Byung-Chul Han startet "Bitte Augen schließen" so: "In der Wissenschaft der Logik‹ schreibt Hegel: »Alles Vernünftige ist ein Schluss.« Für Hegel ist der Schluss keine formallogische Kategorie. Ein Schluss ergibt sich, wenn der Anfang und das Ende eines Prozesses einen sinnvollen Zusammenhang, eine sinnvolle Einheit bilden, wenn sie ineinander greifen. So ist die Narration ein Schluss. Aufgrund ihres Schlusses bringt sie einen Sinn hervor."Picasso hat geschrieben : "Jeder möchte die Kunst verstehen. Warum versucht man nicht, die Lieder eines Vogels zu verstehen? Warum liebt man die Nacht, die Blumen, alles um uns herum, ohne es durchaus verstehen zu wollen? Aber wenn es umein Bild geht, denken die Leute, sie müssen es 'verstehen'."
Picasso
Verstehen hieße dann ggf, diesen Zusammenhang, die Logik des Schlusses nachvollziehen. Verstehen heißt also nicht einfach, das Phänomen in Sprache zu übersetzen... Verstehen ist meines Erachtens ein sehr, sehr weiter Begriff. Manchmal versteht man schon, wenn man sich einfach auf das, was man sieht einlässt. Manchmal versteht man erst nach einer verzwickten Interpretation :) Roger M Buergel - der ehemalige documenta Leiter - erklärte hingegen mal, dass sein Lieblingsausstellungstitel lautet: "Dinge, die wir nicht verstehen". Es ist ziemlich vertrackt mit diesem Begriff - "Verstehen" :)
Was heißt "verstehen" in der Kunst also: Die Bedeutung oder den Sinn zu erfassen? Die Gedanken oder die Struktur der Arbeit erkennen? In einen Dialog mit dem Kunstwerk treten? Gar "die Absichten des Künstlers" erkennen? Erfahrungen an der Arbeit machen? Der Autonomie der Arbeit nachspüren? Ihrer Schönheit gewahr werden? Ich finde das keineswegs leicht zu beantworten, und vielleicht braucht es einen eigenen Verstehensansatz für jede Arbeit. Ich sympathisiere zwar mit dem Zitat von Picasso, aber ich glaube nicht, dass ich ihm einfach so recht geben möchte.
Ich kenne das auch von meiner eigenen Kunst Erfahrungen, dass ich an eine Arbeit herantrete und das Bedürfnis habe, sie zu verstehen. In irgendeinem Sinne sind Kunstwerke immer Sinngebilde (eben anders als die Blumen, von dem Picasso spricht) und da gehört Verstehen irgendeiner Form in der Regel dazu ... Das kann manchmal auch ziemlich handgreiflich sein. Ich erinnere mich an eine Arbeit von Alice Kreischer, die ich mir vor kurzem intensiv angeschaut habe. In der Arbeit ging es einfach gesagt um den Aufstand der Pariser Kommunarden, das sogenannte Urlaubsparadies tropical Island in der Nähe von Berlin, den Lauf der Geschichte und viel andere Dinge mehr. Hier gehört zum Geschäft des Verstehens auch, diese Zusammenhänge und Hintergründe zu erkennen bzw Wissenslücken aufzufüllen. Das war also eine Arbeit, der man nicht durch "schieres Betrachten" gerecht wurde.
Als "Gegenstücke" bieten sich vielleicht die Arbeiten an, die man im Moment in unserer Kunsthalle sehen kann von Lucas Arruda. Neben anderen sieht man dort (auf relativ kleinen privaten Formaten) "Seestücke". Hier ist sicherlich eine andere Art und Weise des Sehens gefragt. Aber welche? Geht es hier um einen bestimmten Begriff von der Natur? Um bestimmte (kontemplative) "Zeit Erfahrungen"? Um Poesie? Um malerische Versuche? Um das Erhabene? Um das Schöne? Soll man sich in den Arbeiten verlieren? Oder muss man erst eine gewisse Distanz gewinnen? Die diversen "oder" kann man gerne als einschließende und-oder verstehen :-)
Oder sollte man sich an dieser Stelle einfach an das Zitat von Picasso erinnern