"Ethik und Ästhetik sind Eins" (Wittgenstein)

Im Zuge der philosophischen und Debatten der letzten 30 Jahre sind Theorien des Schönen und philosophisch inspirierte Theorien medialer Erfahrungen zunehmend in den Vordergrund gerückt.
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Jörn Budesheim
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Mi 15. Aug 2018, 19:09

In der Ethik können wir hier und da Fortschritte beobachten. Und in der Ästhetik? Da gibt es sowas nicht, meines Erachtens. Was sagt das über den Unterschied beider?

Ethischer Fortschritt:

Dass es in unseren Breiten über die Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg einen gewissen ethischen Fortschritt gegeben hat, kann man meines Erachtens schwerlich bestreiten. Das bedeutet ja nicht, dass wir bereits im “goldenen Zeitalter” Leben ;-) Dass wir zum Beispiel in einem demokratischen Rechtsstaat leben, dürfte gegenüber allen vorhergehenden Staatsformen einen erheblichen Fortschritt bedeuten. Dass die Demokratie im Moment vielleicht eine Krise erlebt, ändert daran nichts, finde ich, denn es geht darum, dass wir Fortschritt zu verzeichnen haben und nicht darum, dass wir bereits perfekt sind :-) In Bezug auf Gleichberechtigung dürfte es ähnlich aussehen. Da gibt es immense Fortschritt, auch wenn sicher noch viel zu tun ist. Oder nehmen wir die Möglichkeiten zur sexuellen Selbstbestimmung. Auch hier gibt ganz sicher große Fortschritte, daran kann man meines Erachtens kaum Zweifel haben. Ich schätze Mal, dass sich diese Liste sehr leicht erheblich erweitern ließe. Im Allgemeinen kann man vielleicht sagen, dass wir hier in den Punkten Freiheit, Gleichheit und Solidarität ein gutes Stück voran gekommen sind, wenn auch noch viel zu tun bleibt.

Kein ästhetischer Fortschritt?:

Als Picasso die Höhlenmalereien in Lascaux gesehen hat, soll er (angeblich) gesagt haben: "Wir haben nichts dazu gelernt!" Das meine ich im Großen und Ganzen mit ästhetischen Fortschritt. Zur Klarstellung: Die Behauptung besteht nicht darin, dass einzelne Personen in ästhetischen Fragen keine Fortschritte machen können. Das steht außer Zweifel. Die Behauptung besagt vielmehr, dass die Kunst des 20. Jahrhunderts oder des 21. Jahrhunderts nicht generell ein Fortschritt gegenüber der Kunst des - sagen wir - des 15. Jahrhunderts oder früher darstellt.

Wir machen in der Kunst nicht Fortschritte in demselben Sinne, in dem wir in der Ethik Fortschritte machen. Die Frage, die ich mir stelle, lautet also, warum wir in ethischen Fragen offenbar lernfähig sind, das aber nicht in der selben Art und Weise oder im selben Maße für ästhetische Fragen gilt.




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Stefanie
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Mi 15. Aug 2018, 22:14

Diese Frage ist schwer, für mich. Mir ist nicht ganz klar, was genau mit Fortschritt bzw. Nichtfortschritt in der Ästhetik gemeint ist. Es ist irgendwie sehr abstrakt. Ich muss was fragen.
Die Behauptung besagt vielmehr, dass die Kunst des 20. Jahrhunderts oder des 21. Jahrhunderts nicht generell ein Fortschritt gegenüber der Kunst des - sagen wir - des 15. Jahrhunderts oder früher darstellt.
Woran machst Du das fest?



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Jörn Budesheim
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Do 16. Aug 2018, 05:32

Stefanie hat geschrieben :
Mi 15. Aug 2018, 22:14
Woran machst Du das fest?
Da ich der Ansicht bin, dass es keinen Fortschritt in der Ästhetik gibt ... an nichts :-)

Es ergibt einfach keinen Sinn, nach meiner Einschätzung - zu sagen, dass z.B. die Malerei über die Jahrhunderte hinweg besser geworden ist. Es wäre verrückt zu sagen (finde ich) dass Spitzweg ein schlechterer Maler als Baselitz ist und Baselitz gegenüber ihm einen Fortschritt bedeutet - so wie es verrückt wäre das Gegenteil zu behaupten.

Wenn man die alte Einteilung in "Das Wahre", "das Schöne" und "Das Gute" nimmt, dann ist evident, dass wir in unseren Breiten (und sicher auch an anderen Orten) beim "Wahren" und beim "Guten" Fortschritte gemacht haben. Während es beim Schönen so etwas nicht ohne weiteres zu geben scheint.

Im es bildhafter zu machen. Stellen wir uns den Weg des Fortschritts als Bewegung nach oben vor (wir will kann an einen Gipfel denken). Dann würde ich meinen, dass es im Bereich der Ästhetik tendenziell eher eine Bewegung in der Horizontalen auf generell hohem Niveau gab, sagen wir als das Erkunden des ästhetischen Feldes.




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Stefanie
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Do 16. Aug 2018, 21:25

Hmm, ich bin nicht noch nicht sicher, ob ich den Kern der Frage erfasst habe.

Mich erstaunt die Fragestellung etwas.
Auf diesen Gedanken bin ich bislang nicht gekommen und kann ihn auch nicht nachvollziehen:
"Es ergibt einfach keinen Sinn, nach meiner Einschätzung - zu sagen, dass z.B. die Malerei über die Jahrhunderte hinweg besser geworden ist. Es wäre verrückt zu sagen (finde ich) dass Spitzweg ein schlechterer Maler als Baselitz ist und Baselitz gegenüber ihm einen Fortschritt bedeutet - so wie es verrückt wäre das Gegenteil zu behaupten."


Mir fällt dazu lediglich folgendes ein.
In den Jahrhunderten haben sich die Möglichkeiten entwickelt, die KünstlerInnen haben.
Beispielsweise bei den Materialien: Neue Farben, mehr Farbenarten, mehr Farbtöne, die mit manchen Farben schlecht oder gar nicht erzeugt werden konnten, Öl, Lack, Akryl, Kohle, Bleifarben, Pflanzenfarben und was es nicht noch alles gibt. Bei Leinwänden auch.
Andere Materialien, Papierarten, bei Skulpturen nicht nur Marmor oder Bronze, auch Gibs, Beton usw.
Die gesellschaftlichen, politischen Umstände änderten sich andauernd. Mehr Freiheit für die Menschen, in der Regel auch mehr Freiheit für die Künstler.
Der Anspruch an die Kunst hat sich geändert. Zeiten, in den Porträts als Auftragsarbeiten vorgegeben waren.
Die Religion, Moral, alles änderte sich, und ändert sich immer wieder. Die "Bilder" der Umwelt ändern sich, erst nur Dörfer, Großstädte. Als Beispiel.

Ich habe zudem den Eindruck, dass in der Kunst, aber auch z.B. in der Architektur und Mode auch immer wieder auf vorher Gewesendes zurückgegriffen wird (heute in der Mode z.B. schnöde Retrostil genannt), um daraus was Neues zu machen.

Die Themen haben sich aber nicht so geändert. Der Mensch, Natur, die soziale, religiöse und politische Umwelt. Diese Themen werden andres aufgegriffen und verarbeitet. Mal so, mal so.

Der Mensch hat sich im Laufe der Zeit im Bereich der Empathie entwickelt. Im Bereich der Ethik gab und gibt es noch Lücken, die gefüllt werden. Also es gibt hier noch Entwicklungspotential.

Bei der Kunst ist es doch so, dass sie von der jeweiligen Epoche wie auch immer beeinflusst wird. Der eine greift Ereignisse auf, ein anderer bringt sie zu neuen Ideen oder tritt ihr entgegen.
Um noch mal auf Dresden zu kommen, da sah ich Otto Dix Triptychon der Krieg. Dieses Bild wäre ohne den 1. Weltkrieg wohl nicht entstanden. Das Bild ist Anklage, eine Mahnung und im gewissen Sinne auch ein ethisches Bild.

Mir ist nicht ganz klar, was in diesem Zusammenhang Fortschritt bei Ästhetik sein soll.
Mir fällt lediglich ein, dass zumindest in unseren westlichen Kulturen die Verbesserung der Ethik, zu mehr Freiheit in der Kunst führt. Oder etwa nicht? (Mal abgesehen von bestimmten politischen Köpfen.)

(Kleines Beispiel aus dem Boulevard: Die Queen hat sich schon öfters von Annie Leibovitz photographieren lassen. Diese Bilder, die sie macht, wären vor Jahrzehnten von einer solchen Person nicht möglich gewesen.)

Die Menschen "sehen" auch anders, als in früheren Jahrzehnten. Das hängt wahrscheinlich auch mit der Zunahme der Bildung zusammen, aber auch mit der Empathiefähigkeit. Die Schwerpunkte änderten sich, Religion ist nicht mehr so im Vordergrund, z.B.
Das Sehen und die Wahrnehmung haben vielleicht ihre Grenzen; der Mensch kann vielleicht nicht anderes Sehen, als wie er jetzt kann. Das ist spekulativ.



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Jörn Budesheim
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Fr 17. Aug 2018, 15:45

Stefanie hat geschrieben :
Do 16. Aug 2018, 21:25
Mir ist nicht ganz klar, was in diesem Zusammenhang Fortschritt bei Ästhetik sein soll.
Das ist nur nicht der Zusammenhang, der mir vorschwebt :-) Meine Idee ist nicht besonders hintergründig und kompliziert. Am einfachsten kann ich es vielleicht so ausdrücken: Die Menschen haben früher - aufs Große und Ganze gesehen - doch nicht schlechtere Bilder gemalt, schlechtere Theaterstücke geschrieben, schlechtere Musik gemacht, schlechter getanzt und so weiter.

In dieser Hinsicht gibt es keinen ästhetischen Fortschritt. Man könnte aber vielleicht sagen, dass das ästhetische Feld sehr ausgeweitet wurde, es ist viel mehr möglich. Vielleicht kann man das als den fraglichen Fortschritt ansehen?




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Alethos
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Mo 20. Aug 2018, 13:01

Ja, es ist einerseits technisch mehr möglich, man denke an die ganze multimediale Kunstproduktion und die verschiedenen neuartigen Materialien, andererseits hat sich aber auch die gesellschaftliche Rolle der Kunst gewandelt. Ging es in früheren Jahrhunderten, wir mir scheint, eher um die Darstellung des Schönen, also um Aesthetik im wahrsten Begriffssinn, steht doch heute auch die Stellung des Werks im jeweiligen Kontext im Vordergrund. Ich weiss nicht genau, wie man das ausformulieren könnte, aber heute ist ein Kunstwerk auch ein lautes, dezentes, auffälliges oder unauffälliges Statement. Der künstlerische Ausdruck ist heute mehr als ein Ausdruck von Schönheit. Es geht auch um die Freiheit des Künstlers oder das Recht des Werks auf Bedeutungsentfaltung in gesellschaftlichen Zusammenhängen? Das ist schon ein Fortschritt, meine ich.



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Jörn Budesheim
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Mo 20. Aug 2018, 18:55

Dass es im Bereich der Kunst Fortschritte verschiedener Art gibt, bezweifle ich nicht. Uns stehen heute viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung in den verschiedensten Hinsichten. Aber das ist nicht mein Punkt. Kunst ist ja nicht synonym mit Ästhetik. Ich finde Picasso hat in Bezug auf die Bilder in Lascaux recht - wir haben in gewisser Hinsicht nicht dazu gelernt, wir sind doch heute zum Beispiel nicht bessere Zeichner und Maler etc.




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Stefanie
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Mo 20. Aug 2018, 19:37

Wie denn auch. Der menschliche Körper kann nicht alles umsetzen, was einem im Kopf vielleicht vorschwebt. Er ist doch keine Maschine, bei der man die Wahrnehmungsfähigkeiten, die Koordinationsfähigkeiten und was für Fähigkeiten noch notwendig sind, unbegrenzt verbessern kann.
Um es mit einem Filmtitel zu sagen: Besser geht's nicht.



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Jörn Budesheim
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Di 21. Aug 2018, 19:20

Denkst du an etwas wie biologische Grenzen? Mir ist deine Bemerkung nicht ganz klar.




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Stefanie
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Di 21. Aug 2018, 19:51

Ja. Ich habe mich nicht so getraut, Biologie
oder Natur zu schreiben.
Eine Meinung sagt, die Höhlenbilder sind aus der Zeit 39.000 bis 19.000 vor Christus. Andere datieren sie jünger. So oder so stammen die Bilder von Menschen, die den Schritt zum heutigen Menschen schon getan hatten. Funde aus noch älteren Zeiten als der Antike zeigen viele Werke, die eine ziemliche Fingerfertigkeit voraussetzen. Bauwerke ohne die heutigen Hilfsmittel. Auch ein Verständnis von Schönheit, ein Verständnis von Farben und Formen und so war schon vorhanden. Kreativität auch.

Die menschliche Hand ist immer noch im wesentlichen die Hand, wie die der Maler der Höhlenbilder. Das menschliche Auge hat sich in seinen Fähigkeiten nicht verändert. Ebenso das Hörvermögen, der Tastsinn usw.
Ich meine, dass dem Mensch aufgrund seines körperlichen Aufbaus natürliche Grenzen gesetzt sind. Eine Hand und ein Auge kann heute nicht mehr als im 15.jahrhundert. Ohne Hilfsmittel, wie später Lupen, Minipinsel, und was es sonst noch so gibt.
Die Kulturtechniken, das soziale Verhalten, die Empathie, also das was für Ethik notwendig ist, hat sich weiterentwickelt. Es gibt die Ansicht, dass z.b. im Mittelalter die Empathiefähigkeit noch nicht so entwickelt war, wie heute. Im Denken, beim Vorstellungsvermögen hat der Mensch scheinbar keine Grenzen. Bei der praktischen Umsetzung setzt ihm aber der eigene Körper Grenzen.

Wenn Du schreibst, wir sind heute keine besseren Zeichner und Maler als zur Zeit der Höhlenbilder, ist das für mich eben nicht überraschend. Naja logisch ist das für mich.



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Stefanie
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Di 21. Aug 2018, 20:02

Die Menschen damals haben gemalt, was in ihrer Umwelt ist. Dazu ihr Verständnis von Tier, von vielleicht damaligen Mythen, vielleicht schon sowas wie Glaube, ihre soziale Ordnung. Vielleicht konnten sie noch nicht abstrakt denken, wie wir heute, oder Bezüge und Verbindungen zwischen sozialen Gefüge und die Folgen daraus.
Sie malten es aber mit dem im wesentlich identischen Mitteln wie heutzutage, Hand, Auge. Als Beispiel.
Die Herangehensweise, warum sie das gemalt haben, was sie gemalt haben ist wohl eine andere. War es für sie eine Geschichte, eine Art Sprache, das Festhalten ihrer Geschichte. Oder sahen sie es als Kunst? Ich denke nicht.
Das ist der Unterschied, hier haben wir gelernt. Die Differenzierung zwischen den menschlichen Kommunikationsmöglichkeiten.

Besser kann ich es gerade nicht ausdrücken.



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Schimmermatt
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Ich finde Ethik und Ästhetik sind gänzlich verschiedene Paar Schuhe. Ich bin Vegetarier, bemühe zur Rechtfertigung dessen eine gewisse tierethische Argumentation und erlebe letztendlich fast immer den Sprung meiner karnivoren Mitmenschen in die Ästhetik: "Aber es schmeckt so gut!"

Wenn ich meine Frau betrachte, so muss ich feststellen, dass ich Ungleichbehandlung unethischer Art befürworte, wenn ich ihre Handlungen selbstverständlich in bestmöglichem Licht sehe, dazu sonst, in Bezug auf andere Menschen, aber keine allzu große Neigung zeige... sie ist halt sooooo hinreißend!



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So 16. Sep 2018, 19:06

Schimmermatt hat geschrieben :
So 16. Sep 2018, 18:21
Ich bin Vegetarier
Hier ist dein Thread :-) Es scheint hier im Forum einige Vegetarier zu geben, vielleicht sind sie sogar in der Mehrheit ;-)




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So 16. Sep 2018, 19:08

Schimmermatt hat geschrieben :
So 16. Sep 2018, 18:21
Ich finde Ethik und Ästhetik sind gänzlich verschiedene Paar Schuhe.
Ja, vermutlich. Hier geht es im Prinzip um die Frage, warum "wir" einige Fortschritte in ethischen Fragen gemacht haben, wohingegen ich finde, dass es in Puncto Ästhetik (in Bezug auf Kunst) vorsichtig gesagt, irgendwie seltsam anmutet, Fortschritt zu konstatieren.




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Schimmermatt
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Ja, ich weiß. Da bin ich aber einfach ganz bei Dir. Qualitätsurteile, die man irgendwie hierarchisch ordnen könnte, scheinen unreif, sind verpönt, werden als freiheitsbeschneidend wahrgenommen in der Domäne der Ästhetik. Entsprechend erfolglos dürften Versuche sein, diese parallel zu einer Disziplin zu plazieren, die dem Fällen von Qualitätsurteilen weniger abgeneigt ist, dem Relativismus zum Trotze.



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So 16. Sep 2018, 19:40

Nein, kein, das meine ich nicht :-) Ich hab weder Angst vor der Wahrheit nicht vor Qualitätsurteilen :-) Mir geht es darum, dass die Kunst des 21. Jahrhunderts doch nicht ästhetisch wertvoller ist als die des 13., 14. oder 15 Jahrhundert. Als Picasso die Höhlenmalereien sah, sagt er, dass wir nichts dazu gelernt haben. Gleiches gilt für die Ethik nicht. Da haben wir sogar erhebliche Fortschritte gemacht.




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So 16. Sep 2018, 20:01

Ich meine, Dich schon zu verstehen.

Man kann allerdings auch geteilter Meinung über die ethischen Fortschritte sein. Insofern, dass Ethik einst eine eudämonistische und nun eine moralische Schlagseite hat und sie daher eventuell auch nicht gegeneinander aufrechenbar sind, als auch darüber, ob nicht heute nur die Überwachung (gefühlt?) umfassender funktioniert und die Not (in unserem Umfeld!) geringer ist. Aber das ist für mich auch nicht Grund genug, keinerlei Fortschritt in der Ethik annehmen zu wollen. Ich bin aber nicht so überein, was die Stabilität des Trends angeht: es gibt immer wieder barbarische Einbrüche, nach denen sich das ethische Level gewissermaßen erst langsam wieder erhöht. So erschien es mal als Grundkonsens, dass die conditio humana, vielleicht diffus und unpräzise, aber doch auf jeden Fall, zu verbessern sei. Derzeit würde ich das nicht mehr voraussetzen und eine Rückkehr so schnell auch nicht prognostizieren.

Wir dürften auch unter einer epistemischen Verzerrung leiden: Wir müssten unsere Genese, unsere Geschichte, psychologisch ungünstig verdammen, würden wir nicht dem optimistischen Impuls nachgeben, zu einem Optimum zu streben. Amor fati! Um nicht dem Kulturpessimismus anheim zu fallen, braucht die Ethik diesen Vorschuss. Zwingend fehlen uns natürlich die mannigfachen Erfahrungen des Scheiterns aus erster Hand: wir sind ja noch da, es geht weiter, zu uns strebte es hin, also war es insgesamt gut.



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Jörn Budesheim
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Fr 22. Jan 2021, 18:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 15. Aug 2018, 19:09
Wir machen in der Kunst nicht Fortschritte in demselben Sinne, in dem wir in der Ethik Fortschritte machen. Die Frage, die ich mir stelle, lautet also, warum wir in ethischen Fragen offenbar lernfähig sind, das aber nicht in der selben Art und Weise oder im selben Maße für ästhetische Fragen gilt.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Aug 2018, 18:55
Uns stehen heute viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung in den verschiedensten Hinsichten. Aber das ist nicht mein Punkt. ... Ich finde Picasso hat in Bezug auf die Bilder in Lascaux recht - wir haben in gewisser Hinsicht nicht dazu gelernt, wir sind doch heute zum Beispiel nicht bessere Zeichner und Maler etc.
Adorno hat geschrieben : »Schließlich ist Fortschritt doch nicht nur einer von Materialbeherrschung und Vergeistigung sondern einer des Geistes im Hegelschen Sinn des Bewußtseins seiner Freiheit. Ob die Materialbeherrschung bei Beethoven über die Bachs hinaus fortschritt, darüber ist endlos zu disputieren; von diesem und jenem wird das Material nach verschiedenen Dimensionen vollkommener gemeistert. Die Frage, wer von beiden höher rangiere, ist müßig; nicht die Einsicht, daß die Stimme der Mündigkeit des Subjekts, Emanzipation vom ​Mythos und Versöhnung mit diesem, also der Wahrheitsgehalt, bei Beethoven weiter gedieh als bei Bach. Dies Kriterium überflügelt jegliches andere.«307
Tilo Wesche, dieses Zitat von Adorno resümierend hat geschrieben : Der Fortschritt der Kunst vollzieht sich als ein Prozess ihrer zunehmenden Autonomie. Beethovens Musik ist autonomer als die Bachs, indem sie ohne deren theologischen Kontext auskommt.




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