tisch? Oder im Buchdeckel?




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Mo 3. Feb 2020, 17:56

Man schaut in den Spiegel, ist das, was man im Spiegel sieht, tote Materie?




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Alethos
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Mo 3. Feb 2020, 21:43

Es wird mir nicht ganz klar, worauf du hinaus willst. Du sagst, dass die physikalischen Bedingungen nicht zum Wesen des Kunstobjekts als Kunstobjekt gehören: Das Blau ist keine Wellenlänge, die Festigkeit der Skulptur nicht die Gitteranordnung der Atome im Objekt. Aber wo dann?
Du deutest hier einen Relationalismus an, ohne ihn aber explizit auszuformulieren.

Dann will ich formulieren, wie ich dich verstehe:

Der "Schein" scheint und er muss jemandem erscheinen, weil sonst die Tinte eines Romas nichts weiter wäre als Schwärze auf weissem Grund. Das Blau wäre nichts als eine ins Universum abstrahlende Menge Photonen einer bestimmten Frequenz. Wenn aber das alles nur nackter Physikalismus ist, in diesem Kunstsinne bedeutungslose Materie ist, dann kann ein Kunstobjekt nur etwas Bedeutungsvolles sein, wenn es erfahren wird. Die Kunsterfahrung ist konstitutives Moment der Bedeutung von Kunst.

Wenn es das ist, was du sagen willst, Jörn, dann musst du das klar aussprechen und sagen, dass die Objektivität der Bedeutung ein relationales Konstitutiv hat, nämlich das Zugegensein eines Subjekts in der Gegenwart des Kunstobjekts.

Entweder nun aber ist das Kunstobjekt durch seine Form und Farbe etwas durch sich selbst Bedeutsames und der Mensch, der es betrachtet, 'liest' sozusagen diese Bedeutung am Objekt ab, oder erst die Perspektivität zwischen den Formen und dem Betrachter dieser Formen lässt Bedeutung zu. Oder aber das, was er in das Objekt legt, ist Teil des ästhetischen Gesamtwertes. Aber ich glaube, man kann nicht konsequent für die Objektivität des ästhetischen Werts argumentieren, und sich dann wieder an einen Subjektivismus wenden, um die Objektivität dieses Werts begreiflich zu machen. Ich denke, da müssen wir mutiger sein. Oder klarer.

Es ist nach meinem Verständnis völlig sachgerecht zu sagen, dass ein Objekt in seiner vollen Bedeutungsfülle erstrahlt, ohne, dass es dazu ein Publikum noch einen Betrachter bräuchte. Das ist die reinste Form des ästhetischen Realismus, die ich mir denken kann.



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Di 4. Feb 2020, 06:25

Ein paar Bilder, die vielleicht verdeutlichen können, was ich meine - ich bin mir selbst nicht 100% sicher.

ein Ball alleine kann kein Fußballspiel sein. Auch wenn der Ball allein alle Eigenschaften aufweist, die es braucht, um mit ihm zu spielen.

Ein gesprochenes Wort für sich ist noch kein Dialog, auch wenn in ihm schon alles für einen Dialog bereit ist.

Ein Spiegel ist noch kein Spiegelbild, obwohl der Spiegel jederzeit "fähig" ist, ein Bild zu werfen.

Und jetzt ein anderer Versuch sehr frei nach Graham Harmans objektorientierter Ontologie: ein Bild und ein Betrachter bilden für einen gewissen Zeitraum ein eigenes Objekt, eine eigene Einheit. Das Bild mag alle Eigenschaften aufweisen, die es braucht, um mit dem Betrachter diese Konstellation zu bilden, aber erst wenn ein Betrachter hinzu tritt, aktualisiert sich dieses Objekt.




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Di 4. Feb 2020, 06:45

Die Objekte strahlen, auch wenn gerade keiner hinsieht. (Hier sind wir uns einig.) Aber erst wenn sie in einen Geist hinein leuchten, ist Kunst. Sie leuchten immer, aber sie leuchten nicht immer ein.




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Alethos
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Di 4. Feb 2020, 19:49

Ich denke, damit kann ich etwas anfangen. Und wenn mir die Zeit zur Verfügung steht, werde ich dazu auch etwas schreiben.



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Di 19. Mai 2020, 06:32

Weil ich gerade zufällig an diesem Thread vorbeikomme: "Tononi und Koch sagen, dass die Wirklichkeit fundamental qualitativ ist."




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